Falldarstellung

„Mein Raum“

Ich werde nun zwei Texte direkt hintereinander zitierten, weil ich sie im Zusammenhang interpretieren möchte [1].

Der erste Text lautet:

„Montags in einer Freistunde saß ich mit einem der Referendare in der Cafeteria der Schule. Wir und drei Schüler waren die einzigen. Zwei der Schüler schossen mit einem Kronkorken hin und her. Es störte bei der Unterhaltung. Der Referendar (nett formuliert: Ein Mann, der sich zu viele Gedanken macht… umgangssprachlich auch Weichei genannt) fordert die Schüler auf es bitte sein zu lassen. Allerdings keine Reaktion seitens der Schüler. Nach dreimaliger Aufforderung geschieht immer noch nichts. Dann das spaßig gemeinte Angebot des Lehrers an die Schüler ihnen den Kronkorken abzukaufen. Schüler: 5 Euro. Der Lehrer fragt die Schüler nach der Mwst., schon in dem Wissen, dass die keinerlei Ahnung davon haben. Lehrer wiederum: Wisst ihr denn eigentlich, was die Mwst. überhaupt ist? Schüler: pff… das ist das Geld, was die Arbeitslosen bekommen. Daraufhin mein recht trockener Kommentar: Na, dann siehst du das Geld ja sowieso irgendwann wieder! Ein Gefühl geistiger Überlegenheit kam in mir auf. Sehr gutes Gefühl, muss man sagen. Am Nebentisch einer der Freunde der beiden Kornkorkenspieler. Er amüsierte sich die ganze Zeit köstlich über den Widerstand und die „Coolness“ seiner Freunde. Er schnippt die ganze Zeit mit einer Münze herum. Als wir den Kaffee abgeben wollen (die Tasse), stehe ich neben dem Schüler. Er grinst mich nur an nach dem Motto: hey, scheiß Lehrer, komm mir ja nicht zu nahe, sonst mach ich dich platt. Trotz meiner doch recht großen Nähe zu ihm und seine durch die Luft wirbelnde Münze hört er nicht auf damit zu spielen. Es kommt, wie es kommen musste. Die Münze trifft mich und fällt zu Boden. Ich werfe dem Schüler einen ernsten Blick zu: „Aufheben“. Der Schüler nimmt die Münze. Ich sage: „Moment“ und strecke ihm meine geöffnete Hand hin. Erlegt die Münze reumütig hinein, worauf der Referendar und ich von Dannen ziehen. Ein gewisses Gefühl von Stolz kam in mir auf, diese Situation mit Autorität und Sicherheit im Handeln gemeistert zu haben. Der Referendar sprach mir danach seine Bewunderung aus, was mich natürlich noch ein wenig stolzer machte.“

Es folgt der zweite Text, bei dem zu beachten ist, dass einige Wörter im Original kursiv geschrieben sind, die hier, da alle POS-Texte kursiv zitiert werden, in der Umkehrung in Normalschrift wiedergegeben sind:

TU-Darmstadt                                                                                                        

20. April 2004

SPS1-Auswertungsseminar

Dozent: Dr. Würker

In meiner dritten Stunde, die ich gehalten habe, unterrichtete ich eine 6. Klasse. Der Lehrer hat mich im Vorneherein nicht auf besondere Dinge, wie etwa starke/schwache, disziplinierte/undisziplinierte etc. Schülerinnen hingewiesen, weswegen ich auch in meiner Vorbereitung für die Doppelstunde relativ frei war. Allerdings entschloss ich mich, ein multimediales Feuerwerk abzubrennen, um dem zu erwartenden Lärmpegel, ich hatte die Klasse schon zwei Wochen beobachtet, vorzugreifen. Da ich nun wirklich keinen einzigen Namen kannte, verlangte ich nach einer kurzen Vorstellung meiner Person, dass Namensschilder angefertigt werden sollten. Bei meiner Begrüßung waren mir zwei Jungen durch Nebentätigkeiten aufgefallen, weswegen ich versuchte, allein durch physische Anwesenheit ihre Konzentration zu lenken. Nachdem alle dieser kleinen Aufgabe nachgekommen waren, ging ich vom Pult aus laut einige Namen durch, um die Lesbarkeit zu kontrollieren. Schließlich las ich bei einem der bereits erwähnten Schüler „O-DoG“, was die Klasse mit Lachen und Zwischenrufen quittierte. Daraufhin fragte ich ihn, ob er denn die meines Erachtens einfache Aufgabe nicht begriffen habe, worauf er stur schwieg. Schließlich wollte ich wissen, ob er denn überhaupt deutsch verstehe, zumal er der einzige war, der nicht seinen richtigen Namen aufgeschrieben hatte, was wiederum verneint wurde. Als Unterstützung las ich drei Namen vor. Schlussendlich bat ich ihn, meinen Klassensaal zu verlassen, da ich leider seine Muttersprache nicht beherrsche und vorhabe, meinen Unterricht ausschließlich auf deutsch zu halten. Außerdem sei es für ihn nur Zeitverschwendung, wenn er bleibe; ich hätte ihn für die 90 Minuten zur Schulleitung gebracht, was ich ihm auch verdeutlichte.

