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Falldarstellung
Einführung durch den Autor
Über die Professionalität von Lehrern und ihren subjektiven Reflex, ihre Befindlichkeit im Beruf wird viel geschrieben – so auch in diesem Heft. In der öffentlichen Debatte überwiegt schon viele Jahre die Klage über einen weinerlichen, nicht gerade selbstkritischen Berufsstand. Die Lehrer bekommen Prügel von so vielen Seiten, dass man Mitleid mit ihnen haben muss. Sie unterrichten schlecht, sie verweigern sich der Erziehungsaufgabe, sie sind modernisierungsfeindlich, kurz: Sie unterbieten, wo immer man hinschaut, die Standards ihrer Profession. Überall dort, wo diese Standards heute von berufener Seite ausgelegt werden, zeichnet sich mit der langen Liste von Postulaten an das Können des Lehrers vor allem eine gesteigert fortgesetzte Überforderung ab.
Vor allem in den Organen ihrer Berufsvertretungen reagieren Lehrer auf diese Kritik mit Versuchen der Selbstverständigung und Rechtfertigung. Die haben aber keine Chance, Gehör zu finden, solange Lehrer vor allem zu Sündenböcken gemacht werden. Es ist für sie nur ein geringer Trost, dass es nicht nur ihnen so geht, vielmehr die meisten Professionen unter den wohlfeil gewordenen Generalverdacht der Unfähigkeit gestellt werden: Ärzte sind raffgierig, Juristen können keine sachgerechten Schriftsätze mehr aufsetzen, Politiker sind sowieso korrupt, Manager drucken sich ihr Geld selbst.
Wer erkunden will, wie es mit der Befindlichkeit von Lehrern bestellt ist, steht damit vor dem Problem, wie zu vermeiden ist, dass man in vermintem Gelände anderes denn Abwehr erlebt. Auch der Beobachter kann sich den Lehrenden angesichts der omnipräsenten Kritik nur noch schwer neutral zuwenden. Erwartet wird vom Beobachter zustimmendes Verständnis oder ablehnende Kritik.
Vor diesem Hintergrund könnte es lohnen, etwas über das Selbstverständnis der Profession der Lehrer und die sich in ihm spiegelnden objektiven Problemlagen durch eine – im Gegensatz zu Artikeln und Leserbriefen – unübliche Form der Selbstdarstellung zu erfahren, durch ein Bild.
Eine Studentin besuchte ihre alte Schule, nahm mit Lehrern Kontakt auf und lud sie ein, mit ihr gemeinsam nach einer Ausdrucksgestalt für ein Foto zu suchen, die für ihr Selbstverständnis als Lehrer exemplarisch stehen könnte. Drei Gymnasiallehrer waren bereit, sich auf das Arrangement einzulassen. Es wurden unterschiedlich viele Situationen ausprobiert und Bilder von ihnen gemacht. Die drei im Folgenden analysierten Fotos wurden von den Lehrern als der beste Ausdruck ihres Selbst als Lehrer ausgesucht. Zwei von ihnen wollten, dass sie gezeigt würden, wie sie im Lehrerzimmer arbeiten, ein dritter wählte eine besondere Inszenierung.
Während das erste Bild, das von Herrn K. (Selbstdarstellung Herr K.), den Betrachter bald auf die Fährte führt, dass es sich um ein Lehrerarbeitszimmer handeln muss, ist es fast unmöglich den Raum, in dem der zweite Lehrer, Herr H., sich fotografieren lassen wollte, als ein solches zu identifizieren.
Weil wir mit der Wahl des Ortes durch die Dargestellten davon auszugehen haben, dass auch die Räume Teil der gewünschten Selbstdarstellung sind, soll die Lektüre der ersten beiden Bilder mit der Untersuchung der Räumlichkeit begonnen werden.
Foto: Herr H.
