Vorbemerkung Fallarchiv:

Der Autor zieht zur Interpretation des folgenden Falles einen Text von Kafka heran, der ebenfalls in oben genannter Quelle zu finden ist:

Gibs auf! Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „ Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit Ihrem Lachen allein sein wollen. (Kafka 1989b)

Falldarstellung

„Total raus“

Vorbemerkungen des Autors:

Ich möchte nun einen Text aufgreifen, der mich – und übrigens auch die Teilnehmer des Seminars, in dem dieser Text kurz besprochen wurde – ratlos ließ, was im Rahmen einer Vorstellung eines Konzepts argumentationsstrategisch ungeschickt erscheinen mag, dennoch aber insofern sinnvoll ist, als sich dadurch die Möglichkeit veranschaulichen lässt, dass ein Text zwar eine nachhaltige Irritation hervorruft, aber kein konkretes sinnlich-szenisches Material liefert, um die Irritation interpretativ aufzulösen. Dies konkret wahrzunehmen ist in mehrerlei Hinsicht fruchtbar: Einerseits wird die Tatsache spürbar, dass Interaktionsszenen durch eine unbewusste Dynamik bestimmt werden, auch wenn nicht konkret entscheidbar wird, welche es in diesem Einzelfall ist. Andererseits radikalisiert sich der Appell Charakter des Textes und entsteht eine besonders starke Provokation, eigene Assoziationen ins Spiel zu bringen. Da es ohnehin nicht darum geht, den Autor des Textes zu analysieren, kann auch dieses Spiel der Assoziationen aufschlussreich sein, allerdings ist zu bedenken, dass durch die Entfernung vom Text diese Assoziationen in besonderem Maße einen projektiven Charakter besitzen und nicht als Deutungen des Textes missverstanden werden dürfen.

Nun aber der Wortlaut des Textes:

„Bei meinem ersten Unterrichtsversuch war ich gut vorbereitet. Ich wollte mir keine Blöße geben, da mein Mentor super genau sowohl fachlich als auch methodisch war. Der Unterricht verlief anfangs richtig gut. Ich hatte das Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten und auch bei der Klasse akzeptiert zu werden. Wichtig war mir: Schülerantworten aufzugreifen, zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten. Ich wollte nicht einfach nur meinen Stoff durcharbeiten, sondern den Stoff daran orientieren, was aus der Klasse kommt und das so Gegebene mit gezielten Fragen/Impulsen in die richtige Richtung lenken (die ich mir als Ziel gesetzt hatte). Aus der Klasse kamen viele interessante Beiträge zum Thema und so hatte ich genug Material zum Ar-beiten. Das Schwierigste war für mich die Schülerantworten zu hören, zu verstehen, einzuordnen und dann die richtige Frage zu stellen oder Impuls zu geben. Es fiel mir nach einigen Minuten jedoch immer leichter und ich entwickelte das Gefühl alles im Griff zu haben. Die Beteiligung aus der Klasse war richtig gut und so dachte ich, dass das, was ich mache, gut ankommt. Ich bekam Spaß am Unterrichten. Ich war froh mir zur Vorbereitung viel Zeit genommen zu haben, da jetzt alles gut lief. Mein Mentor und ein Mitpraktikant saßen ebenfalls in der Klasse und unterhielten sich leise, mit der Zeit vergaß ich jedoch die beiden und war vollkommen in den Unterrichtsverlauf versunken. Irgendwann gegen Ende der Stunde schnappte ich den Kommentar meines Mentors auf, ich würde das mit den Fragen gut und geschickt machen. In diesem Moment dachte ich „Klasse“, hat sich gelohnt sich gut vorzubereiten, du kannst das. Ab diesem Augenblick verlor ich komplett den Überblick. Alles, was mir relativ gut geglückt ist, war wie ausgelöscht. Ich geriet durcheinander. Schüleraussagen gingen an mir vorbei, ich wusste, wenn ich eine Frage stellte, nicht mehr, wohin die eigentlich führen sollte. Schlichtweg fehl am Platz. Meine Unsicherheit spiegelte sich auch in der Klasse wider. Die Schüler fingen an zu tuscheln und wenn ich was sagte, blickte ich in fragende Gesichter. Die mir widerspiegelten, was ich selbst schon gemerkt hatte, ich war total raus. Mein Selbstvertrauen war am Boden und damit auch meine Fähigkeit zu agieren.“

