Falldarstellung
„Ein kleiner Wink mit dem Finger“
Ein dritter Text, der mich und Seminarteilnehmer intensiv beschäftigt hat, bildet in mehrfacher Hinsicht einen Kontrast zu den bisher zitierten: In ihm ist nicht eine Praktikantin oder ein Praktikant Protagonist, sondern ein Lehrer, der von einem Praktikanten beobachtet und beschrieben wird, und es ist nicht von Unsicherheit und Selbstzweifel die Rede, sondern von Grandiosität und Souveränität:
„Mister M betritt den Biologieraum einer 5. Klasse mit ca. 35 Schülern und ein großes Hallo bricht aus. Die Schüler sind alle restlos begeistert – Standing Ovations. Ein lockerer Spruch, ein kleiner Wink mit dem Finger und in der Klasse ist es ruhig. Keine Angst, sondern gespannte Erwartung breitet sich im Raum aus.
Als erstes eine kleine Bekanntmachung über mögliche Umwelt-Aktivitäten am Wochenende – entgegen aller Erwartung herrscht reges Interesse und Nachfrage an Ausweichterminen oder Veranstaltungen. Danach die Frage des Tages: ‚Was unterscheidet pflanzliche und tierische Zellen?
Mein Staunen erreicht die Hochwassermarke der Donau, als ich merke, dass die Beteiligung nahezu 100% beträgt – obwohl das Thema noch nicht oder an manchen Punkten ansatzweise besprochen wurde. Und es kommen eigentlich keine dummen Bemerkungen oder schlechte Antworten. Ich habe es endlich geschafft, einen Lehrer zu finden, der es geschafft hat seine Schüler aus dem Todesschlaf zu erwecken. Für sie ist es kein einfaches vor sich hin Vegetieren und Auswendiglernen mehr. Es hat sich weiter entwickelt, so wie es sein sollte. Sie haben von sich aus Interesse entwickelt und fragen nach den Zusammenhängen untereinander und wie das alles mit ihrem Leben zusammenhängt.
Obwohl es in der Klasse recht lebhaft zugeht, wird nie ein bestimmter Maximalwert an Dezibeln überschritten. Es ist lebhaft, aber nicht laut. Man hat keine Probleme sich zu verständigen oder anderen zuzuhören. Und noch etwas – wenn einer spricht hören die anderen zu. Sogar noch besser. Sie beschäftigen sich wirklich damit und gehen in ihren Kommentaren aufeinander ein.
Wenn es zu falschen Schlussfolgerungen kommt, wird das kurz geklärt – oder ein anderer Schüler klärt das ganze – und es geht weiter. Wobei sich derjenige, der das „falsche“ Wissen eingestreut hat, sich nun nur noch mehr bemüht zum „Unterricht“ positiv etwas beizutragen. Abgerundet wird das ganze von gelegentlichen Scherzen und Späßen des Meisters. So geht er auf einige falsche Bemerkungen mit einem Wortspiel ein, auf andere erzählt er einen kleinen Witz. Schüler, die sich tatsächlich längere Zeit nicht melden, werden mit kleinen Tricks dazu gebracht ihre Verteidigungspose aufzugeben und einfach ins Blaue hinein einen Tipp abzugeben.
So z. B. ein kleines etwas schüchternes Mädchen: ‚Ich mag nicht, ist ja doch falsch.`
Herr M.: ‚Ok. Dann gib mir dein Heft. Ich will mal was nachschlagen.‘
Mädchen: ‚Nein, ist nicht ordentlich.‘
Herr M. zieht das Heft weg und das Mädchen schaut ihn mit großen Augen an.
‚Hier, komm wir tauschen‘, meint er und drückt ihr den Zeigestock in die Hand, ‚dann ist es wieder fair.‘ Das Mädchen strahlt und fängt an mit dem Stock zu spielen. Herr M.: ‚Ok. Jetzt, wo du den Zeigestock hast, musst du aber auch damit arbeiten Also mal los, an die Tafel und zeig was, oder bleib einfach sitzen und erzähl uns was‘. Woraufhin das Mädchen dann auch ganz ungezwungen anfing, etwas über die Unterschiede zwischen tierischer und pflanzlicher Zelle zu erzählen – etwas ist untertrieben. Eigentlich fast alles Wissenswerte in einer 5. Klasse. Nebenbei fand er dann auch immer noch Zeit um sich um uns beide Hospitanten kümmern und noch schnell einen flotten Spruch über unsere Lage nach dem Studium abzugeben – wobei er allerdings den Seinen immer noch aufmerksam folgte.
