Hinweis des Fallarchivs – diese Falldarstellung kann gemeinsam gelesen werden mit:
Falldarstellung
(…) Lesarten zum Funktionswandel und zur Relevanz von Schulordnungen sollen im Folgenden an zwei Beispielen durch eine genaue Lektüre und Auslegung ihrer jeweiligen pädagogischen Sinnstruktur geprüft werden.
Die beiden analysierten Dokumente stellen Fundstücke aus Selbstdarstellungsbroschüren von Schulen dar. Das erste Dokument, eine »Hausordnung«, stammt aus einem großstädtischen Gymnasium. Es wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts verfasst und besaß bis in die 60er Jahre Gültigkeit. Das zweite Dokument, eine »Schulordnung«, ist deutlich vom reformpädagogischen Geist bestimmt. Einige Begriffe sind so aktuell, dass sich sofort der Eindruck aufdrängt, es handele sich um eine Schulordnung, die den Wandel der Schule illustriert. Sie wurde in einer großstädtischen Grundschule verfasst. Die Analyse wird unter Berücksichtigung der Tatsache erfolgen, dass sich die Ordnung einer Grundschule und die eines Gymnasiums wegen des Alters der Schüler unterscheiden müssen. Dennoch dürfte der Vergleich zweier verschiedener Schulformen mit Bezug auf ihre Ordnung aussagekräftig bleiben, drückt sich doch in jeder von ihnen die sinnstiftende pädagogische Ordnungsvorstellung und das Verhältnis zur Erziehungsaufgabe aus.1
Einleitend sei der Frage nachgegangen, ob sich bereits mit dem Wechsel der Bezeichnung von der Haus- zur Schulordnung ein Wandel im Verständnis von Ordnung ankündigen könnte. Der Begriff der Hausordnung erinnert an ein von oben verfügtes normatives Sozialschema. Hausordnungen finden sich noch heute an den Wänden von Mietshäusern oder Herbergen. Mit ihnen verkünden Hausbesitzer bzw. der Herbergsvater ihre grundlegenden Erwartungen an das Verhalten der Mieter und Besucher. In der Regel wird im Befehlston formuliert, dass x y z zu unterlassen sei. Die Durchsetzung des gewünschten Verhaltens erfolgt sanktionsbewehrt. Wer uneinsichtig die ggf. von ihm sogar unterschriebene Hausordnung missachtet, der verwirkt sein Mietrecht. Wer in der Jugendherberge auf dem Zimmer raucht, der fliegt raus. Schüler, die die Hausordnung nicht beachten, müssen mit Strafen rechnen.
Demgegenüber wird mit dem Begriff der Schulordnung etwas Spezifisches postuliert. Es soll in ihr nicht nur um eine Benutzerordnung gehen, sondern um die Regelung des Verhaltens aller in der Schule Handelnden: Lehrer wie Schüler unter den besonderen Bedingungen des Erziehungs- und Bildungsauftrages der Institution Schule. Die Ordnung muss freilich im Kern nur für die geregelt werden, die nicht schon als Erzogene von sich aus Ordnung halten. Lehrer haben deswegen eine erzieherische Ordnungsfunktion. Sie bezieht sich sowohl auf die Kontrolle des Verhaltens als auch auf seine Formung. Beides wird durch die Ordnung geregelt (…).
Schulordnung
- In der Pause ärgern wir und nichts, sondern spielen zusammen. Wenn der Streit zu groß wird und wir ihn allein nicht regeln können, hilft die Aufsicht.Die Schüler der 4. Klasse unterstützen die Lehrer bei der Aufsicht.
- Wir achten darauf, dass keiner während der Pause das Schulgelände verlässt.
- Auf dem Schulgelände spielen wir mit Softbällen, mit anderen Bällen auf der Wiese.
- Bei schlechtem Wetter können wir keine Spielgeräte ausleihen.
- In den Regenpausen bleiben wir auf den Fluren bzw. in den Klassenräumen, wenn dort Aufsicht ist..
- Im Winter werden wir keine Schneebälle und legen keine Schlittenbahnen an.
- In den Fluren und auf den Treppen dürfen wir nicht rennen, schubsen und drängeln, weil es zu gefährlich ist und wir uns wehtun können.
