Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. Mathematisches Gespräch

Im Rahmen eines Seminars (1) zum mathematischen Anfangsunterricht an der Pädagogischen Hochschule Freiburg für Nicht-Fachstudierende wurde ver­sucht, der Diskussion um Forschendes Lernen Lind die Entwicklung eines forschenden Habitus‘ Rechnung zu tragen, indem die studierenden mathe­matische Gespräche mit Kindern führten und kommentierten. „Mathematische Gespräche verweisen auf eine Haltung der Lehrperson ge­genüber dem Denken der Kinder: „Unterrichtsgespräche über mathematische Sachverhalte […] zum gemeinsa­men Austausch der verschiedenen Verstehenszugänge, nenne ich ‚mathemati­sche Gespräche‘ (Schütte 2002, 17).“
So können sowohl Unterrichtsgespräche als auch Gespräche mit Kleingrup­pen oder einzelnen Kindern den Charakter mathematischer Gespräche an­nehmen, wobei sich die Intentionen graduell unterscheiden, die Grundhal­tung jedoch ähnlich ist. Steht bei einem Gespräch mit einem einzelnen Kind die Diagnoseabsicht, die Erkundung des Vorwissens und des Lernstandes im Vordergrund, überwiegt bei Unterrichtsgesprächen die didaktische Intention: Einerseits sollen die Kinder in der Artikulation ihres Denkens unterstützt werden, um in der Lösung voranzukommen, andererseits dient die Darstel­lung der Lösungswege dem Austausch untereinander (vgl. Schütte 2004).

In diesem Zusammenhang sind mathematische Gespräche forschungsme­thodisch gesehen eine Form des qualitativen Interviews (2). Die angestrebte Grundhaltung umfasst, dass sich die Interviewerin als Lernende begreift, die das Kind nicht belehren – i.S. von erklären -, sondern sein Denken verstehen möchte. ‚Belehrung‘ findet nur insofern statt, als dass die Interviewerin durch ihre Fragen und Impulse das Kind zur Reflexion über das eigene Den­ken anregt und interessante und gehaltvolle Äußerungen aufgreift, wodurch auch Lernprozesse in Gang gesetzt werden können: Warum hast du diese Aufgabe ausgewählt? Kannst du mir erklären, wie du gerechnet hast? Könn­test du auch anders rechnen? Wie rechnest du am liebsten (3)?

2. Methodisches Vorgehen

Im Folgenden wird eine Auswahl an Kommentaren beispielhaft interpretiert(4). Die Auswahl erfolgte in dem Sinne exemplarisch, dass in den nachfolgenden Kommentaren unterschiedliche Erfolgskriterien für mathematische Gespräche rekonstruiert werden können, die für die Vielfalt der Gruppe der teilnehmenden Studierenden stehen, aber durchgängig Spannungen zu den Zielsetzungen des Seminars aufweisen. Gleichzeitig können in den ausgewählten Kommentaren aber auch Kennzeichen einer verstehenden Grundhaltung rekonstruiert werden, die sich in beschreibenden und reflexiven Passagen finden.

Die Interpretation folgt den beiden Schritten Bohnsacks, der formulierenden und reflektierenden Interpretation (vgl. z.B. Bohnsack u.a. 2001, 9-15) (5). Aus Gründen der Transparenz und der Vollständigkeit wird die formulierende Interpretation teilweise im Text abgedruckt. Dies wird gesondert vermerkt. Der Schwerpunkt der Interpretation liegt auf der reflektierenden Interpretation, also nicht auf der Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinns, sondern des dokumentarischen Sinngehalts.