Interpretation
Während Ks Selbstdarstellung im Kern in der Vermittlung von Ordnung im Chaos besteht, ist von einer solchen auf den ersten Blick bei der Selbstdarstellung von H. nichts zu merken. Es ist fast unmöglich, auf dem Bild etwas zu finden, was man mit dem Lehrberuf unmittelbar in Verbindung bringen könnte. Der beengt wirkende Raum könnte als Aufenthalts- und Pausenraum etwa für Hausmeister, Techniker etc. durchgehen, nicht aber als Teil eines Lehrerzimmers. In einen Raum wie den abgebildeten kommen Menschen, um sich zwischendurch mit einem Kaffee zu versorgen, bevor sie wieder zu ihrer Inspektionstätigkeit aufbrechen. In diesem Rückzugsraum können sie eine Zigarettenpause einlegen.
Die Lehrergruppe, die diesen Raum benutzt, hat sich um die für ihre Bedürfnisse notwendige Infrastruktur gekümmert: Es ist eine große Kaffeemaschine angeschafft worden. Aber daraus resultiert kein Gruppenzwang. Zumindest zwei Besucher pflegen andere Gewohnheiten. Sie haben neben die große Maschine eine kleine für Espresso bzw. eine Thermoskanne für mitgebrachte Getränke gestellt. Ein Kollege hat wohl eine gebrauchte Gastronomie-Schnellspülmaschine aufgetan, die auf einer Tischplatte ohne Verkleidung aufgestellt worden ist. Daneben befindet sich ein Drahtgestell, das das Geschirr aufnehmen kann, bevor es dann in die Maschine gesteckt wird. Sollte man manuell nachhelfen müssen, hängt griffbereit und weit entfernt von der Maschine eine Spülbürste an der Wand. Dort, wo die Spülmaschine in einer Küche erwartet werden könnte, befindet sich ein Schrankgestell mit diversen Tassen und Gläsern. Jede und jedes ist für sich ein Unikat, genau so wie die Lehrer, die Nutzer des Raumes, als Individualitäten vorgestellt werden können. Für Spezialbedürfnisse ist auf einem Schränkchen Platz. Hier befinden sich wie auf einem Stillleben diverse Mittel für die Getränke: Süßstoff, Crema etc.
Diese Anordnung der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung benötigt keine schmückende Ablenkung durch Bilder, Vorhänge, Urlaubspostkarten, Wanderpokale. Alles in diesem Raum ist funktional auf die Pausenaktivitäten ausgerichtet. Auf dem Tisch steht ein großer Aschenbecher. Mit ihm wird ausgedrückt, dass hier nicht einzelne ihrer, die anderen bedrängenden und deswegen argwöhnisch beäugten Leidenschaft frönen, sondern ein Kollektiv. H. wählt zu seiner Selbstdarstellung den Raum aus, in dem geraucht wird.
Die Lehrer, die Raucher sind, haben sich also ihr eigenes Refugium geschaffen. Sie bilden nicht primär als Lehrer eine Gemeinschaft, sondern werden dazu als Raucher. In diesem Sinne verbindet sie mehr als die isolierten Figuren im Raum von K.
Rauchen ist als Sucht erkannt, und nicht wenig wird gegenwärtig unternommen, um die Jugend von diesem Laster zu schützen. (In Hessens Schulen bspw. ist das Rauchen vollständig verboten worden.) Insofern ist es pikant, wenn bekennende Abhängige für sich einen Raucherraum begründen, statt als bekehrte Abstinenzler zu einem Vorbild für die Jugend zu werden.
H. scheint die gegenwärtige Moralisierung seines Vergnügens als Sucht nicht im geringsten anzufechten. Er raucht, während er sich darstellt, und er tut das, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Er raucht auf dem Bild nicht süchtig hektisch, sondern bewusst und intensiv entspannt, wie nebenbei.