- Wir helfen, unsere Schule sauber zu halten. Wir vermeiden unnötigen Müll (z.B. Trinkpäckchen). Glasflaschen und Dosen sind wegen der Unfallgefahr verboten.
- Wir nehmen Rücksicht und stören nicht den Unterricht der anderen Klassen.
- Vor Unterrichtsbeginn treffen wir uns an den Aufstellplätzen und gehen von dort gemeinsam mit den Lehrern zum Unterricht.
- Es ist verboten, Waffen und sonstige gefährliche Gegenstände mit in die Schule zu bringen!
Interpretation
Die Schulordnung in der Grundschule scheint deutlich mit diesem Stil der Hausordnung brechen wollen. Mit Ausnahme des letzten Absatzes ist konsequent von einem »Wir wollen« die Rede. Damit wird die Ordnung als eine der Schülerinnen und Schüler der Grundschule postuliert. Die Leitung des Hauses verfügt nicht, wie sich die Schüler verhalten sollen, sondern diese selbst geben sich Regeln.
Aber dieses »Wir wollen« ist eine rhetorische Redeweise, sie ist nicht wörtlich zu verstehen. Höchst unwahrscheinlich ist ja, dass die Kinder gemeinsam über die Regeln ihres Verhaltens beraten haben und sie so zu ihrer Schulordnung gekommen sind. Kinder dürften nicht auf die Idee kommen, sich selbst das Werfen mit Schneebällen zu untersagen (s.u.). Die Lehrer dieser Schule bemühen sich um eine möglichst adressatennahe pädagogische Einkleidung von Verhaltensanweisungen. Im Gegensatz zu dem herrschaftlichen Pluralis Majestatis eines Schulmeisters, der mit dem »Wir wollen« für jedermann verständlich seinen Willen kundtat, dürfte es sich in diesem Fall um einen demokratisch gebrochenen Plural handeln. Mit ihm wird der Wunsch ausgedrückt, die Kinder würden wollen, was sie wollen sollen.
In den ersten Absätzen werden die Regeln für die Pausen behandelt. Das erwartete, aber unerwünschte Verhalten wird zusammenfassend als gegenseitiges Ärgern charakterisiert. Auf diese Weise wird der Sachverhalt, dass Kinder mit Aggressionen aufeinander losgehen, sprachlich entschärft. Dahinter kann die Absicht liegen, die Perspektive von Kindern zu übernehmen, die, auch wenn sie sich anrempeln, schlagen, verbal attackieren etc., sich bloß ärgern.
Wer den anderen ärgert, verliert ihn als Spielpartner. Den Kindern wird als Alternative das gemeinsame Spiel empfohlen. Damit appelliert der Text an die Einsicht der Kinder, das zu tun, was sie sinnvollerweise tun sollten. Der Indikativ drückt ein vernünftiges Verhalten aus, das praktisch erst noch erworben werden muss. Die Ordnung setzt auf die Selbstregulation im Falle von eintretenden Konflikten. Die Kinder lösen die kleinen Konflikte unter sich. Hinter dieser Aufforderung steht wohl die Erfahrung, dass viele Kinder auf Konflikte reagieren, wie sie es von zu Hause gewohnt sind. Bei jedem Streit wird der Erwachsene in der Hoffnung hinzugezogen, den eigenen Anspruch durchsetzen zu können. Die Kinder dieser Grundschule sollen lernen, dass sie nun selbst zuständig werden für die Regelung solcher Konflikte. Erst wenn der Streit zu groß wird, soll auch die Aufsicht eingeschaltet werden. Von ihr heißt es in der Ordnung, sie werde bei der Lösung von Auseinandersetzungen helfen. Damit wird eine pädagogische Rahmung für die differenzierte Lösung von Konflikten vorgenommen, von der in der vorausgehenden Hausordnung keine Rede war.
Im letzten Satz zu diesem Punkt wird die Ausrichtung auf die Selbstregulation um die Aufsicht durch Schüler ergänzt. Von den älteren Kindern heißt es, sie seien Assistenten der Lehrer. Das kann man als eine institutionalisierte Rollenzuschreibung verstehen, aber auch als einen pädagogischen Aufruf an die Schüler der 4. Klasse, sich um die kleineren Mitschüler zu kümmern.