Schließlich gehorchte der Schüler und nahm meiner Meinung nach für seine Verhältnisse überdurchschnittlich am Unterricht teil; suchte im Anschluss sogar ein Einzelgespräch, da er (angeblich) etwas nicht verstanden habe, doch merkte man, dass dies definitiv nicht stimmte. Im Nachhinein bin ich zufrieden, wie diese prekäre Lage sich entwickelt hatte; auch wenn ich einen Schüler gewissermaßen bloßstellen musste, doch war dies meiner Meinung nach äußerst effektiv und richtig, wie ich in der anschließenden Reflexion für mich entschied.

Interpretation

Beide Texte riefen, wie gesagt, in mir eine ähnliche Reaktion hervor: Spontan spürte ich intensiv die Ablehnung der Gewalt, die auf Schüler ausgeübt wird. Ich neigte dazu, klare Tabus zu formulieren, etwa: „Ein solches Lehrerverhalten ist nicht zulässig und skandalös“ oder „Das sind Musterbeispiele faschistoider Handlungsmuster“. Ich nahm also Partei für die betroffenen Schüler, spürte in mir intensiv Wut auf die Protagonisten – dass es sich um männliche Personen handelte, daran zweifelte ich spontan keinen Moment -, kurz: ich war im ersten Moment geneigt, in meiner Rolle als Seminarleiter die Autoren aggressiv zurechtzuweisen und sie vor der Seminargruppe bloßzustellen. Selbstverständlich wurde dieser Impuls begleitet von der Hoffnung, dass andere Seminarteilnehmer meine Empörung teilten und stellvertretend die Verurteilung und Ausgrenzung vornähmen, so dass ich mich in der Rolle des Moderators hätte zurückhalten können.

Unabhängig davon, ob sich die erste Szene, in der ich als unmittelbar Agierender auftrat, oder die zweite, in der Studierende stellvertretend meine Affekte zur Geltung brachten, realisiert hätte, beide imaginierten Szenen – so fiel mir auf- ähnelten strukturell denen, die in den Texten geschildert sind und die meine ablehnende Reaktion provozierten: ich würde die Unterwerfung unliebsamer Gruppenmitglieder durch mich, den mit Autorität ausgestatteten Leiter, in Szene gesetzt haben.

Nun verunmöglicht das Setting von vornherein die direkte Auseinandersetzung mit Textautoren, denn diese bleiben ja anonym, und die Methode des szenischen Verstehens fordert die Reflexion der (Gegen-)Übertragungsreaktionen auf die szenisch-bildhaften Schilderungen, nicht das Ausagieren spontaner Handlungsimpulse. Also lautete die Anforderung an mich zu verstehen, was der Text in mir an Gefühlen und Vorstellungen wachruft, und wahrzunehmen, welche Irritationen und Assoziationen er provoziert, was ich im Folgenden darstellen möchte.

1. Beide Texte schildern Machtkämpfe zwischen den Praktikanten in der Rolle von Lehrkräften, einmal außerhalb einer Unterrichtssituation, einmal im Unterricht. Beide Male entscheiden die Praktikanten die Kämpfe für sich und in beiden Texten steht am Schluss eine positive Bewertung des eigenen Handelns: „Ein gewisses Gefühl von Stolz kam in mir auf, diese Situation mit Autorität und Sicherheit im Handeln gemeistert zu haben.“ bzw. „Im Nachhinein bin ich zufrieden, wie diese prekäre Lage sich entwickelt hatte (…); auch wenn ich einen Schüler gewissermaßen bloßstellen musste, doch war dies meiner Meinung nach äußerst effektiv und richtig, wie ich in der anschließenden Reflexion für mich entschied.“ Durch diese positiven Selbsteinschätzungen spitzt sich meine Distanz zu den Protagonisten zunächst einmal zu: Ich neige dazu, gegen diese Bewertungen zu protestieren.