Fazit: Wahrscheinlich die lebendigste und aufmunterndste Stunde, die ich je erlebt habe. Vielleicht ein wenig zu locker, aber Schüler und Lehrer sind erstklassig damit zurecht gekommen. Dieser Unterricht ist zugegeben ein wenig unkonventionell, aber ich hatte den Eindruck, dass die Schüler hier besser, mehr und mit viel mehr Eifer und Interesse lernen als nach dem Standardschema. Es ist definitiv kein Unterrichtsstil, den ich durchziehen könnte, aber wenn jeder in seinem Unterricht nur etwas von dieser Art hätte und es zumindest schafft, seine Schüler dazu zu bringen, dass eigenes Interesse geweckt wird, ist schon viel gewonnen.“
Interpretation
Der erste Eindruck: Der Text schildert einen optimalen Unterricht, arrangiert von einem perfekten Lehrer. Mich irritiert, dass dieser Eindruck einhergeht mit meinem Unmut bei der Lektüre, meiner spontanen Ablehnung des Lehrers. Diese negative Reaktion widerspricht dem Inhalt, denn es wird eine harmonische Szene geschildert und ein hervorragender Lehrer, der offenkundig relevante Inhalte motivierend präsentiert und Lernprozesse zum Erfolg aller beteiligten Schüler zu gestalten weiß. Woher rührt meine Ablehnung? Bin ich etwa neidisch auf die Qualität des Unterrichts? Konkurriere ich mit dem Protagonisten? Neige ich zur Abwehr der Erkenntnis, dass ich einen solchen Unterricht nie gehalten habe und nie werde halten können? – Ich stelle diese persönliche Motivierung in Rechnung, versuche aber gerade deshalb mich noch einmal konkret auf den Text einzulassen. Ich sammle, was mir an der Schilderung auffällt und registriere die Assoziationen, zu denen er mich verleitet.
Der Autor des Textes kommt mir wie die beschriebenen Schüler vor, er ist „restlos begeistert“ und reiht denn auch viele positive Wertungen aneinander:
-> Die Schüler sind begeistert, hoch motiviert, bringen außerordentlich gute Beiträge, sind dabei sowohl lebendig als auch diszipliniert, ruhig und konzentriert, kurz: es wird ein Schülerverhalten geschildert, wie man es sich nur wünschen kann.
-> Der Lehrer, der hierfür maßgeblich verantwortlich gemacht ist, bewirkt dieses optimale Schülerverhalten auffallend mühelos:
■ Das Betreten des Raums allein reicht aus, um Begeisterung zu erzeugen.
■ „ein kleiner Wink mit dem Finger“ bringt die Klasse zur Ruhe und erzeugt „gespannte Erwartung“
■ „Eine kleine Bekanntmachung“ ruft „reges Interesse“ hervor.
■ „Gelegentliche Scherze und Späße des Meisters“ dienen der Abrundung.
■ Mit „kleinen Tricks“ bringt er ruhigere Schüler dazu sich zu beteiligen.
Entsprechend ist das Fazit des Autors in Superlativen formuliert: „die lebendigste und aufmunterndste Stunde, die ich je erlebt habe“.
Der Autor scheint nicht nur „restlos begeistert“, sondern geradezu fasziniert, er scheint im Bann des Lehrers zu stehen, ihm nachzueifern, denn unwillkürlich scheint er in seinem sprachlichen Gestus das Lehrerverhalten von Mister M zu imitieren, wenn er vermeintlich lockere und originelle Wendungen einfügt: „Mein Staunen erreicht die Hochwassermarke der Donau…“ oder „…wird ein bestimmter Maximalwert an Dezibeln überschritten“ bzw. wenn er vom Lehrer als „Mister M“ oder als „Meister“ spricht.
Beim Versuch, die Begeisterung des Autors und seine Faszination mit dem Zusammenspiel von minimalen gestischen Impulsen des Lehrers und optimal mitarbeitender Klasse zu verknüpfen, fällt mir auf, dass der Autor da und dort geringfügige Einschränkungen macht. Zum Beispiel spricht er davon, es sei „wahrscheinlich“ die lebendigste und aufmunterndste Stunde gewesen, wodurch die Frage provoziert wird, ob das, was als wahrscheinlich bezeichnet wird, auch das Tatsächliche ist. Zuvor schon war bezogen auf die Beteiligung nicht absolut formuliert worden: „nahezu 100%“ heißt es da, was offen lässt, wie viel Prozent die Schülerinnen/Schüler sich denn effektiv beteiligt haben. Waren es 90% oder gar nur 80 oder 70%? Und als der Autor die hohe Qualität der Schülerbeiträge betont, sagt er, es seien „eigentlich“ keine dummen Antworten gekommen: waren einige also doch – zumindest dem ersten Anschein nach – keine intelligente Antworten? Wie immer diese Fragen zu beantworten sein mögen, es entstehen immerhin Risse in der so geschlossen wirkenden Schilderung völliger Harmonie. Und am Schluss folgt dann sogar eine vorsichtig formulierte Problematisierung „Vielleicht ein wenig zu locker“ heißt es da und: „Dieser Unterricht ist zugegeben ein wenig unkonventionell“, eine Einschränkung der positiven Bewertung, die allerdings in beiden Fällen sofort wieder zurückgenommen wird: „…aber Schüler und Lehrer sind erstklassig damit zurecht gekommen“ lautet die Fortsetzung des ersten Satzes und der zweite wird ähnlich ergänzt durch die Formulierung: „…aber ich hatte den Eindruck, dass die Schüler hier besser, mehr und mit viel mehr Eifer und Interesse lernen als nach dem Standardschem“.