Im zweiten Punkt wird auf die Gefahr hingewiesen, dass sich Kinder unbefugt vom Schulgelände entfernen könnten. Die Aufsichtspflicht gilt für die gesamte Schulzeit. Insofern kann es nicht geduldet werden, dass sich die Kinder etwa auf den Weg zum Büdchen machen, das sich auf der anderen Straßenseite befindet. Wenn nun davon die Rede ist, dass »wir darauf achten, dass niemand den Schulhof verlässt«, so kann das aus der Sicht der Kinder nur bedeuten, dass sie ein entsprechendes Verhalten unverzüglich den Aufsicht führenden Lehrern mitteilen sollen. In der Schulordnung hätte das Problem auch als Verbot behandelt werden können. Dies wurde möglicherweise aus Angst vor einem pädagogischen Stilbruch vermieden. Das ist merkwürdig, denn im Rahmen der genutzten Rhetorik hätte es auch heißen können: Wir verlassen während der Schulzeit nicht den Schulhof, weil das zu gefährlich wäre. Dass nicht diese Wendung genutzt wurde, erhärtet den Verdacht, dass in diesem Punkte weniger auf die kollektive Einsicht, sondern auf die Ermunterung zur Aufsicht gesetzt wird. Konsequenter wäre es gewesen, wenn die Lehrer durch die Ordnung den Schülern unmissverständlich mitgeteilt hätten, dass sie darauf achten würden, dass niemand das Schulgelände verlässt.
Offensichtlich besitzt diese Schule eine Spielkiste, aus der sich die Kinder in der Pause bedienen können. Ein besonderer Hinweis erfolgt hinsichtlich der Nutzung der Bälle. Der Grund wird den Kindern nicht mitgeteilt. Er könnte darin bestehen, dass auf dem Schulhof das Spiel mit den Bällen leicht zu heftig wird, weswegen dort allein Softbälle benutzt werden dürfen. Die kann auch ein am Spiel Unbeteiligter abbekommen, ohne dass ein Schaden eintritt.
Es folgen zwei Einschränkungen für die Situation bei schlechtem Wetter. In diesem Fall dürfen die Spielgeräte nicht ausgeliehen werden. Die Lehrer gehen wohl davon aus, dass Kinder, die bei schlechtem Wetter auf dem Schulhof spielen, mit solch verschmutzter und nasser Kleidung aus der Pause zurückkehren würden, dass kein geregelter Unterricht mehr stattfinden kann. Anders als in den Ferien, in denen es kein schlechtes Wetter, sondern bloß schlechte Kleidung gibt, und anders als in der Freizeit nach der Schule, in der man nach solchen Spielen die Kleidung wechseln kann, wird in der Schule das Spielen unter institutionelle Einschränkungen gestellt.
Ergänzt wird dieser Hinweis durch die Verhaltensregel bei Regen. Die Kinder dürfen nicht auf den Hof, sondern bleiben auf den Fluren, und bei Aufsicht dürfen sie sich auch in der Klasse aufhalten. In dieser Hinsicht wird augenscheinlich nicht mehr auf die Selbstregulationsfähigkeit der Kinder gesetzt (die sich überlegen, ob sie überhaupt bei Regen auf den Schulhof gehen und wie sie dann gekleidet sein müssten), sondern auf die Aufsichtspflicht.
Im folgenden Punkt behandelt die Schulordnung den Sonderfall von Schnee und Eis. Hier wird die Sprache deutlich und zugleich die Rhetorik hilflos und unglaubwürdig. Die Lehrer dürften vor allem an die Vermeidung von Unfällen gedacht haben. Dass Kinder in den seltenen Fällen, in denen Schnee fällt, vor allem Lust darauf haben, Schneebälle zu werfen und Schlitterbahnen anzulegen, wissen die Lehrer, aber sie verlangen in der Ordnung, dass solche Aktivitäten in der Schule unterbleiben. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die Kinder nicht an diese Regeln halten werden, und eher unwahrscheinlich ist zugleich, dass Lehrer darauf mit rigidem Einschreiten reagieren werden. Möglich ist, dass dieses Verbot in der Schulordnung lediglich deswegen steht, weil es dort stehen muss, nämlich für den Fall des Unfalles, als Rückversicherung, dass es immerhin verboten war. Bemerkenswert bleibt, dass die Autoren, die sich um eine freundschaftliche Ansprache der Kinder bemühen, keine Hemmung hatten, eine solch weltfremde Forderung aufzunehmen.
