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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.

Im Vergleich zu den visuellen und den akustischen Räumen handelt es sich bei den haptischen Räumen um „Nahräume“, die eng begrenzt sind durch die Reichweite der eigenen Arme. Haptisch erreicht werden kann nur, was sich innerhalb eines gedachten Kreises von ca. 1,50 Meter Durchmesser um den eigenen Körper herum befindet. In der Unterrichtssituation, auf dem Stuhl sitzend, schließt diese Erreichbarkeit, die durch Bewegungen des Oberkörpers geringfügig erweitert werden kann, vor allem alles, was sich auf der eigenen Arbeitsfläche befindet, den eigenen Körper, den Körper des Nachbarn und dessen Arbeitsmaterialien ein. Die unmittelbare Erreichbarkeit und Verfügbarkeit für die manuelle Nutzung lässt diesen Objekten einen besonderen Stellenwert zukommen: Stifte, Etuis, Hefte, Lehrbücher, Radiergummis oder etwa Büroklammern vermögen ein Eigenleben zu entwickeln, das allein auf ihrer Zugehörigkeit zum unmittelbar haptischen Raum beruht. Die Begrenztheit der Objekte innerhalb dieses Raums wird kompensiert durch die spielerische Vervielfältigung ihrer Nutzungsmöglichkeiten. Ein kleines Beispiel:

John stößt seinen Füller auf der Tischplatte so an, dass dieser ein Stück über den Tisch rutscht. So schiebt er den Stift hin und zurück. Dann versucht er die Hülle zu treffen, indem er den Füller in die Richtung der auf dem Tisch liegenden Hülle stößt. Er schafft es auch und sogar „ohne zu gucken“, wie er seinem Nachbarn berichtet.

Zu den unmittelbar erreichbaren Objekten gehören nicht nur Gegenstände der erwähnten Art, sondern auch der Körper des Sitznachbarn. Nachbarn sind einander nicht nur privilegiertes Publikum, sondern auch in ganz handgreiflicher Weise ausgesetzt. Nachbarschaft kann von wechselseitigem Respekt oder Freundschaft gekennzeichnet sein und auch liebevolle körperliche Bezugnahmen beinhalten, sie kann in einer asymmetrischen Beziehung jedoch auch mit einer besonderen Schutzlosigkeit einhergehen:

Tonne klopft einen Rhythmus auf Mirkos linkem Schenkel (ich dachte erst, er klopfe bei sich selbst!). „Hör auf Tonne!“, Mirko muss ihn zweimal ansprechen, bis Tonne mit den Worten Jetzt bin ich wieder warm“ von Mirko ablässt.

Nachbarschaft kann zur Qual und Demütigung werden. Der „Übergriffigkeit“ Tonnes1kann Mirko sich kaum entziehen: Er kann sich nicht aus Tonnes Reichweite entfernen, da er auf seinen Sitzplatz verpflichtet ist und vor der alltäglichen Möglichkeit der Drangsalierung wird ihn auch ein etwaiges Eingreifen der Lehrerin (oder des Ethnographen) nicht bewahren können.
Hier deutet sich eine Dimension der kaum zu überschätzenden Relevanz jener „Nachbarschaften“ an, die durch die Sitzordnung festgelegt werden: Die Struktur von Nachbarschaften ist bestimmt durch die Beziehung der Beteiligten zueinander, aber nicht zuletzt auch durch die räumliche Anordnung der Möbel.
So ist die haptische Erreichbarkeit verschiedenartig strukturiert, je nach dem, ob die Sitzordnung durch Tischgruppen oder Tischreihen bestimmt ist. Die folgende Abbildung mag dies veranschaulichen:

Abb. 3: Haptische Räume

1. Teil der Abbildung: Gruppentisch
Man hat „Zugriff“ jeweils auf den unmittelbaren Nachbarn bzw. auf die Nachbarin.
Auf dem Tisch sind zumindest ein Teil der Materialien auch der anderen Tischgruppenmitglieder erreichbar, zudem kann man sich (akustisch und visuell) mehreren
gleichzeitig zuwenden.

2. Teil der Abbildung: Tischreihe
In diesem Fall sind die räumlichen Verhältnisse asymmetrisch gestaltet: Während B gleichermaßen auf A und C zugreifen kann, ist A auf B angewiesen. B und C, die über die doppelten Optionen verfügen, sind allerdings auch doppeltem Risiko ausgesetzt.