Interpretation

Was irritiert, liegt auf der Hand: Warum kippt das sichere und erfolgreiche Lehrerhandeln der Praktikantin/des Praktikanten aufgrund des Kompliments des Mentors um in ein Scheitern? Unwillkürlich untersuche ich den Umschlagpunkt auf die Möglichkeit hin, es könne sich um einen Ausdrucks- oder Druckfehler handeln, aber die Formulierung lässt eine solche befriedigende Erklärung nicht zu: Da kann keine Verneinung eingesetzt werden, es ist wirklich so, dass es sich um eine positive Kommentierung des Mentors handelt, die den Umschwung herbeiführt.

Wieder einmal frage ich mich, ob es eine weibliche oder männliche Person ist, die da handelt und erzählt. Spontan stelle ich mir einen männlichen Praktikanten vor, kann aber vom Text her keine stichhaltige Begründung anführen und finde die Annahme, es handele sich um eine Praktikantin gegenüber einem männlichen Mentor und einem männlichen Mitpraktikanten, zunehmend plausibel. Also werde ich im Folgenden grammatikalisch die weibliche Form benutzen.

Zurück zum Text: Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass das Lob des  Mentors im ersten Moment nicht verunsichernd wirkt, sondern in eine positive Selbstvergewisserung umgesetzt wird: „In diesem Moment dachte ich „Klasse“, „hat sich gelohnt sich gut vorzubereiten, du kannst das“. Erst dann kippt die Situation:

  • „…verlor ich komplett den Überblick“
  • „Alles, was mir relativ gut geglückt ist, war wie ausgelöscht.“
  • „Ich geriet durcheinander.“
  • „Schüleraussagen gingen an mir vorbei…“
  • „…ich war total raus“
  • „Mein Selbstvertrauen war am Boden und damit auch meine Fähigkeit zu agieren.“

Nicht nur durch die Vielzahl bzw. Vielfalt der Formulierungen, die Unsicherheit ausdrücken, teilt sich mir die Verwirrung mit, in die die Praktikantin gerät, sondern auch dadurch, dass die Verwirrung im Text unmittelbar Platz greift. Wenn es heißt: „Schüleraussagen gingen an mir vorbei, ich wusste, wenn ich eine Frage stellte, nicht mehr, wohin die eigentlich führen sollte. Schlichtweg fehl am Platz. Meine Unsicherheit spiegelte sich auch in der Klasse wieder“, so zeigt sich, selbst wenn man die Sätze als Reihung und nicht Darstellung einer logischen Konstruktion liest, ein Bruch, weil die Wendung: „Schlichtweg fehl am Platz.“ sprachlich wie logisch aus dem Zusammenhang fällt. Sprachlich, weil es sich um keinen vollständigen Satz handelt, obwohl die Interpunktion dies signalisiert, logisch, weil der Bezug zum Vorangehenden ebenso schwer fällt wie zum Folgenden. Beide Sätze, zwischen denen die Wendung steht, sind in sich abgeschlossen und bedürfen keiner näheren Erklärung, wie sie „Schlichtweg fehl am Platz.“ darstellen könnte. Deshalb entsteht der Eindruck, als handele es sich um eine sehr bedeutsame Vorstellung, die sich gerade aufgrund ihrer Bedeutsamkeit hier unabhängig vom sprachlich-logischen Zusammenhang Geltung verschafft. Versucht man die Formulierung zu einem Satz zu vervollständigen, so drängt sich unwillkürlich die Ergänzung des Subjekts „Ich“ und des Prädikats „war“ auf: „Ich war schlichtweg fehl am Platz“. Damit würde der bereits durch die Reihung der anderen Formulierung hervorgerufene Eindruck intensiviert, die Praktikantin sei wirklich „total raus“, nämlich als gesamte Person. Es ginge also nicht um eine harmlose Konzentrationsschwäche, einen kurzen Black-out, sondern um ein viel gravierenderes Problem, dem die abschließende Formulierung „Mein Selbstvertrauen war am Boden und damit auch meine Fähigkeit zu agieren“ entspricht.