Auch das Rennen, Schubsen und Drängeln auf den Fluren wird mit einem »wir dürfen nicht« kommentiert und dafür nun die Begründung geliefert, die gedankenexperimentell für den zweiten Punkt formuliert wurde: »… weil es zu gefährlich ist und wir uns weh tun können.« Das kann man so verstehen, dass das Bedürfnis nach ungehemmter Bewegung von den Lehrern zwar erkannt wird, es aber leider nicht ausgelebt werden darf, weil die negativen Folgen zu gravierend sein könnten. Erneut leiten sich aus der Aufsichtspflicht die Regeln für das Schülerverhalten ab. Die Perspektive der Kinder wird nicht berücksichtigt, sondern als Gefahr wahrgenommen. Wenn die Kinder sich bewegen, wie sie es wollen, sehen sie darin weder die Gefahr des »Rasens« noch deren Folge, das »Wehtun«. Den Grenzfall, dass so etwas passiert, erhebt die Schulordnung zum immer zu erwartenden Unfall.
Die folgende Passage nimmt die Kinder in die Pflicht. In ihr geht es um die Sauberkeit in der Schule. Die Kinder sind für diese nicht allein verantwortlich, aber sie sollen mithelfen. Das tun sie auch, indem sie ökologisch handeln und keinen überflüssigen Müll produzieren. Das liest sich freilich mehr als eine Aufforderung an die Eltern der Kinder, diesen das Richtige mitzugeben. Überraschend ist, dass auch die Alternative zur Wegwerfpackung, die Glasflasche, verboten ist. Hier widerstreitet die gewünschte Umwelterziehung der Abwendung möglicher Verletzungsgefahren durch zerbrochenes Glas. Wiederum wird auf die Prävention gesetzt, nicht aber, was im Rahmen einer Erziehung zur Selbstregulation denkbar wäre, auf die Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit Gefahren.
Knapp wird auf die Notwendigkeit zur gegenseitigen Rücksichtnahme hingewiesen und diese mit dem Unterlassen von Störungen der anderen Klassen konkretisiert. Das wird verständlich mit der vor allem bei den jüngeren Kindern immer wieder anzunehmenden Expansion des wahrgenommenen Bewegungsraumes über die eigene Klasse hinaus. Diese Kinder sind noch nicht so weit zu Schülern einer Klasse gemacht geworden, dass sie nicht mehr auf die Nachbarklassen übergreifen. Geschieht dieses, so wird es, vor allem im Zusammenhang von Unterricht, allein als Störung wahrgenommen.
In der Grundschule müssen die Kinder das geordnete Betreten der Schule erst noch lernen. Dazu dient die Aufstellung vor Unterrichtsbeginn und die Begleitung der Klasse durch den Lehrer. Der holt seine Schüler auf dem Pausenhof ab und führt sie in die Klasse. Auf diese Weise wird ein Schulritual eingeübt. Mit diesem wird präventiv auf die möglichen Gefahren eines ungestümen Hineinrennens in die Schule reagiert. Die Begleitung entlastet die Lehrer von der Regelung vorhersehbarer Konflikte. Die Aufgabe für die Schüler, wie sie lernen können, als Teil einer großen Gruppe ohne Hektik in ein Gebäude zu gelangen, wird auf diese Weise vertagt.