2. Ich bemerke weiterhin, dass beide Texte in mir den Eindruck wecken, als dominiere an entscheidenden Stellen der szenischen Abläufe der gestische gegenüber dem verbalen Ausdruck: Im ersten Text geschieht das durch die Schilderung der Szene mit dem Münzenspieler, wenn die körperliche Nähe hervorgehoben wird und es dann heißt: „Ich werfe dem Schüler einen ernsten Blick zu…“ und „…strecke ihm meine geöffnete Hand hin.“ Gleichzeitig verknappt sich die verbale Mitteilung auf imperative Ein-Wort-Sätze des Praktikanten – „Aufheben!“ und „Moment“ – bzw. auf das wortlose Ausführen der Befehle: „Er legte die Münze reumütig hinein…“. Im zweiten Text heißt es explizit: „…ich versuchte, alleine durch physische Anwesenheit ihre Konzentration zu lenken“. Beide Schilderungen rufen in mir das Bild wach von großen jungen Männern gegenüber im Vergleich zu ihnen jüngeren und körperlich kleineren Schülern und ich assoziiere vor allem die sprachlose Art der Kommunikation eher mit der Dressur von Tieren, bei der Sprache kaum eine Rolle spielt bzw. Wörtern bestenfalls Signalfunktion zukommt.

3. Schließlich fällt auf, dass es beides Mal um Räume geht, der Protagonist im ersten Text scheint davon auszugehen, dass er und der Referendar das Recht haben, über die Cafeteria zu verfügen – obwohl diese vermutlich eher für die Schülerinnen und Schüler gedacht ist -, im zweiten Text wird von „meinem Klassensaal“ gesprochen, wobei das Possessivpronomen sogar noch durch Kursivschrift hervorgehoben ist. Auch dies erinnert mich an Revierkämpfe im Tierreich bzw. an die Lebensraumideologie rechter Parteien, wo die Verfügungsgewalt über Räume zentral ist. Alle drei Aspekte lassen sich zunächst dahingehend zusammenfassen, dass die Schilderungen Szenen zur Geltung bringen, in denen es um Machtkämpfe geht, bei denen instinkt- bzw. triebbestimmtes Handeln dominiert. Zwei weitere Gemeinsamkeiten lassen sich hier anfügen:

4. In beiden Texten findet sich mehr oder weniger deutlich die soziale Diskriminierung der Gegner: Im ersten Text werden die Schüler als spätere Arbeitslose angesprochen, im zweiten klingt in der Etikettierung als Ausländer mit einer fremden Muttersprache die soziale Ausgrenzung solcher Gruppen an.

5. In beiden Texten irritieren übertriebene Machtgesten: Im ersten Text konfisziert der Praktikant einfach die Münze des Schülers, wozu er nicht berechtigt ist, im zweiten wirkt es völlig unangemessen, wenn dem Schüler angedroht wird, er werde für 90 Minuten zur Schulleitung gebracht.

Während es im ersten Text die Lehrerrolle ist, die verhindert, dass man das Handeln schlicht als Diebstahl auffasst, wird im zweiten Fall die Macht einer übergeordneten Instanz ins Spiel gebracht. Die Machtgesten sind also beides Mal eingefügt in die institutionelle Hierarchie. Dadurch entsteht erneut die Irritation, die Schilderungen lieferten fast schon plakativ Illustrationen rechten Gedankenguts bzw. veranschaulichten Aspekte von autoritären Charakterstrukturen und Verhaltensdispositionen. Und der zweite Text liefert hierzu noch mehr Anhaltspunkte:

Da sind z.B. die auffälligen Dichotomien im ersten Absatz: „starke/schwache, disziplinierte/undisziplinierte“ Schüler/innen. Abgesehen von der Perspektivverengung der Informationen zur Lerngruppe ausschließlich auf das Thema Disziplin – es werden nicht etwa Leistungsniveaus oder Methodenkompetenz angesprochen – werden Polaritäten benannt, so als gelte es existierende Lager auszumachen und nicht eher darum zu differenzieren oder Individualitäten innerhalb einer heterogenen Gruppe wahrzunehmen. Die parallele Anordnung der Begriffspaare legt es zudem nahe, unwillkürlich einen Zusammenhang zwischen „stark“ und „diszipliniert“ bzw. zwischen „schwach“ und „undiszipliniert“ zu realisieren, was unter anderem die fragwürdige Logik ergeben könnte: Wer diszipliniert ist, gehört zu den Starken und wer undiszipliniert ist, zu den Schwachen. Die implizierte Wertung ist klar: Positiv werden die disziplinierten Starken bewertet, negativ die undisziplinierten Schwachen.

Nun wird deutlich, dass, je intensiver ich Strukturmomente rechter Ideologie in den Vordergrund rücke, meine Distanz zum Text und zu seinem Protagonisten zunimmt: Die Etikettierung der Logik der geschilderten Abläufe als „faschistoid“ wird einerseits zunehmend begründet, andererseits aber verstärkt sich die Tendenz zu moralisierender Ablehnung.

Ich möchte mich nun gegenläufig zu dieser Tendenz den Texten noch einmal erneut annähern, indem ich zu klären versuche, welche Rolle mir die szenischen Schilderungen zuweisen. Im ersten Text gibt es immerhin einen Mitspieler, der eine entfernt vergleichbare Rolle wie ich als SPS-Leiter spielt: Der erwähnte Referendar ist – so kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen – nicht nur jemand, der sich an der Schule bereits besser auskennt und in seiner Ausbildung weiter ist als der Praktikant, sondern jemand, der die Funktion eines Beraters bzw. Mentors besitzt. Vermutlich besucht der Praktikant seinen Unterricht und möglicher Weise wird er in diesem Unterricht auch einen Unterrichtsversuch durchführen. Der Referendar stünde insofern als eine Art Ausbilder mir als SPS-Leiter nahe und insofern könnte ich auch die vorgenommene Charakterisierung auf mich übertragen: „Ein Mann, der sich zu viele Gedanken macht…umgangssprachlich auch Weichei genannt.“ Immerhin habe ich im Einführungs- und Begleitseminar dokumentiert, dass ich mir (zu?) viele Gedanken über Unterricht mache, und ich habe versucht, die Studierenden davon zu überzeugen, dass dies notwendig sei. Auch die Aufforderung zur Reflexionsanstrengung, die POS darstellt, könnte mit dem betonten „zu viele Gedanken machen“ assoziiert werden. Entsprechend gelte das abwertende Urteil „Weichei“ gleichsam mir als einem Adressaten des Textes und die abschließende Verknüpfung der positiven Selbstbewertung mit dem anerkennenden Urteil des Referendars besäße die Funktion, mir zu sagen, dass ich mit meinen Auffassungen im Unrecht sei und dass die Haltungen des Praktikanten als angemessen und richtig anerkannt werden müssten. Nicht die von mir vertretene reflexive und schülerorientierte Pädagogik sei erfolgreich, sondern die Orientierung an Maximen von Stärke.

Noch eindrucksvoller zeigt sich der Appell an mich als Leser im Falle des zweiten Textes, obwohl kein Mentor erwähnt wird, der als Stellvertreterfigur interpretiert werden könnte. Auffällig ist nämlich hier die Form, in der der Text präsentiert wird. Es werden Regeln formalisierter Schreiben beachtet, wenn sowohl eine Datumsangabe als auch eine Mischung aus Betreff- und Adressatenangabe dem Text vorangestellt wird. Damit wird der Eindruck geweckt, es handele sich um einen Brief, dessen Empfänger zunächst einmal ich als SPS-Leiter – „Dozent: Dr. Würker“ – bin.

Der Sprachstil ist sachlich, die Satzgefüge sind komplex; die Verwendung der indirekten Rede und der entsprechenden grammatikalischen Form des Konjunktivs vermitteln den Eindruck gepflegten Ausdrucks bzw. eines hohen, schriftsprachlichen Stils. Die Betonungen durch Kursivschrift lassen essayistische bzw. wissenschaftliche Qualität assoziieren, so dass man den Text weniger als spontane Erzählung aufnimmt als vielmehr als Argumentation oder Erörterung. Besonders gemessen an der Aufgabenstellung – es sollte eine spontane szenische Erzählung ohne Überarbeitung geliefert werden – erscheint dieser Text außerordentlich „diszipliniert“ und entspricht insofern dem Kontext, der im Briefkopf angesprochen ist: dem universitären Diskurs mit promovierten Diskussionspartnern.