3. Fallbeispiel: Christine

Das erste Gespräch mit Moritz (8 Jahre) führte Christine. Sie verfasste auch den Kommentar dazu:

Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Moritz sehr verschüchtert war. Er hat in sehr kurzen Sätzen geantwortet. Er hatte eine Erkältung und musste ab und zu husten. Dass wir zunächst Schwierigkeiten mit dem Aufnahmegerät hatten, hat sich eher positiv auf das Gespräch ausgewirkt. Es war eine gute Gelegenheit noch „unkontrolliert“ zu erzählen und Fragen zu stellen. Erst bei dem Zielscheibenspiel hatte ich den Eindruck, dass Moritz ein bisschen „aufgetaut“ ist und unbefangener wurde. Es scheint ihm Spaß gemacht zu haben.
Ich hatte das Gefühl, bei der Zielscheibe als auch bei den Aufgabenkarten, sehr monotone Fragen zu stellen („Kannst du mir sagen, wie du das gerechnet hast?“ und „Wie bist du darauf gekommen?“). Sehr erstaunt war ich, dass Moritz immer, wenn ich ihn fragte, ob er seinen Rechenweg aufschreiben könne, schriftlich zu rechnen begann. Haben die Schüler das in der zweiten Klasse schon gelernt? Bei den Subtraktionsaufgaben machte er dabei Fehler, da er nach dem gleichen Schema vorging wie bei den Additionsaufgaben. Die Aufgabe, noch andere ähnliche Aufgaben zu erfinden, fiel Moritz schwer. Es bedeutete für ihn nur, Zahlen oder Rechenzeichen auszutauschen.

In diesem Gespräch ist mir sehr deutlich geworden, dass Schüler einfach Zeit brauchen, um über eine Frage oder eine Aufgabe nachzudenken. Bei Moritz habe ich schnell gemerkt, dass er noch versucht, eine Aufgabe zu lösen und deshalb Zeit zum Überlegen braucht. Wenn man einer ganzen Klasse gegenüber steht, merkt man das oft nicht (M (G 1)).

Moritz wird als sehr verschüchtert beschrieben. Die Wortwahl „insgesamt“ legt nahe, dass sich dies während des Gesprächs nicht wesentlich verändert. Technische Probleme, in der Regel ein Stressfaktor für die Interviewerin, werden positiv gesehen, da sie dazu beitragen, sich kennenzulernen, den Gesprächsverlauf aufzulockern und der ‚Kontrolle‘ des Tonbands zu entziehen. Erst der spielerische Charakter der Aufgabenstellung (Zielscheibenspiel) trägt dazu bei, dass die Kontrollsituation von Moritz weniger intensiv wahrgenommen wird. Der Spaß an der Aufgabe, der von Christine aufgrund ihrer Beobachtungen vermutet wird, wird als mögliche Ursache genannt. Hinweise auf weitere vorsichtige Deutungen geben auch Formulierungen wie „Insgesamt hatte ich den Eindruck“ oder „Ich hatte das Gefühl“. So versucht die Studentin vorschnelle Festschreibungen zu vermeiden.
Anschließend wird das eigene Gesprächsverhalten analysiert. Es wird als wenig abwechslungsreich erlebt. Da die angeführten Fragestellungen im Leitfaden empfohlen werden, kann dieser Aussagesatz als Frage an die Seminarleitung verstanden werden: Ist dieses Gefühl der Monotonie berechtigt? Tragen die Fragen vielleicht dazu bei, dass das Kind seine Zurückhaltung nur sehr zögerlich ablegt? Im folgenden Abschnitt wendet sich die Studentin nun tatsächlich mit einer Frage an die Seminarleitung. Moritz wählt einen nicht erwarteten Rechenweg. Die Überraschung ist in diesem Zusammenhang durchaus verständlich. Laut Bildungsplan ist schriftliches Rechnen Thema des dritten und vierten Schuljahres. Die Studentin scheint sich diesbezüglich jedoch nicht mehr sicher zu sein. Einerseits kommen hier fachliche Unsicherheiten zu Tage, die bei Nicht-Fachstudierenden erwartbar sind, andererseits deutet die Frage auf ein Lerninteresse der Studentin hin.
Neben der Beschreibung von Fehlern und Schwierigkeiten versucht Christine, den „rationalen Kern“ (vgl. Spiegel 1996, 14) von Fehlern zu erklären. So versteht Moritz das Wort „ähnlich“ anders als erwartet, nämlich als Aufforderung „Zahlen oder Rechenzeichen auszutauschen“.(4) Abschließend legt die Studentin dar, was sie für sich aus dem Gespräch mitgenommen hat. Der Kommentar wird nicht nur als Lernforum genutzt, indem Fragen gestellt werden, sondern er dient auch der Darstellung eigener Lernprozesse. (5)
Anliegen der Studentin ist es, einen Zugang zum Kind und zu seinem Denken zu finden. Dies gestaltet sich anfangs schwierig, gelingt aber durch Gelegenheiten zum ungezwungenen Gespräch, durch spielerische Aufgabenstellungen und durch schriftliche Produkte des Kindes, wodurch seine Vorgehensweise transparent wird. Überraschung und Erstaunen über die kindlichen Vorgehensweisen, das Aufstellen von Vermutungen und Hypothesen, um diese Vorgehensweisen und die damit verbundenen Fehler zu erklären, sind wesentliche Kennzeichen einer verstehenden Grundhaltung und Merkmale eines einsetzenden Reflexionsprozesses (vgl. KlementlTetnl 2002, 187). Fragen an die Seminarleitung lassen vermuten, dass Christine in ihren Deutungen und in der Gesprächsführung noch unsicher ist und Unterstützung sucht. Das Bedürfnis nach Rückmeldung lässt auf eine Erfolgsorientierung schließen, die sich im Gespräch nicht explizit äußert. Dies rührt vielleicht auch daher, dass das Verstehen des Kindes, das Erklären seiner Gedankengänge und Fehler Christine nicht als Erfolgskriterien zur Verfügung stehen.