Auf die Frage nach dem Warum dieses so eindrucksvoll geschilderten Verlusts der Verhaltenssicherheit und des Selbstvertrauens liefert der Text keine Antwort, es wird eben nur der Ablauf bzw. die Qualität der Verunsicherung be- bzw. umschrieben. Diese – rezeptionsästhetisch gesprochen: – „Leerstelle“ provoziert die Vorstellungen des Lesers, und ich erlaube mir, einige assoziative Zusammenhangsbildungen, die mir in den Sinn kamen, darzustellen.

Zunächst fiel mir wiederum der oben zitierte Kafka-Text „Gibs auf“ ein, weil abermals die Fixierung auf einen Repräsentanten einer mit gesellschaftlicher Macht ausgestatteten Institution eine Rolle zu spielen scheint.

Dabei – und das irritiert zunächst – ist es nicht von Bedeutung, ob dieser Repräsentant ein negatives oder positives Urteil fällt, sondern lediglich die Tatsache, dass er sich mit einem Urteil ins Spiel bringt. Es ist die Fixierung selbst, die Verwirrung auslöst, nicht die positive oder negative Qualität des Kommentars. Die bloße Wahrnehmung des Mentors lässt für die Praktikantin eindrücklich werden, dass sie Mitspielerin in einer Szene ist, in der ihr die (Schüler-) Rolle der Beurteilten zuge-wiesen ist, eine (Objekt-) Rolle, die der zuvor so erfolgreich eingenommenen (Subjekt-) Rolle der Lehrerin widerspricht. Der Konflikt, der daraus entsteht, bestimmt die Praktikantin derart, dass sie aus der Lehrerinnenrolle fällt: Sie steht immer noch vor der Klasse, registriert, dass dies die Position der Lehrerin ist, die die Gespräche steuern soll, aber ihr Selbstgefühl entspricht dem nicht mehr, sobald sie den Satz des Mentors gehört hat. Für diese Situation scheint jegliches Verhaltensrepertoire zu fehlen.

Die Praktikantin fällt zurück in die Situation der Fixierung auf den Mentor, die der Text am Anfang schildert: „Ich wollte mir keine Blöße geben, da mein Mentor super genau sowohl fachlich als auch methodisch war“, eine Situation, die sie während der Stunde überwunden hatte: „Mein Mentor und ein Mitpraktikant saßen ebenfalls in der Klasse und unterhielten sich leise, mit der Zeit vergaß ich jedoch die beiden und war vollkommen in den Unterrichtsverlauf versunken“. Am Anfang war das Ziel nicht etwa, guten Unterricht zu halten, sondern sich „keine Blöße zu geben“, also in ganz umfassendem Sinne keine Schwäche zu offenbaren, wobei die Metapher die Vorstellung von drohender körperlicher Nacktheit mitschwingen lässt. Dies tritt in den Hintergrund, es gelingt der Protagonistin, sich auf die Schülerinnen und Schüler zu konzentrieren, den Mentor zu vergessen, sogar Spaß zu empfinden, bis dann der Satz des Mentors, nicht in seiner Inhaltlichkeit, sondern wie ein bloßes Signal das alte Ziel wachruft.

Eine weitere Assoziation wecken die metaphorischen Formulierungen, mit denen der gelingende Unterricht beschrieben wird: „Ich hatte das Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten…“ und „…ich entwickelte das Gefühl alles im Griff zu haben“. Diese Formulierungen entwerfen das Bild der Praktikantin als einer Marionettenspielerin, die die Bewegungen der an Fäden hängenden Puppen bestimmt. In der Logik dieser Bildvorstellung würde das Lob des Mentors die Bestätigung liefern, dass die Praktikantin das mit den Fäden gut und geschickt machte. Und die Reaktion wäre in dieser metaphorischen Sprechweise zu benennen mit: „Ich verlor komplett den Faden“ bzw. „die Fäden gerieten mir durcheinander“. Das wahrgenommene Lob würde klarmachen, dass die Praktikantin nicht die Puppenspielerin ist, sondern selbst an Fäden hängt, nämlich denen des „super genauen“ Mentors. Als Puppe an den Fäden eines anderen Spielers aber geht der Kontakt zu den Schülern verloren, ausschlaggebend ist nur die Sensibilität, welche Bewegung man entsprechend der fremden Steuerung auszuführen hat.