Wir halten fest: Hinsichtlich der haptischen Räumlichkeit ist man (in der Regel) auf die vom eigenen Sitzplatz aus erreichbaren Objekte verwiesen. Demgegenüber gibt es Strategien, den eigenen haptischen Raum zumindest kurzfristig zu erweitern und. auszudehnen: Strategien, die entweder auf der Mobilisierung von Objekten oder der Mobilisierung des eigenen Körpers beruhen. Zu ersteren zählt etwa das schon erwähnte Briefchen-Schreiben, aber auch das Weitergeben aller Arten von Objekten, etwa Heften, Büchern, Stiften oder auch Süßigkeiten.2 Indem man etwas ,losschickt’ und zu einer ganz bestimmten Adresse im Klassenzimmer befördern lässt, hat man den eigenen haptischen Raum mit demjenigen der anderen Person verbunden.
Die strategische Ausweitung des haptischen Raumes durch die Mobilisierung von Objekten beruht auf der gezielten Kooperation einer ganzen Reihe von Beteiligten. Der Zettel muss ja ,von Hand zu Hand wandern’. Das Weitergeben von Dingen wird unseren Beobachtungen zufolge normalerweise nicht verweigert. Die Kooperation bei dieser Form der Erweiterung von Raum scheint zu den Selbstverständlichkeiten der Schülerkultur zu gehören, die man zu gegebener Zeit auch selbst in Anspruch nehmen möchte.
Die andere Strategie zur Ausweitung des haptischen Raums, die auf der Mo- bilisierung des eigenen Körpers beruht, ist noch komplizierter zu bewerkstelligen. Aufzustehen und den eigenen Platz zu verlassen kann nicht unbemerkt bleiben, es muss sich also im Rahmen des Offiziellen oder zumindest Halboffiziellen bewegen. Tatsächlich gibt es einige wenige legitime Möglichkeiten, sich während des Unterrichts von seinem Platz fort zu begeben. Diese variieren stark mit der Unterrichtsform und der Lehrperson, sie sind aber fast immer mit der Funktion des Holens oder Wegbringens von Gegenständen verbunden. Wenn sich dringend benötigte Dinge außerhalb des zugewiesenen haptischen Raums befinden, darf man unter Umständen diesen dorthin verlagern. Der ,Trick’ besteht nun darin, dass die im Holen begründete Mobilität zusätzliche Optionen eröffnet, die „am Weg“ liegen. Alles und alle, die zwischen dem eigenen Platz und etwa dem Regal liegen, aus dem etwas zu holen ist, sind kurzfristig erreichbar. Man kann einen (offiziell legitimierten) Gang durch das Klassenzimmer nutzen, um z.B. einen Brief persönlich zuzustellen aber auch etwa für einen kurzen Schlag auf den Rücken eines Mitschülers im Vorbeigehen oder einen raschen Diebstahl. So etwas ist kaum zu kontern, weil das Opfer sitzen bleiben muss, während man selbst sich schon wieder entfernt hat.

Tonne kommt an unserem Tisch vorbei: Er habe Jens sein Handy geklaut, sagt er lachend. Jens findet das nicht so lustig, er bekommt es von Tonne zurück, es scheint ein teures „Nokia“ Gerät zu sein. Auf seinem weiteren Rückweg zu seinem Platz bleibt Tonne hinter Sven stehen und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide lachen ausgiebig und breit. Auch als Tonne wieder auf seinem Platz sitzt, blickt Sven noch zu ihm hinüber und beide lachen geradezu demonstrativ weiter.

Die Kontaktmöglichkeiten werden strategisch in die zurückzulegenden Wege eingebaut: ein kleiner Umweg, der bei einem Freund vorbeiführt, ein kurzes
Verweilen an dessen Platz (wenige Sekunden!) das sind beträchtliche Erweiterungen des eigenen Handlungsraumes, die von Tonne in diesem Beispiel ostentativ gefeiert werden.
Während das Holen benötigter Gegenstände also die geläufige Legitimation für das Verlassen des Platzes darstellt, dient das Entfernen missliebiger Objekte dem gleichen Zweck, allerdings seltener es muss einsichtig sein, dass dies keinen Aufschub duldet.
An Jens’ Brotdose klebt ein Kaugummi. Handelt es sich um die heimtückische Tat einer Mitschülerin? Von hier aus habe ich das nicht mitbekommen. Jedenfalls geht Jens laut schimpfend zum Papierkorb, um seine Brotdose zu säubern. Das gelingt aber nicht, er beschließt wohl, ein Waschbecken aufzusuchen, jedenfalls verlässt er den Klassenraum,. Die Lehrerin lässt ihn gewähren, es ist auch plausibel, dass Jens das Kaugummi los werden will. Dieses scheint jedoch am Papierkorb festgeklebt, jedenfalls zieht Jens mit der Brotdose einen langen Kaugummifaden durch die offene Klassenraumtür hinter sich her. Er hängt gewissermaßen noch fest am Papierkorb – das sieht schon sehr grotesk aus, ich muss lachen.
Jens gelingt es, seine Notlage so eindringlich in Szene zu setzen, dass sie sogar das Verlassen des Klassenzimmers zu legitimieren vermag den größten denkbaren Mobilitätsgewinn in der Unterrichtssituation! Dass Jens dann doch durch die Tücke des Objekts an das Klassenzimmer gebunden bleibt, macht die Komik der Situation aus.

Fußnoten

(1) „Tonne“ wird auch im Feld immer mit dem Spitznamen genannt. Das Pseudonym „Tonne“ hat er sich selbst ausgedacht.

(2) Zum Austausch von Naschwerk in der Schulklasse vgl. Weißköppel (2001).

Literatur

Weißköppel, C.: Ausländer und Kartoffeldeutsche. Identitätsperfomanz im Alltag einer ethnisch gemischten Realschulklasse. Weinheim/München 2001

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf

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