Im Tonfall deutlich anders endet die Schulordnung mit einem Verbot von Waffen und sonstigen gefährlichen Gegenständen in der Schule. Die Schärfe der Formulierung korrespondiert den Objekten dieser Regelung. Es wäre den Autoren vielleicht ein wenig lächerlich vorgekommen, im Stil des bisherigen Textes zu formulieren: Wir bringen keine Waffen und andere gefährliche Gegenstände in die Schule mit, weil wir uns damit leicht wehtun können. Die Ablehnung von Waffen ist als Abwehrhaltung zu unbedingt, als dass man das Verbot pädagogisch einkleiden könnte. Freilich stellt sich dennoch die Frage, was die Lehrer sich unter Waffen und gefährlichen Gegenständen konkret vorstellen. Es dürfte höchst unwahrscheinlich sein, dass 6- bis 10-Jährige Pistolen oder Stilettmesser, Zwillen, Baseballschläger, Schlagringe etc. besitzen und in die Schule mitbringen. Vielleicht verfügen sie über Taschenmesser, aber zählen diese zu den Waffen? Spritzpistolen können nicht gemeint sein. Zu gefährlichen Gegenständen können auch Lineal und Tornister gemacht werden. Hier soll wohl ein Zeichen gesetzt werden, das nicht unbedingt für die Kinder gilt, sondern mehr für die Eltern und das Kollegium. Mit dem Hinweis wird die Schule zu einer waffenfreien Zone erklärt und möglichen Sorgen über entsprechende Auswüchse offensiv begegnet. Die meisten Kinder dürften diesen Hinweis korrekt interpretieren: als pädagogische Angst von Erziehern vor einem Umgang mit Geräten, der diese zu Waffen werden lässt. Erneut wird eine mögliche Gefahr benannt, die Ausnahme wird geregelt, als beträfe sie alle. Weder wird der Extremfall als pädagogische Herausforderung betrachtet, der durch eine Erwähnung in der Hausordnung nicht erledigt werden kann, noch wird spezifiziert, was wirklich gemeint ist. Dadurch gerät der Hinweis zur Selbstberuhigung gemäß dem Motto: Gefahr benannt, Gefahr gebannt.
Wir
Ich bin ich und du bist du.
Wenn ich rede, hörst du zu.
Wenn du sprichst, dann bin ich still,
weil ich dich verstehen will.
Wenn du fällst, helf ich dir auf,
und du fängst mich, wenn ich lauf.
Wenn du kickst, steh ich im Tor,
pfeif ich angriff, schießt du vor.
Spielst du pong, dann spiel ich ping,
und du trommelst, wenn ich sing.
Allein kann keiner diese Sachen,
zusammen können wir viel machen.
Ich mit dir und du mit mir- das sind
wir
Irmela Bender
Ergänzend zu den Regelungen der Schulordnung wird ein Logo der Schule sowie ein Gedicht abgedruckt. Beides soll unterstreichen, dass der Text sich primär an die Kinder richtet. Das Logo greift ein Motiv der Ordnung auf und verstärkt es: »In der Schule helfen wir uns«. Jeder Buchstabe wird von einem lustigen Kindergesicht kommentiert. Alle befinden sich im Kreis und damit in einer geschlossenen Kette. Jeder ist einbezogen, niemand ausgeschlossen, jeder fühlt sich für jeden verantwortlich. Damit wird eine Stimmung ausgedrückt, die in Spannung steht zu den vielen aus dem Geist der Aufsichtspflicht erwachsenen Einschränkungen. Die Ordnung zerfällt in die Haltung, die man sich bei den Kindern wünscht, und den Regeln, denen sie folgen müssen.
Gedicht soll das Wir-Gefühl noch einmal verstärken. In ihm wird sowohl die eine wie die andere Seite angesprochen: Rücksichtnahme aufeinander und das Vergnügen zusammenzuwirken. Merkwürdigerweise wird dabei auf Verhaltensweisen der Kinder abgehoben, die in der Ordnung entweder überhaupt nicht oder nur am Rande vorkamen: Fallen und Aufhelfen, Fangen und Laufen, Trommeln und Singen usf. Das bestätigt der Sinnspruch:
»Allein kann keiner diese Sachen, zusammen können wir viel machen. Ich mit dir und du mit mir – das sind wir.« Was auf den Umgang der Kinder untereinander gemünzt ist, kann auch auf den von Lehrern und Schülern übertragen werden. Wenn die Schüler all das befolgen, was in der Ordnung steht, dann können wir viel miteinander machen, auch trommeln und jagen.
