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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

I. Unterrichtsfach und Geschlechtshabitus

Der Erwerb von geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen findet zu weiten Teilen über „Sozialisationsagenten“ (Alfermann 1996: 24) statt, zu denen die Lehrpersonen zu zählen sind. Diese sind zugleich Vertreter und Vertreterinnen ihrer Geschlechtergruppe, aber auch Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Unterrichtsfächer, somit kommt ihnen als Sozialisationsinstanz in der Schule in zweierlei Hinsicht eine wichtige Funktion zu.
Ihren Geschlechterhabitus vermitteln die Lehrkräfte in tagtäglichen Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern, ebenso wie ihre Erwartungen an den Geschlechterhabitus anderer. Dieser ist durch seine doxische Anlage quasi ‚natürlich’ zugeschrieben und wird in der Regel nicht reflektiert, lässt sich jedoch auch nicht ausblenden.
Im Rahmen der Institution Schule reicht ein weiteres Merkmal recht nahe an die Omnipräsenz des Geschlechterhabitus heran: Lehrpersonen sind in der Schule immer auch Vertreterinnen und Vertreter ihres Unterrichtsfaches. Diese fachkulturelle Zugehörigkeit trägt zwar ebenso doxische Züge, sie ist jedoch deutlich stärker reflektiert. Dies mag vor allem daran liegen, dass die fachkulturelle Zugehörigkeit angeeignet werden muss. Es gibt kaum schulische Kontexte und Begegnungen zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern bzw. auch Kolleginnen und Kollegen, bei denen die Fachzugehörigkeit der Lehrperson ausgeblendet wäre, beispielhaft mag die Fotowand des Kollegiums im Edith-Benderoth-Gymnasium stehen: dort besteht die Beschriftung der Fotos aus vier Informationen: Geschlecht (Herr oder Frau), Nachname, Namenskürzel und Unterrichtsfächer. Auch auf Adresslisten von Kollegien findet sich neben Name und Adresse in der Regel die Fächerkombination der Lehrkraft.
Den Lehrkräften kommt als „carrying agents“ (Münch/Smelser 1992: 147) bei der Sozialisation eine zentrale Funktion zu. Als „Träger und Trägerinnen“ beider Kulturen, der Geschlechter- und der Fachkulturen, geben die Lehrkräfte den Schülern und Schülerinnen sowohl für die Geschlechterrolle als auch für die Fachkultur des eigenen Unterrichtsfaches ein Orientierungssystem vor, welches für diese sinnstiftend ist und ihnen sagt, wie sie etwas zu sehen, zu interpretieren und wie sie sich zu verhalten haben. Beide Bereiche werden im Folgenden für das Unterrichtsfach Physik und anschließend für das Fach Deutsch näher betrachtet. Hierfür werden zunächst die von den interviewten Lehrkräften angeführten Merkmale zu Fachkonstruktionen wie auch zu Geschlechterkonstruktionen der Lehrkräfte dargestellt und anhand von Interviewpassagen illustriert. Abschließend werden in einer vergleichenden Zusammenschau auch mit den Positionen der Lernenden die Differenzen und möglichen Übereinstimmungen beider Fächer aufgezeigt.

II. Fach und Geschlecht: Konstruktionen der Deutschlehrkräfte

Das fachkulturelle Verständnis der Deutschlehrkräfte spiegelt deutlich das zentrale fachkulturelle Ziel einer Entwicklung der Persönlichkeit der Lernenden. Eine Lehrerin nennt explizit als Ziel des Deutschunterrichts die „Erziehung zur Mündigkeit“ (LId0210k), die jeweiligen – auch außerschulischen – Lebensumstände und Lebenswelten der Lernenden werden hierbei mitgedacht:

Das ist – letztlich ist das typisch für den Deutschunterricht und, äh, in jeder Mittelstufenklasse gibt es ja solche Entwicklungen, solche Cliquenbildungen, solche Individualisierungen und auch solche Probleme der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Das bringt einfach die Pubertät mit sich und ich denke das Fach Deutsch ist doch sehr aufgerufen daran mit zu arbeiten. (LId0210k)

Die Lehrkräfte sehen ihre Rolle als bewusst auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler Einfluss nehmend. Mit diesen Zielsetzungen eng verknüpft sind die Inhalte und Vermittlungsformen des Deutschunterrichts. So äußert sich eine Lehrerin, nach ihrem Verständnis von Deutschfachkultur befragt, wie folgt:

Deutsch [hat] für mich auch die Dimension […] eines gesellschaftswissenschaftlichen Faches und auch eines philosophischen Faches, ethisch, religiös oder wie auch immer man das nennen kann. Dass ich von Schülern wünsche, dass sie sich als Individuum mit einem Text beschäftigen, auseinandersetzen können. Dass sie sich zu dem Text äußern können aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, ihrer eigenen Biografie, und dass sie das kontrastieren können mit anderen Entwürfen aus dir Klasse. […] Solange etwas kompatibel ist mit dem Text, […] ist an und für sich jede Interpretation ja zulässig. Ich kann ja ,nen Schiller so oder so oder so interpretieren.
Je nachdem in welcher Zeit ich lebe, ob ich Mann oder Frau bin oder welche politische Meinung ich habe. […] Und der Deutschunterricht gibt die Möglichkeit in irgendeiner Form sich mit persönlich auseinander zu setzen mit etwas. Und nicht einfach irgendeine Formel oder wie auch immer etwas ausrechnen zu können oder bestimmte Vokabeln wissen zu müssen, um etwas ausdrücken zu können. (LId0105k)

Diese Deutschlehrerin stellt klar heraus, dass ihrer Ansicht nach im Deutschunterricht Individuen, deren Handlungen und Gefühle sowie ihre Positionierung zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt eine zentrale Rolle spielen und spielen sollten. Die Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten, wobei sie hier ausschließlich Textarbeit nennt, wird in direktem Zusammenhang mit der Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit gesehen. Die Lehrerin betont, dass den Schülern und Schülerinnen bei der Interpretation der Texte ein breiter Spielraum zur Verfügung steht (es „ist an und für sich jede Interpretation ja zulässig“). Auch die geforderten individuellen Textinterpretationen müssen jedoch noch „mit dem Text in irgendeiner Form kompatibel sein“ sein, wobei sie nicht näher definiert, was dieses beinhaltet.
Indem sie jedoch die Deutschfachkultur von anderen Fachkulturen abgrenzt, in denen die Lernenden „irgendeine Formel“ oder „bestimmte Vokabeln wissen […] müssen, um etwas ausdrücken zu können“, nimmt sie für den Deutschunterricht in Anspruch, dass diese Beschränktheit auf Formalitäten hier nicht gelten würde. Etwas später benennt die Lehrerin selbst weitere mögliche Themenbereiche des Deutschunterrichts und begründet, wieso sie diese aufgrund ihrer thematischen Prioritätensetzung (individuelle Textinterpretationen) bewusst in den Hintergrund stellt:

Also vielleicht vernachlässige ich ein bisschen das Formale: Grammatik und Satzbau usw. Und ich vernachlässige auch wenn ich jetzt Gedichte mache, sozusagen Reim, Rhythmus, Reim usw. Ich spreche lieber über die Gedichte und nicht also über diese formalen Dinge […]. Und da habe ich vielleicht eine kleine Schwäche, weil also für mich das andere auch wirklich sehr wichtig ist. Geht mir eigentlich auch um Inhalte. Geht mir darum, dass Schüler sich mit Literatur auseinandersetzen. Und zwar, eben auch selbständig werden. Darauf kommt es mir an, selbständig zu werden. (ebd.)

Die Lehrerin räumt die Vernachlässigung der „formalen“ Inhalte von Deutschunterricht als „kleine Schwäche“ ein. Hiermit deutet sie an, dass diese Bereiche möglicherweise für andere Personen (auch Lernende?) von höherem Interesse und Bedeutung sein könnten, sie aber ihre Meinung über die Wichtigkeit der Unterrichtsinhalte als Maßstab anlegt. Die Auseinandersetzung mit Literatur benennt sie als wichtigstes Medium zum Erlangen des für sie zentralen Erziehungsziels: der Erziehung der Schülerinnen und Schüler zur Selbständigkeit. Die Vermittlung von „Inhalten“ wird von ihr als hierfür wichtig erachtet, wobei sie „Inhalte“ ausschließlich auf den Bereich „Literatur“ bezieht. Die von ihr als „formal“ bezeichneten Themenbereiche schließt sie implizit als Nicht-Inhalte aus und wertet sie somit, wie schon vorher bei der Bezugnahme auf vorgegebene Formeln und Inhalte in anderen Fachkulturen, ab.
Auch eine andere Lehrerin schätzt den Literaturunterricht als den zentralen Unterrichtsgegenstand ein, über den die Lehrkräfte offenbar am ehesten das fachliche Ziel der Persönlichkeitsentwicklung erreichen können. Sie schätzt gerade auch die Inhalte des Literaturunterrichts, welche die Lernenden nicht selber haben bestimmen können:

