AutorIn:
Mohn, Bina Elisabeth
(Kamera-Ethnographie)
Prof. Wiesemann, Jutta
(Co-Autorin und Redaktion)
Jürgen Streeck
(Mitarbeit)
Heike Schreyer
(Mitarbeit)
Datum: 26.07.2010
Handwerk des Lernens
2.2. Fotos, Gegenverkehr im Kreis
Mikroanalyse der Interaktion (Jürgen Streeck)
Wir können zunächst beobachten, dass der Objekttransfer – wie der Turntransfer – scheitern kann. So wie es einerseits zum overlapping talk kommen kann, kann andererseits das Transferobjekt fehlplaziert werden oder auf eine schon volle Hand stoßen. Die Fehlleistungen, die das System zulässt bzw. produziert, sind dabei für den Turn-Transfer und den Objekt-Transfer nicht analog: beide unterliegen unterschiedlichen strukturellen Erfordernissen.
Man könnte eine Parallele darin sehen, dass es für beide Systeme Methoden gibt, Fehlleistungen zu korrigieren oder zu reparieren. Außerdem können wir beobachten, dass das System des Objekt-Transfers manipuliert werden kann, denn in diesen Manipulationen manifestiert sich die soziale Kreativität der Kinder. Die Kinder zeigen in ihren Handlungen, dass ihnen die normative Ordnung geläufig ist, dass ihre eigene, autochthone Organisation aber anders beschaffen ist. Improvisierend kann neue Ordnung geschaffen werden, wenn auch nur für eine Sequenz, wenn z. B. B die Modulation übernimmt oder steigert, die A vorgegeben hat.
Ethnographische Lernforschung (Jutta Wiesemann)
In diesem Kreis wird nicht das Wort weitergereicht, sondern Fotos der Klassenfahrt. Die Situation erfordert von den Kindern vor allem Koordination: nehmen und geben, zeigen und verteilen, stapeln und festhalten, blättern und weiter reichen, nach rechts und links und überkreuz. Die vielschichtige Herausforderung an ein Nacheinander im Kreis wird in dieser Szene zum Krisenexperiment, so könnte es scheinen, provoziert doch die Lehrerin durch gleichzeitiges Fotoverteilen in zwei Richtungen die Eskalation in der Mitte. Die Kinder nehmen die Herausforderung an und zeigen mit verblüffender Kunstfertigkeit, dass zwischen einem auf die Spitze Treiben des Durcheinanders bei gleichzeitigem wieder Ordnen in ein Nacheinander der kreative Akt liegt. Die situativ herausgeforderte Kreativität der Kinder macht diese Szene zu einem Lehrstück über die Kunst der Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung. Theoretisch könnte das Verfahren ja nur gut gehen, wenn alle Kinder wie eine Produktionslinie ferngesteuert im gleichen Takt arbeiteten: Bild aufnehmen, anschauen, weitergeben. Doch stattdessen: auflaufen, ansammeln, Stau, noch verschärft durch die beidseitige Weitergabe. Man könnte die Situation wie eine Metapher des nicht-synchronisierten Unterrichts lesen. Wo eigenes Tempo zugelassen wird, müssen einzelne Lösungen für Koordination und Abstimmung gefunden werden. Was tritt zutage? Die Eigen-Artigkeit der Einzelnen, ihre unterschiedlichen Beziehungsmuster untereinander, individuelle Umgangsweisen, lokale Lösungen.
Angewandte Pädagogik (Heike Schreyer (Lehrerin der Klasse))
Hier habe ich ein schönes Chaos in meiner Klasse verursacht mit meiner Idee, die Fotos in zwei Richtungen herumzugeben! Erst wollte ich ordnend eingreifen, aber ich habe es dann gelassen, als ich merkte, dass die Kinder zwar mit Geschrei aber bester Stimmung mit vereinten Kräften und ohne große Streitereien die Bilderflut kreuz und quer bewältigten.
Mikroanalyse der Interaktion (Jürgen Streeck)
System overload! Die Lehrerin schickt die Ausflugsfotos nach links und rechts gleichzeitig los. Durch die Vielzahl der Fotos und ständige unvorhergesehene Kollisionen wird das System überladen: Dinge und Hände scheinen nicht mehr zueinander zu passen. Ankünfte werden zu Karambolagen, mehr Fotos landen in Händen, als gehalten werden können. Mit dem Problem des Festhaltens beschäftigt, sind die Hände fehl angepasst, das Weiterreichen und Empfangen der Fotos in kürzesten Intervallen gleichzeitig zu managen und nebenbei auch noch die Statik labiler Fotostapel auf dem Oberschenkel zu sichern. Es ist sehr laut im Klassenzimmer – Kinder schreien: Nimm doch, nimms doch hier, beeil dich mal, na nimm mal. Doch es gibt hilfreiche Abstützungen im Durcheinander: Kollaboration.
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