In argumentativer Logik wäre aber die Fallschilderung mit dem Schüler als Begründung oder gar als Beweis zu werten für die abschließende Bewertung, der der Rang einer Schlussfolgerung bzw. einer bewiesenen These zukäme. Der Beweis besteht in der Darstellung des dreifachen Erfolgs: der Schüler unterwirft sich, er arbeitet überdurchschnittlich mit und er sucht noch über den Unterricht hinaus das Einzelgespräch mit dem Praktikanten.

Stelle ich mir die Interaktionsszenen dieser „Erfolgsgeschichte“ noch einmal vor und berücksichtige gleichzeitig, welche Szene besonders durch die Form des Textes zwischen dem Praktikanten und mir entsteht, so fällt die frappierende Parallelität ins Auge: Wie der Schüler einerseits durch das nonkonfom-witzige Namensschild gegen den Praktikanten protestiert, so protestiert der Praktikant mit seinem Text gegen mich als Seminarleiter. Und wie der Schüler sich dann anpasst und sogar überdurchschnittlich gut mitarbeitet, so liefert der Praktikant nicht nur einen Text – was er durch die Anonymität geschützt nicht hätte tun müssen -, sondern er gibt einen besonders diszipliniert geschriebenen Text ab, so als wolle er einen besonders anerkannten Beitrag liefern. Und drittens wahrt er zwar die Anonymität, aber er schreibt einen derart provokanten Text, dass ihm eine individuelle Beachtung – vergleichbar einem Einzelgespräch – sicher ist. Absichtlich oder unabsichtlich, in jedem Fall aber bedeutungsvoll notiert er als Datum den „20. April 2004“, also den Jahrestag von Hitlers Geburtstag [2].

Durch diese szenische Parallelität entsteht plötzlich in mir ein ganz anderes Bild: der Praktikant erscheint nun in der Rolle des mit fremder Autorität konfrontierten Schülers, er erscheint als Kind, das zwischen Protest und Anpassung bzw. Unterwerfung hin und her schwankt. Ich werde in meiner anfänglichen Verurteilung des geschilderten Verhaltens verunsichert, weil meine Parteinahme für den Schüler nun auch auf den Praktikanten ausstrahlt. Es tritt eine neue Perspektive in den Vordergrund: Ich ahne – ganz im Sinne von Bernfelds Hinweis, der Lehrer könne dem Kind vor sich gar nicht anders begegnen als in der Art, in der mit diesem selbst umgegangen wurde – einen Zusammenhang zwischen dem autoritären Auftreten des Praktikanten und inneren Szenen, in denen er Opfer solchen Verhaltens ist. Und ich spüre den Sog zu einer Re-Inszenierung, in der mir über den Text exakt jene Rolle zugeschrieben wird, die ich spontan imaginierte, die Rolle eines Lehrers, der den Textautor moralisierend zurecht weist und vor der Seminargruppe bloßstellt sowie am Schluss sich dennoch speziell und persönlich auf ihn bezieht.

Fußnoten:

[1] Beide Texte werden in anderen Kapiteln zitiert und in anderen Zusammenhängen erläutert: Der erste Text diente bereits in Kapitel 2 dazu, die Praxis von POS zu veranschaulichen, und er wird später – ebenso wie der zweite hier aufgegriffene Text – noch einmal genutzt, um die Relevanz des Konzepts zu verdeutlichen. Ich möchte, um Redundanzen gering zu halten, beide Texte im Zusammenhang wirkungsanalytisch untersuchen, weil ihre inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeit bzw. die Ähnlichkeit meiner Reaktion auf beide Texte dies nahe legt.

[2] In einem Seminar zum Thema „Selbstreflexion“, in dem dieser Text besprochen wurde, erwähnte ich am Ende der Diskussion Parallelen zu theoretischen Texten zur Sozialpsychologie des Faschismus und zum autoritären Charakter. In diesem Moment wies ein Student auf die Bedeutung des angegebenen Datums hin, die mir nicht bewusst gewesen war.

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