Fußnoten:

(1)  Im Rahmen eines Seminars wurden Studierende dazu aufgefordert zur Erkundung kindlichen Denkens mathematische Gespräche mit Kindern eines zweiten Schuljahres auf der Grundlage offener Lernangebote zu führen.

(2)  In den Sozialwissenschaften werden vielfältige Arten des Interviews unterschieden. Am ehesten lassen sich mathematische Gespräche als problemzentrierte Interviews charak­terisieren (vgl. dazu Lamnek 1995, 68-92). In der mathematikdidaktischen Forschung findet sich häufig der Begriff „klinisches Interview“ in Anlehnung an Piaget (zur „me­thode clinique“ vgl. Beck/Maier 1993, 147f; Selter/Spiegel 1997, 100f.; Hengartner 2000, 279).

(3)  Beispiele für Fragen und Impulse finden sich bei Schütte 2002, 17f.

(4) Die im Folgenden zitierten Kommentare sind nicht gekürzt, sondern vollständig abgedruckt.

(5) Ein Beispiel für eine formulierende und eine reflektierende Interpretation einer Gruppendiskussion findet sich bei Bohnsack u.a. 2001, 303-307.

6) Mit „ähnlichen Aufgaben“ waren „strukturgleiche“ gemeint wie z.B. zu 45+46 die Auf­gabe 27+28. Stattdessen verstanden viele Kinder den Begriff „ähnlich“ folgendermaßen: zu 45+46 die Aufgabe 46+45, 54+64 o.ä.

7) Hier endet die formulierende Interpretation.

Literatur:

Beck, Christian/Maier, Herrmann (1993): Das Interview in der mathematikdidaktischen Forschung. In: Journal für Mathematik-Didaktik, 14 (1993) 2, 147-179.

Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arnd-Michael (2001): Die Dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen 2001.

Klement, Karl/Teml, Hubert (2002): Qualitätspränüssen schaffen Orientierung – Von der „Schulpraktischen Ausbildung“ zu den „Schulpraktischen Studien“. In: Brunner, Hans u.a. (Hrsg.): Lehrerinnen- und Lehrerbildung braucht Qualität. Und wie!? Inns­bruck, 179-199.

Lamnek, Siegfried. (1995): Qualitative Sozialforschung. 13d. 2. Methoden und Techniken. Weinheim.

Selter, Christoph/Spiegel, Hartmut (1997): Wie Kinder rechnen. Leipzig, Stuttgart, Düssel­dorf.

Schütte, Sybille (2002): Das Lernpotential mathematischer Gespräche nutzen. In: Grund­schule 34 (2002) 3, 16-78.

Schütte, Sybille (2004): Rechenwegnotation und Zahlenblick als Vehikel des Aufbaus fle­xibler Rechenkompetenzen. Erscheint in Journal für Mathematikdidaktik.

Spiegel, Harmut (1996): Lernen, wie Kinder denken. In: Grundschulunterricht 43, (1996) 6, 13-16.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.