Und aber auch immer wieder durch die Distanz zu Literatur, die man sich nicht selber ausgesucht hat oder zumindest – gut, die Schülerinnen und Schüler haben ein Mitspracherecht, aber letztlich gibt es halt auch einen Lehrplan. Aber das kann dann auch wieder wohltuend sein, da auf Distanz zu gehen und dann mal wieder etwas aus einer Lebensschicht zu erfahren, die man nicht unbedingt teilt. Das kann auch entlastend sein, eben nicht über etwas Eigenes zu sprechen. Und da die richtige Balance zu finden, das ist natürlich ein Kunststück. (LId0210k)

Die enge Verbindung der schulischen, über das Fach Deutsch durchaus hinausgehenden Themenbereiche, bis hin zu persönlichen außerschulischen Themen, welche aufgegriffen werden sollten, unterstützt sie dann auch im Deutschunterricht folgendermaßen

Aber ich bin auch dann auf alles eingegangen, so also auch – Mareike konnte ihr, durfte erzählen von ihrem Engagement und ähm, auch als ich erfuhr, dass es da eine Mädchenband gibt, habe ich, bin ich drauf eingegangen oder auch Jörgs Aktivitäten im Theater. Ich habe das alles sehr begrüßt und gefördert und auch gebeten oder auch Lindas Tanztheater, ähm auch versucht zu veröffentlichen zu zeigen, welche Gaben da auch in der Klasse vorhanden sind. Und dass eben auch nicht nur Schule für die meisten im Vordergrund steht, sondern eben auch anderes und habe sie oft Stellung nehmen zu lassen, äh Stellung nehmen lassen zu Fragen der Jugendkultur, des Alltags und der Politik, so dass sie oft auch sich einbringen konnten, nicht. Und auch wenn wir Literatur behandelt haben, die nichts mit der aktuellen Gegenwart zu tun haben, z. B. den Schimmelreiter von Theodor Storni, dann habe ich sie Kleingruppen bilden lassen und sie konnten sich Einzelthemen aussuchen und in Kleingruppen etwas erarbeiten und mit Methodenvielfalt. So dass sie dann auch ganz individuell gestalten konnten. (ebd.)

Die Auseinandersetzung mit der eigenen, aber gerade auch mit nicht vertrauten Lebenswelten steht entsprechend im Mittelpunkt des Unterrichts. Wer möchte, darf sich jedoch auch auf einer persönlichen Ebene deutlich in ihren Unterricht einbringen. Die Lehrerin betont, dass sie entsprechend auch die außerschulischen Interessens- und Kompetenzbereiche der Jugendlichen mit in den Fachunterricht einbezieht, um den Schülerinnen und Schülern eine ,Bühne’ für ihre Persönlichkeitsentwicklung zugeben. Eben diese individuelle Wahl der Interessenschwerpunkte spiegelt sich dann auch im Literaturunterricht wieder.
Die Zugänge zu den Fachthemen werden also möglichst subjektiv gestaltet. Dass die Lehrkräfte hierbei von sehr unterschiedlichen Interessenslagen für die Mädchen und die Jungen ausgehen, beschreibt eine Lehrerin in folgendem Interviewausschnitt:

Ich habe den Eindruck, also Mädchen interessieren sich ja stärker für Literatur. Sie lesen ja auch mehr als Jungen. Also wenn man jetzt fragt, wer hat in der letzten Zeit ein Buch gelesen, dann können ihnen die Mädchen mehr aufzählen. Also sie sind von sich aus schon mehr an Literatur interessiert. (LId0202k)

Eine Kollegin stützt diese Einschätzung, sie sieht die Interessen der Jungen eher in außerschulischen Bereichen:

Ja, es gibt in der Klasse also zwei, drei Jungen, die sehr gerne und sehr viel lesen. Aber die meisten lesen nicht gerne in der Altersstufe. Die verbringen dann lieber ihre Freizeit am Computer oder beim Sport oder eben in der Hiphop-Kultur. (LId0210k)