Der Vergleich beider Ordnungen hat die altersspezifischen Verhaltensbedingungen zu berücksichtigen. Sicherlich kann man in der Grundschule eine größere Notwendigkeit zur Unfallprävention ausmachen, als dies in einem Gymnasium der Fall ist. In der Grundschule muss eine basale Ordnung allererst hergestellt werden, die in einem Gymnasium bereits vorausgesetzt werden könnte, sofern von einer Einlösung des Programms in den ersten vier Schuljahren ausgegangen wird. Von daher bleibt bemerkenswert, dass das alte Gymnasium vor allem von einem Disziplinierungskatalog bestimmt wurde. Dessen Erklärung mit der Alltagstheorie, die Schule damals sei insgesamt ein Ort der strengen Verhaltenskontrolle gewesen, greift zu kurz. Denn dass es hier immer noch zum »Einzug« kommen sollte, zeigt vor allem das Ungenügen der vorgängigen Disziplinierung und damit das einer Pädagogik, die nicht auf die Selbstregulation, sondern die anhaltende Kontrolle angepassten Verhaltens setzte. Die fortgesetzte Aufstellung auch der älteren Schüler im Gymnasium entspricht damit indirekt dem Eingeständnis in das Scheitern der Selbstdisziplinierung. Nur das Aufrechterhalten der Kontrolle schützt vor dem unmittelbar drohenden Rückfall in das unzivilisierte Verhalten.
Auf den ersten Blick wird diese Pädagogik der permanenten Zucht im Grundschuldokument abgelöst durch eine Erziehung zur Selbstregulation. Das gesittete Verhalten wird nicht von den Lehrern verordnet, sondern von den Schülern als vernünftig eingesehen. Auf dieser Basis erfolgen Übungen, wie aus der Einsicht praktisches Verhalten werden kann. Sie beginnen mit der eigenständigen Regelung kleiner Konflikte und gehen über zur Verantwortung der älteren für die jüngeren Schüler. Die Programme, die hinter den beiden Texten stehen und die sich nicht zuletzt in ihrer Form ausdrücken, divergieren deutlich.
Gleichzeitig überrascht, in welch hohem Maße die alte Hausordnung und die neue Schulordnung inhaltlich übereinstimmen. Fast alles, was in dem einen Text als regelungsbedürftig ausgewiesen wird, taucht auch in dem anderen Text auf. Hausordnungen oder Schulordnungen operationalisieren augenscheinlich vor allem mögliche Zonen unerwünschten Verhaltens. Die Ordnungen werden nicht aus einer positiven Vorstellung einer Erziehung zum Gemeinsinn und zur Gewissenhaftigkeit heraus entworfen, sondern primär mit dem Ziel der Abwehr von negativen Verhaltensweisen. Deren Skala ist überraschend konstant. Die Schüler sollen sich mäßigen, sie sollen auf die Dinge achten, mit denen sie umgehen, sie sollen den Riten der Kontrolle folgen.
Die Motivierung für die beiden Kataloge ist dabei in merkwürdiger Weise widersprüchlich. Die Ordnung der Grundschule pädagogisiert die Sachverhalte ungleich stärker, als dies die Hausordnung tut. Die listet weitgehend schnörkellos das verlangte Verhalten auf. Zugleich stößt die Schülerorientierung im Grundschultext schnell an eine Grenze. Diese wird markiert durch das Versicherungsbedürfnis der Schule. Das ist offenbar so stark, dass der Blick auf ein genuin pädagogisches Programm der Selbsterziehung der Kinder nicht mehr frei werden kann. Das Kollegium ist vor allem von der Sorge getragen, für die negativen Folgen einer zu laschen Ordnung zur Verantwortung gezogen zu werden. Deswegen wäre es viel zu riskant, die Kinder aus kalkuliertem Schaden klug werden zu lassen, sie in der Bearbeitung des erfahrenen, spontanen Verhaltens die eigene Ordnung finden zu lassen. Dagegen macht der Text des Gymnasiums in manchen seiner Passagen deutlich, dass es auch um Erziehung und nicht bloß um Versicherungsschutz geht. Aus dem Text spricht eine noch intakte Vorstellung von Anstand und Sitte, die wie selbstverständlich im Gymnasium einzuüben sind. Kulturelle Gepflogenheiten besitzen ihren Wert und die Institution wird als Vermittler des Wertes nur dann glaubwürdig, wenn sie bereit ist, ihr Wertsystem auch erzieherisch durchzusetzen. Mit dem entsprechenden Gestus bricht der Grundschultext nicht etwa, weil in der Sache ein Dissens existierte, sondern weil die Lehrer den Glauben an die Möglichkeit der ostentativen Darstellung des gewünschten Verhaltens verloren haben. Sie wollen nicht autoritär erscheinen, ohne jedoch etwas von der gewünschten Ordnung und der mit ihr verbundenen Verbote-Gebote-Pädagogik aufgeben zu wollen. Deswegen wird jeder über die genannten Beispiele hinausgehende Ansatz der Selbstregulation in der Schulordnung ausgeschlossen zugunsten der Sicherung durch Aufsichtspflichten. Hinter dem pädagogischen »Wir« steckt noch keine andere Pädagogik. Während die Hausordnung deutlich die Richtung vorgibt, verpackt die Schulordnung das Gleiche in vermeintlich kindelfreundliches Beiwerk.
