Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.

Im akustischen Raum (siehe auch Akustische Räume – hören und gehört werden und Akustische Räume – Stimme der Lehrerin) besteht das besondere Recht der Lehrperson darin, dass sie als einzige jederzeit qua Lautstärke Öffentlichkeit beanspruchen kann, dass sie die Adressatenschaft frei wählen kann.

Die Lehrerin geht rum und kontrolliert etwas, die Hausaufgabe wohl. Frank hat keinen Zettel vor sich liegen. Sie kommt auf seinen Tisch zu, er wird rot, sagt ganz verlegen, ohne dass sie fragt: „Ich hab’s nicht.“ Sie, mit schneidendem Ton, weist ihn darauf hin (Klassenlautstärke), wenn er doch bloß das da und da abgeheftet hätte! Sein Banknachbar, ich glaube Detlev, wittert auch seine Chance und sagt zu ihm: „Du hast’s bloß nicht!“ Frank, rot, verlegen, verteidigend: „Klar hab ich’s.“ (Kerstin Jergus)

Die Beobachterin vermerkt eigens die Lautstärke der Zurechtweisung Franks durch die Lehrerin. Denn durch die akustisch erweiterte Adressatenschaft der Ermahnung, die sich eigentlich an die Person Franks richtet, kommt dieser ein anderer Status zu: der säumige Frank wird zum Exempel für andere, die Sanktionsgewalt der Ermahnung dürfte sich durch die akustische Platzierung im Raum der Allgemeinheit, durch die ‚Veröffentlichung‘, erheblich erhöhen.
Wir halten also fest: Schon der offizielle Unterrichtsdiskurs, wir haben bislang noch keine „Neben-Kommunikationen“ (Rehbock 1981) betrachtet, weist in seiner akustischen Gestaltung starke Differenzierungen auf. Es finden sich neben dem öffentlichen, dem allgemeinen Raum auch eingegrenzte „Sonderräume“, die nur die Lehrperson und einzelne Schüler umfassen. Die akustische Hoheit über den allgemeinen Raum besitzt allein die Stimme der Lehrperson. Da heißt nicht, dass einzelne Schüler nicht auch ,von sich aus‘, ohne Legitimation durch die Lehrperson, Äußerungen für alle und in Klassenlautstärke formulieren würden, doch diese finden ausschließlich im Status von „Zwischenrufen“ statt: Es handelt sich in der Regel um sehr kurze und zudem durch besonderen Unterhaltungswert gekennzeichnete Beiträge.

Literatur

Rehbock, H.: Neben-Kommunikationen im Unterricht. In: Baurmann, J. u.a. (Hg.): Neben-Kommunikationen. Beobachtungen und Analysen zum nicht-offiziellen Schülerverhalten innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Braunschweig 1981, S. 35-84.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.