Beide Assoziationen stellen eher szenische Analogien als Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Wechsels von Selbstsicherheit zu Unsicherheit bzw. von einem gelingenden zu einem misslingenden Unterrichtsgeschehen dar. Darin zeigt sich die Begrenzung des szenischen Materials, die nicht einfach übersprungen werden darf, indem man auf Deutungsangebote, wie sie die Psychoanalyse liefert, zurückgreift. Nimmt man z.B. Bezug auf Freuds Überlegungen in „Einige Charaktertypen in der psychoanalytischen Arbeit“, speziell zu „Die am Erfolge scheitern“ (vgl. Freud 1969, S. 229ff.), wo er am literarischen Beispiel von Ibsens „Rosmersholm“ zeigt, wie eine ödipale Wunscherfüllung in Schuldgefühl und Selbstzerstörung umschlägt, so legt man das Missverständnis nahe, es handele sich nicht mehr um eine Assoziation, sondern um eine vermeintlich gesicherte Deutung. Die „Sicherung“ der Deutung würde dann aber nicht am szenischen Material erfolgt sein, sondern aus der Abhandlung Freuds hervorgehen, es handelte sich nicht mehr um szenisches Verstehen.

Nur als Assoziation ist es sinnvoll, auch eine solche szenische Interpretation wie die Freuds einzubeziehen und zu erwägen, ob die Bedeutsamkeit, die im vorliegenden Text dem Urteil des Mentors zugeschrieben wird, auf eine infantile, ödipale Dynamik verweisen könnte. Als Assoziation ließe sich ausmalen, dass das Lob des Mentors die Erfüllung eines prekären Wunsches erlebbar machte, die umgehend Schuldgefühle weckt und Abwehr hervorruft. Die Schilderung lässt den Leser miterleben, wie diese Abwehr eine derart verhaltensbestimmende Bedeutung gewinnt, dass die Situation kippt: An die Stelle des lobenswerten souveränen Lehrerhandelns tritt das kritikwürdige chaotische Fehlverhalten. Repräsentierte die erste geschilderte Szene des gelingenden Unterrichts die Wunscherfüllung, so spiegelt die folgende Szene des Scheiterns die Dominanz der Abwehr gegenüber dem verpönten Erfolg [1].

Fußnoten:

[1] Ich möchte es nochmals erläutern: Die Erinnerung an die Freudsche Arbeit über Charaktertypen bzw. die darin als Erläuterung enthaltene Deutung des Ibsenschen Dramas verknüpft über die Gleichheit in der Struktur zunächst einmal zwei konkrete Szenen (-folgen). Ebenso wie in der Schilderung der Studentin irritiert in Ibsens „Rosmersholm“ der Umschlag von Erfolg in Misserfolg. Darüber hinaus beinhaltet aber diese Parallele durch die Verknüpfung von Drama und Freud-Deutung die Assoziation eines allgemeineren psychologischen Mechanismus, den der Abwehr eines unbewussten (ödipalen) Wunsches.

Würde nun die Freud-Deutung nicht als Assoziation behandelt, die das Text-Leser/innen-Verhältnis kennzeichnet, sondern als Erklärung auf den Text der Studierenden bezogen, so führte dies zu einer Aussage, die zwar den Anschein theoretischer Absicherung erweckte, tatsächlich aber eine völlig fahrlässige Deutung wäre. Im konkreten Fall liefert der Text keine Anhaltspunkte sie abzusichern, so dass der assoziative Charakter bestehen bleibt und die Freud-Deutung nicht mehr ist als eine Anregung, das eigene Text-Leser-Verhältnis zu befragen.

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