Plötzlich gewinne ich den Eindruck, als sei der Autor doch nicht ganz von der positiven Qualität des Unterrichts überzeugt, sehe aber durch die perfekte Harmonie zwischen Lehrer und Schülern keine Rechtfertigung für eine irgend geartete skeptische Distanz. So betont er abschließend, es handele sich zwar „definitiv“ um keinen Unterrichtsstil, den er selbst „durchziehen könnte“ aber es sei „schon viel gewonnen“, wenn alle dem Vorbild auch nur partiell folgen würden. So führen alle Einschränkungen und führt auch die Einsicht, der Unterrichtsstil des Lehrers sei kein praktikables verallgemeinerbares Modell, nicht zu einer kritischen Reflexion, sondern im Gegenteil zu einer erneuten Überhöhung als einem perfekten Vorbild, das unnachahmliche Qualität besitze und dem alle sich lediglich anzunähern bemüht sein müssten.
Spätestens an dieser Stelle tritt eine Assoziation in den Vordergrund, die vom Text konkret angeregt wird, wenn es heißt:
„Ich habe es endlich geschafft, einen Lehrer zu finden, der es geschafft hat seine Schüler aus dem Todesschlaf zu erwecken.“
Das Bild der Erweckung von den Toten, das hier evoziert wird, verweist auf die religiöse Vorstellung vom Messias, der als „Meister“ bezeichnete Lehrer wird so explizit mit Jesus verglichen, der geschilderte Unterricht gewinnt den Rang eines Wunders. Zu dieser Vorstellung gehört auch das Staunen, gehört die Aura des Überraschenden. Ebenso die merkwürdige sprachliche Wiederholung – „Ich habe es endlich geschafft, einen Lehrer zu finden, der es geschafft hat…“ – verstärkt diese religiös überhöhende Bedeutung: Der Autor signalisiert, dass es für ihn bereits eine ähnlich große Leistung ist, diesen wundertätigen Meister zu finden, wie es für diesen eine Leistung ist, die Wunder zu vollbringen. Damit teilt sich etwas vom extrem großen Abstand zwischen Jünger und Meister mit, der die subjektive Reaktion des beobachtenden Praktikanten kennzeichnet und den der Text mir als Leser vermittelt. Der Text nötigt mich, diese Position des Erzählers zu übernehmen und aus dieser Perspektive auf die Szene zu blicken.
Mein Unmut bei der Textlektüre könnte entsprechend als Widerstand gegen diese Nötigung verständlich werden: Ich löse mich dadurch vom Blickwinkel des Autors und distanziere mich gleichzeitig vom Sog zur identifikatorischen Bewunderung des Lehrers. Mit dieser Vermutung wäre etwas ausgesagt über die Problematik nicht nur der Beziehung des Praktikanten zu Mister M, sondern sie ließe auch eine Hypothese über die Struktur der Schüler-Lehrer-Interaktion zu: Die geschilderte Harmonie funktioniert in der Logik absoluter Dominanz auf Seiten des Lehrers, weder Schüler noch Praktikant gewinnen einen Spielraum für eigenständige Entfaltung, wie Marionetten folgen sie den minimalen Impulsen des Lehrers. Wie ein Hypnotiseur den Hypnotisierten beeinflusst, so scheint der Lehrer die Schülerinnen und Schüler und auch den Praktikanten zu führen. Nur in den erwähnten sprachlichen Relativierungen und der Kritik, die aber sofort zurückgenommen wird, deutet sich an, dass der Praktikant nicht vollständig in Bann gezogen ist, dass eine Tendenz zur Distanzierung in der Schilderung Geltung gewinnt. Allerdings dies wirklich zur Sprache zu bringen, gelingt – so der Eindruck bei der Lektüre – in der szenischen Schilderung nicht.
