Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.

Die Ethnographin (vgl. Klassenräume), die von ihrem Platz aus das Geschehen im Klassenzimmer verfolgt und die visuellen Möglichkeiten und Einschränkungen erfahren hat, die sich mit diesem Platz verknüpfen, wird nun der spezifischen akustischen Optionen ihrer Platzierung im Raum gewahr. Sie bemerkt zunächst einmal, dass sie von Teilen des akustischen Geschehens ausgeschlossen ist: Sie sieht, dass Schülerinnen wenige Meter von ihr entfernt miteinander flüstern, aber sie kann nicht hören, worum es geht. Sie registriert also, dass der akustische Raum ganz anders strukturiert ist als der visuelle: Während jener durch die Ausrichtung der Blickfelder der Beteiligten konstituiert wird, ist dieser durch die Reichweite des Hörsinns definiert. „Innerhalb“ und „außerhalb“ des jeweiligen akustischen Raums bestimmen sich durch die je gewählte Lautstärke. Mit jeder einzelnen Äußerung im Unterrichtsgeschehen verbinden sich spezifische Adressatenschaften, die durch die akustische Reichweite dieser Äußerung begrenzt werden. Die Stimme, die die Beobachterin (fast) immer verstehen kann, ist die Stimme der Lehrerin. Diese richtet sich (normalerweise) an alle im Klassenzimmer Anwesenden und ist so gestaltet, dass sie auch über die größtmögliche Entfernung im Klassenzimmer noch vernehmlich ist. Schüleräußerungen sind sehr viel weniger regelmäßig akustisch zu entziffern. Äußerungen von Schülerinnen oder Schülern richten sich selten an alle auch wenn sie Teil des offiziellen Unterrichtsgesprächs sind.

Der Lehrer fragt nach Zeitformen, John meldet sich, kommt dran und nennt sehr leise und undeutlich (jedenfalls kann ich nichts verstehen, obwohl ich nur zwei Meter hinter ihm sitze) einen Begriff. Der Lehrer jedoch scheint es verstanden zu haben, er wiederholt laut und deutlich „Präteritum“ das ist richtig. Diese Szene beobachte ich mehrfach in diesem Unterricht: Schülerantworten sind so leise, dass sie höchstens für die Umsitzenden verständlich sein können, aber der Lehrer wiederholt, oder fasst zusammen, so dass das Gesagte in den offiziellen Diskurs eingeführt ist. Vermutlich kann man sich als Schüler darauf verlassen und muss gar nicht unbedingt versuchen zu verstehen, was andere Schüler antworten.

John wendet sich mit seiner (dem Ethnographen unverständlichen) Antwort an den Lehrer. Dies erscheint sinnvoll im Rahmen der direkten Interaktion, denn er antwortet ja auf dessen Frage. Als dysfunktional hingegen erscheint die von John gewählte Lautstärke mit Blick auf jene Unterstellung des lehrergeführten Unterrichtsgesprächs, dass das „Zwiegespräch“ zwischen Lehrer und Schüler eben nicht nur für diesen einen, sondern für die ganze Klasse instruktiv sein soll (vgl. Kalthoff 1997, S. 91ff.). Diese Funktion des „Unterrichtsgesprächs“ ist jedoch keine, für die sich die Schüler verantwortlich fühlen würden, sie überlassen es dem Lehrer, ihren Beitrag zu „veröffentlichen“ falls dieser Beitrag denn einer allgemeinen Rezeption wert ist. Mit einer (relativ) exklusiven Adressierung der Antwort an den Lehrer mag sich für Schüler auch die Strategie eines ‚versuchsweisen‘ Antwortens verbinden: Wenn es sich lohnt, wird der Lehrer die Antwort in das offizielle, für alle relevante „Unterrichtsgespräch“ einbinden, wenn nicht, dann hat kaum jemand etwas mitbekommen. Mit der Funktionalisierung der Lehrperson als (akustischer) Selektionsinstanz für Schülerantworten verbindet sich für die anderen, für das Publikum, der Nutzen, dass man sich nicht mit „irrelevanten“ Beiträgen beschäftigen muss, sondern nur mit den von der Lehrperson vorselektierten.
Voraussetzung für einen offiziellen Antwortversuch ist bekanntlich, dass die Schülerin von der Lehrperson das Rederecht zugeteilt bekommt, dass sie „drangenommen“ wird. Wenn die Schülerin im Rahmen des öffentlichen Unterrichtsgespräches nicht zum Zuge kommt, spricht sie so ist bisweilen zu beobachten die richtige Antwort leise vor sich hin. ,Aus Protest‘ sozusagen: Sie zeigt sich selbst und den Umsitzenden, dass sie es gewusst hätte, aber nun, da der Lehrer sie nicht „erhört“ hat, muss der wertvolle Beitrag ungenutzt verhallen!

Literatur

Kalthoff, H.: Wohlerzogenheit. Eine Ethnographie deutscher Internatsschulen. Frankfurt a. M. 1997

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf

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