Auf dem Tisch liegt neben der immer bereiten Zigarettenschachtel eine ausgebreitete Zeitung, so dass der Eindruck entsteht, dass H. sich durch die Lektüre der Tageszeitung entspannt hat. Aufgeschlagen ist die Inseratenseite, vielleicht suchte er gerade nach irgendeinem Objekt. Schaut man genauer hin, so sieht man, dass über der Zeitung andere Papiere liegen. Es ist ein Stapel von losen Blättern und Bögen. Möglicherweise sind es Arbeiten von Schülern, die der Lehrer in der Pause oder Freistunde zwischen zwei Unterrichtsstunden durchsieht. Die Routine, die er dabei ausstrahlt, lässt vermuten, dass es sich um Arbeiten handelt, die man eben so nebenbei durchsehen kann. Das spräche etwa für Mathematik. Hier – anders als beim Politikunterricht von K. – geht es immer wieder um die gleichen Inhalte und Aufgaben. Vielleicht legt H. gerade die Zigarette in die Kerbe des Aschenbechers, weil er etwas in die Schülerarbeit eintragen will. Wir können nicht sicher erkennen, ob er mit den Augen die Zigarette fixiert oder auf das Heft schaut.
Ebenfalls in Griffweite befinden sich ein Becher für Kaffee, eine Colaflasche und eine Flasche mit Apfelsaft. H. hat alles um sich versammelt, was er benötigt, um sich eine angenehme Pause zu machen. Während dieser ist er sich selbst genug, er benötigt nicht das Gespräch mit den Kollegen. Gleichzeitig will er zeigen, dass er für die Schule arbeitet. Der Hinweis auf die Freizeit liegt unter dem für die Arbeit.
H. hat wie K. eine Mischung aus gegensätzlichen habituellen Elementen in sein Auftreten integriert. Ruhig und konzentriert wirkt er bei seiner Korrekturtätigkeit. Er sitzt bequem und gibt sich locker. Von seiner Tätigkeit geht weder Aufregung (über das Versagen der Schüler) oder Anspannung (nichts übersehen zu dürfen) aus: Korrekturen wie diese macht er nebenbei (auch in der Schule) dank der in langen Jahren erworbenen Routine.
H. trägt eine verwaschene Bluejeans und ein kurzärmeliges Freizeithemd, das er recht weit geöffnet hat. Seine langen, noch vollen schwarzen Haare hat er zu einem Zopf zusammengebunden. Auch er ist nicht frisch rasiert. Er trägt eine getönte Brille, die als Pilotenbrille an die Mode der 70er erinnert. Mit diesen Dingen präsentiert er sich als Alt-Hippie und Nonkonformist, der etwas in die Jahre gekommen ist.
H. wird dies in vollem Bewusstsein darum tun, dass sein Auftreten wie seine Umgebung nicht das beste Bild von ihm als Lehrer abgeben. Warum zeigt er sich so?
Die Lehrerarbeit wird von ihm nicht mehr als etwas wahrgenommen, was eine emphatische Bedeutung besitzt und über eine entsprechende Aura verfügt. Wer die Höhere Bildung, die Arbeit am objektiven wie subjektiven Geist, durch ein pathetisches Auftreten oder auch nur bessere Dienstkleidung darstellt, macht sich in seinen Augen womöglich lächerlich. Einen Rest eigensinniger Emphase kann man in seiner bewussten Distanzierung von allem formellen Kram und von einer bürgerlich durch Anzug und Krawatte aufgerichteten Haltung sehen. Es scheint, als wolle er sagen, dass dergleichen aufgeblasen, durch die schlichte, eher durch Unordnung, Langeweile, Desinteresse geprägte Praxis der Schulen nicht mehr gedeckt wäre. Was soll auch schon daran sein, Schülern Jahr ein Jahr aus immer die gleichen Matheaufgaben zu stellen? Aufgaben, die man machen muss, ohne dass klar wäre, warum das eigentlich sein soll. Und wenn Mathematik schon dazu gehört, sollte man sie so unkompliziert wie möglich behandeln. Das wird in der Korrektur pars pro toto deutlich. Während sich K. Gedanken machen muss über seinen Unterricht, ist das hier nicht der Fall. Auch wenn Mathematik über den Erfolg der Schullaufbahn entscheidet, ist das für H. kein Grund, sich als Pädagoge ins Bild zu setzen, der sich den Kopf darüber zerbricht, wie man besser unterrichten könnte. Mit den entsprechenden didaktischen Phantasien scheint er nichts mehr zu tun haben: Bringen wir die Pflicht rationell und nebenbei hinter uns, denn dann können wir zur Kür übergehen. Möglicherweise hat H. für sie auch in der Schule einen Platz für gefunden. Er gilt – wie er erzählte – als der Computerfreak der Schule. Er ist der Einzige im Kollegium, der das Medium durchschaut, was in seinen Augen auch alle anderen müssten, auch wenn sie es nicht wollen. Er installiert, konfiguriert und repariert die PCs der Schule. Hier spielt die Musik, hier findet Entwicklung statt, nicht aber im Matheunterricht. Insofern ist verständlich, dass er sich in einem Raum wohl fühlt, in dem man am ehesten Experten für Technik erwarten würde.