Die durch die Lehrkräfte zugeschriebenen unterschiedlichen Interessenslagen beider Geschlechtergruppen spiegeln sich auch in der Einschätzung der generellen Fähigkeiten von Mädchen und Jungen:

Mädchen [liegt es mehr] sich dafür zu interessieren, sich irgend etwas auszudenken, über irgend etwas nachzudenken und Jungens [wollen] vielleicht irgendwie eher mit etwas fertig sein. So wie dieses Ja – Nein und richtig – falsch und so wie Mathe. Und irgendwie zielgerichteter und zielorientierter. (Lld0202k)

Eine andere Lehrkraft teilt ihre Ansichten über die Vorgehensweisen beider Geschlechter und erläutert die Unterschiede an einem Beispiel:

Das käme den Mädchen eher entgegen, irgendwie die Bilder dann zu entwickeln. Ein Junge würde eher die Frage beantworten, was ist ein Alchimist. Ein Alchimist ist …, dann hat er in irgendeinem Lexikon nachgeguckt: das und das, Punkt, fertig. (LId0105k)

In diesen Ausführungen werden beiden Geschlechtergruppen eigene Interessen und Fähigkeiten zugeordnet: Mädchen liegt die assoziative Auseinandersetzung mit Literatur, sie interessieren sich quasi schon naturgemäß, jedenfalls aber von sich aus dafür und lassen sich dabei Zeit, denken über Inhalte nach und entwickeln Bilder dazu. Jungen hingegen wollen schnelle Fakten und eindeutige Zuordnungen und setzen sich dafür ein.
Die unterschiedlichen Interessenslagen beider Geschlechtergruppen finden auch in der Wahl der Inhalte Berücksichtigung. Folgender längerer Interviewausschnitt legt dieses dar:

Auch die Ergebnisse dieser Umfragen und Forschungsprojekte, dass eben die Jungen Deutsch als sehr schwieriges Fach betrachten und auch nicht gerade als Lieblingsfach, sondern als unbeliebtes Fach, das hat mich auch sehr nachdenklich gemacht. Und bei der Auswahl meiner Stoffe beziehe ich diesen Blickwinkel durchaus mit ein. […] Ja, Jungen spricht auf jeden Fall die männliche Perspektive an, ich finde das auch etwas ungerecht, dass seit Jahrhunderten eigentlich immer die Mädchen sich automatisch in jede Männerperspektive hineinversetzen können und äh wenig weibliche Heldinnen haben, wenig Geschichten aus weiblicher Sicht in der Ich- Perspektive. Aber den Mädchen fällt das ganz leicht, sich in Jungen- oder Männerperspektiven hineinzuversetzen. Und die Jungen sind doch sehr zurückhaltend und kritisch, wenn es mal eine weibliche Ich-Perspektive gibt. Das finde ich sehr schade und ich habe da auch eine Zeitlang versucht gegenzusteuern und ihnen dann auch immer auch z. B. Erzählungen von Christa Wolf präsentiert. Aber das verstehen die Jungen nicht und ich weiß auch nicht, wie ich das Dilemma lösen kann. Ich finde die Jungen sollten es auch lernen, sich in weibliche Perspektiven hineinzuversetzen. Aber die schalten da sehr schnell ab und mögen gerne lieber Männerperspektiven. Das sehe ich nach wie vor als Problem, ähm, aber in der Pubertät, in diesen schwierigen Jahren, muss ich das nicht auf Biegen und Brechen machen. Ich kann, ich werde da also Romane dann vor allem aus männlicher Sicht behandeln. Also Schimmelreiter kommt z. B. sehr gut an. Aber schon so ein Stück von Dürrenmatt „Besuch der alten Dame“ wo es eben eine weibliche Sicht gibt und eine weibliche Hauptfigur, lehnen viele Jungen ab. Damit können die in der Pubertätszeit gar nicht viel anfangen. […] Obwohl das ein witziges Stück ist, was viel Aktion beinhaltet und was eigentlich auch gut verständlich ist für eine Mittelstufenklasse, mögen das viele Jungen nicht. […] Während sie den Schimmelreiter, so was mögen sie eigentlich gerne. Wo es auch um Heldentaten geht, um action und ja, es kommt da auch sehr stark auf die Balance an und auf das Fingerspitzengefühl. (Nachfrage K.W.: Und bei so aktueller Literatur wie jetzt „Crazy“ z. B., wenn das jetzt die Perspektive eines Mädchens gewesen wäre? Meinen Sie, dass da mehr die Jugendkultur im Vordergrund gestanden hätte oder war das dann auch wirklich dieser Junge?) Das war der Junge, ja. Bei einem Mädchen, also da hätten sich glaube ich die Jungen sogar geweigert das zu lesen. Jugendbücher aus der Sicht eines Mädchens finden sie ganz schrecklich. Und (lacht) aber die Mädchen konnten sich nach wie vor gut darauf einlassen, obwohl in dem Buch so gut wie kein Mädchen vorkommt oder die Mädchen kommen im Grunde nur als Objekte, Objekte auch der Begierde und der ersten sexuellen Erfahrungen vor und nicht als echte Partnerinnen, nicht als echte Freundinnen und, äh gut, wir haben das kritisch auch angemerkt, dennoch haben die Mädchen das Buch gerne gelesen, genauso gerne wie die Jungen. (LId0210k)