Um das bisher gewonnene Verständnis zu vertiefen, ist es sinnvoll auf die konkrete Szene einzugehen, die der Autor zur Veranschaulichung für die Fähigkeit des Lehrers, die Schüler zur Mitarbeit zu bewegen, anfügt. Abermals deckt sich meine spontane Gefühlsreaktion nicht mit der Bewertung, die der Text nahe legt.
Es geht in der Szene um eine Schülerin, die zunächst sowohl einen mündlichen Beitrag verweigert als auch die Einsicht in ihr Heft, worauf sich die folgende Interaktion entwickelt (bereits oben zitiert):
„Herr M. zieht das Heft weg und das Mädchen schaut ihn mit großen Augen an. ‚Hier, komm wir tauschen‘, meint er und drückt ihr den Zeigestock in die Hand, ‚dann ist es wieder fair. ‚Das Mädchen strahlt und fängt an mit dem Stock zu spielen.
Herr M.: ‚Ok. Jetzt, wo du den Zeigestock hast, musst du aber auch damit arbeiten.
Also mal los, an die Tafel und zeig was, oder bleib einfach sitzen und erzähl uns was‘. Woraufhin das Mädchen dann auch ganz ungezwungen anfing …zu erzählen…“
Während der Autor dem Anschein folgt, den der Lehrer erzeugt, es handele sich um eine gleichberechtigte Beziehung – „jetzt ist es wieder fair“ – und davon spricht, das Mädchen beginne „ganz ungezwungen“ zu erzählen, erlebe ich das Geschehen als gewaltsamen Übergriff. Im Blick des Mädchens – „das Mädchen blickt ihn mit großen Augen an“ – liegt für mich keinesfalls Bewunderung und auch nicht einfach nur Überraschung, sondern ich assoziiere Schreck und Angst. Und bereits die Art, wie der Lehrer sich das Heft des Mädchens nimmt – „Herr M. zieht das Heft weg“-, macht für mich seine geradezu aggressive und willkürliche Dominanz spürbar, denn es fragt sich, weshalb er der Schülerin das Heft abnimmt: Als Kontrolle? Die hat er offenkundig weder angekündigt noch bei anderen durchgeführt. Als Strafe dafür, dass die Schülerin nicht sofort auf seine Anforderung, etwas zu sagen, eingeht? Das wäre eine Strafe, die die Schülerin unvorbereitet und meines Erachtens auch zu Unrecht trifft. Wie dem auch sei: Mir drängt sich der Eindruck auf, als könne es der Lehrer nicht ertragen, dass eine Schülerin seinen Impulsen nicht folgt, weshalb er ihre Abwehr ein zweites Mal durchbricht. Die Übergabe des Zeigestocks scheint mir denn auch ein Indiz dafür zu sein, dass der Lehrer dies spürt und deshalb eine Art Wiedergutmachung zelebriert. Und mit seiner Behauptung, nun sei Fairness hergestellt, verschleiert er seinen Übergriff.
Die Schilderung lässt dies alles aber durch den außerordentlichen Erfolg der Lehrerintervention verschwinden: Das Mädchen strahlt und es erzählt „alles Wissenswerte“. Als Leser erlebe ich ganz in der Logik der vorangehenden Schilderung durch dieses Beispiel eine wunderbare Verwandlung mit: Ein schüchternes Mädchen wird zur souveränen Referentin. Bewirkt hat das eine magische Handlung des Meisters, zwar nicht ein Handauflegen, aber immerhin die Übergabe eines bedeutsamen Gegenstandes, denn es wirkt so, als hätte diese magische Handlung ein stummes Mädchen zum Sprechen gebracht, eine Unwissende erweist sich plötzlich als Wissende.
Mein Widerstand gegen diese grandiose Überhöhung setzt sich in ganz abweichende Vorstellungen um bis hin zu der, das Mädchen könnte den Zeigestock auch zur aggressiven Abwehr des Lehrers benutzen, eine Vorstellung, die mich selbst überrascht, die ich aber dennoch als Indiz dafür ernstnehme, welch hohes Aggressionspotential im Text-Leser-Verhältnis virulent ist. Auf die Bedeutung des Textes zurückgewendet ergeben sich drei Vermutungen:
• Der Text zeigt Unterrichtsgeschehen als vom Lehrer vollkommen dominierte Interaktion.
• Schülermotivation und Schüleraktion ist völlig gebunden an Lehrerhandeln.
• Wobei die Vorstellung entfaltet wird, dass erfolgreiches Lehrerhandeln körperlich-unmittelbare bzw. magische Qualität besitze und dass eine völlige Harmonie zwischen Lehrer und Klassengruppe der geradezu göttlichen Gabe entspringt, Menschen zu verwandeln.
Damit präsentiert der Text eindrucksvoll eine bestimmte, durch Idealisierung gekennzeichnete Lehrerimago: Der Lehrer als der Allmächtige.
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