Die drei Lehrer erweisen sich alle als individuelle Vertreter ihres Berufstandes. Zugleich lässt sich in ihrem äußeren Auftreten eine gewisse Uniformiertheit in der freizeitmäßigen Kleidung ausmachen. In diesem Gymnasium gibt es nicht mehr die alte Kleiderordnung mit Anzug, Krawatte und Kostüm. Jeder darf sich so geben, wie er ist, so, wie er sich in seinen Klamotten wohl fühlt. In dieser Distanzierung von der alten Vorstellung steckt mehr als nur etwas Äußerliches. Jeder der drei Lehrer zeigt auf unterschiedliche Weise, wie stark das Äußere des angeblich lockeren und bequemen Auftretens sich auf die inneren Problemlagen der Schule bezieht. Keiner von ihnen nimmt eine konventionell pädagogische Haltung an, die mit dem Bildungsauftrag des Gymnasiums assoziiert werden könnte. Der einzige unter ihnen, der sich mit einem Bildungsauftrag darstellt, F. (Selbstdarstellung Herr F.), dementiert diesen in seiner traditionellen Form. Die anderen machen ihren Job, der eine routiniert und beiläufig, der andere besorgt um die Aktualität seines Unterrichts.
Aber um etwas Wichtiges scheint es auch im Falle von K. nicht zu gehen. Die Schule ist ein Selbstläufer geworden. Sie benötigt, so H., keine emphatische Vergewisserung des Sinns der Veranstaltung mehr, der dann den Umgang ihrer Akteure bestimmt. Man muss eben Mathe lernen, warum auch immer. Diese Sorglosigkeit gegenüber den pädagogischen Problemen problematisiert der dritte Lehrer, aber er tut das nur in einer Attitüde der gleichnishaften Kritik, die als solche unmittelbar in den Betrieb integriert werden kann, d.h. ihn bleiben lässt, was er ist.
Der Zuwachs an Humanität, der mit der Austreibung des hohlen Bildungspathos einherging und der aus den Studienräten Menschen machte, hat dazu geführt, dass man Probleme dabei bekommen kann, in den Bildern überhaupt noch Lehrer zu erkennen. Diese aber bleiben sie, egal ob sie heruntergekommene Jeans oder Designerjeans tragen. H. sieht man nicht an, ob er gleich unter die Arbeit, die er korrigiert, ein »mangelhaft« schreiben muss oder ein »gut« schreiben kann. Sein Verhalten ist nur schwer als Neutralität gegenüber den Schülerarbeiten zu deuten, es zeugt von entspannter Routine. K. kann nicht dafür garantieren, dass er in den Materialien etwas findet, was die Bildung der Schüler befördern könnte. Und die ironische Thematisierung der Sinnfrage durch den dritten Lehrer liefert keine Antwort dafür, was in der Schule gelernt werden soll. Alle drei Lehrer drücken damit einen die Krise dieser Anstalt aus und zeigen doch, dass der Betrieb dadurch nicht wirklich erschüttert werden muss.
Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
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