Aus der als geschlechtsspezifisch unterschiedlich eingeschätzten Interessenslage der Lernenden – die Jungen schätzen Deutsch als „schwierig“ ein und bewerten es als „unbeliebtes Fach“ – zieht die Lehrerin die Konsequenz, dass die Unterrichtsinhalte allein und eindeutig an der vermuteten Interessenslage der Jungen ausgerichtet werden. Dies gilt uneingeschränkt zumindest für die Zeit der Pubertät. Die Vermutung der Lehrerin reicht hierbei von dem Problem, dass die Jungen sich „nicht interessieren“, Texte „nicht verstehen“ bzw. damit „nichts anfangen“ können, sich „nicht auf den Text einlassen“, bis hin dazu, dass sie sich „weigern, dass Buch zu lesen“. Eine Lösung bietet ihrer Ansicht nach nur das Ausrichten des Lehrstoffs an männlichen Protagonisten, Büchern mit ,action’ und den Identifikationsmöglichkeiten, welche die Jungen brauchen.
Die Mädchen finden aufgrund der Zuschreibung der Interessen und Kompetenzen keine Berücksichtigung ihrer eigenen Schwerpunkte, statt dessen betont die Lehrkraft mehrfach, dass die Mädchen kein Problem mit der Anpassung an die auf die männlichen Klassenkameraden ausgerichteten Bedürfnisse hätten, sondern es fällt „ihnen ganz leicht“, sie „können sich gut darauf ein lassen“, sich „automatisch in jede Männerperspektive hineinversetzen“ und „lesen das Buch genauso gerne wie die Jungen“.
Bemerkenswert ist das gleichzeitige Bewusstsein der Lehrerin für die Dilemmasituation, in welche sie sowohl die Jungen als auch die Mädchen bringt und welche die Lehrerin durchaus reflektiert: Für die Mädchen empfindet sie selber diese Praktik als „ungerecht“, zudem empfindet sie selber die Rolle der Mädchen und Frauen zumindest in „Crazy“ als so problematisch, dass sie kritisch kommentiert werden sollte und wurde. Die Position, die dieselbe Lehrerin etwas vorher konstatiert und nach welcher die Auseinandersetzung mit Literatur, „die man sich nicht selber ausgesucht hat“ (nach der die Lernenden „dann mal wieder etwas aus einer Lebensschicht [zu] erfahren, die man nicht unbedingt teilt“ (LId0210k), bereichernd ist für den Lernprozess und die Entwicklung der Lernenden, gilt also offenbar nicht gleichermaßen für die Jungen und die Mädchen, da von den Jungen diese Offenheit für das Fach Deutsch gar nicht erst erwartet wird.
Insgesamt zeigt sich an den Aussagen der Deutschlehrkräfte, dass zwei Grundsätze gegeneinander stehen: auf der einen Seite der subjektive Themenzugang und die Ausbildung der individuellen Persönlichkeit als generelles Ziel des Deutschunterrichts und auf der anderen Seite die für beide Geschlechtergruppen unterschiedlichen zugeschriebenen Interessen und Kompetenzen. Durch die Verallgemeinerung, welche die Lernenden in erster Linie als Angehörige einer Geschlechtergruppe fasst, wird in der konkreten Unterrichtspraxis die Möglichkeit eines von der Geschlechterzuschreibung absehenden Zugangs fast unmöglich gemacht.

Mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages
http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-688-5/schulische-fachkulturen-und-geschlecht

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