Die Zeitbedingtheit in der äußeren Gestalt der beiden Ordnungen mag dazu verführen, sich über den Wandel in den Ordnungsvorstellungen zu täuschen. So mancher heutige Leser wird geneigt sein, sich über Hinweise in der Hausordnung zu wundern (Hut ab und Reinlichkeit) oder sich über Ausdrücke der Rigidität zu ärgern (lautes Sprechen), während er mit Sympathien viele Aussagen in der Schulordnung (Wir, wir, wir) lesen mag. Umgekehrt dürfte es solchen Lesern gehen, die sich eine Schule wünschen, in der der Mut zur Erziehung wieder regiert. In beiden Fällen werden die pädagogischen Postulate, die in den Ordnungen enthalten sind, wahrgenommen, nicht aber die Inhalte. Die Form der Ansprache wird für den Inhalt der Rede genommen. Selbst in der Reformgrundschule ist die Idee der Selbsterziehung noch nicht Praxis geworden, und im alten Gymnasium war Ordnung wohl immer auch als die Befähigung zur Selbstdisziplin gedacht.
Strukturell hat sich demnach wenig verändert. Die Schule kämpft mit mehr oder weniger tauglichen Mitteln gegen Wildheit, Vandalismus, Müll und das Verletzungsrisiko. Sie tut dies unabhängig davon, wie das Entsprechende je aktuell gewichtet wird. Müllbeseitigung wird nicht erst zum Thema durch die öffentlichen Klagen, Schüler übten sich heute in der Wegwerfmentalität. Kinder rasen, schreien, raufen unbeeindruckt davon, wie der Zeitgeist über sie urteilt, und die Schule reagiert darauf mit den immer gleichen Ordnungsmaßnahmen. Die werden mit einer Erziehungsvorstellung betrieben, die erfahrungsresistent zu sein scheint. Egal wie deutlich sie scheitert, es wird an ihr festgehalten.
Während der alte Gymnasiallehrer wusste: »Das tut man nicht!« und er mit der Hausordnung erklärte, dass er bestimmte Verhaltensweisen nicht wünsche und nicht zu dulden bereit sei, erklärt der Grundschullehrer den Kindern heute, was sie nicht tun sollen, weil sie es selbst nicht wollen. Hat diese andersartige Einkleidung keine Bedeutung?
Zur Seite der Schüler ist sie eher als gering einzuschätzen, denn das unterschiedliche Sprachspiel verweist so deutlich auf die identische Sache, dass Schüler diese und nicht die Redeform wahrnehmen. Wenn die Gymnasiasten ihren »Direx« reden hörten, wussten sie sofort, dass sie mit dem »Wir« gemeint waren und dass jede Aussage, die so eingeleitet wurde, als Befehl zu verstehen war. Warum sollten die Kinder heute anders auf die Insinuation ihres Wollens reagieren?
Mag die Bedeutung dieser Rhetorik für die Schüler auch gering sein, sie wird dennoch eine Wirkung auf das pädagogische Deutungsmuster und Selbstverständnis der Lehrer haben, die sich ihrer bedienen: Die Schulordnung, die die Disziplinierung als das letztlich gemeinsam Gewollte deklariert, löst die Spannung auf, die zwischen dem erzieherischen Eingreifen des Pädagogen und den kreatürlichen Bedürfnissen der Schüler entsteht. Demgegenüber existierte eine solche Spannung in der alten Schule nicht. Deren Lehrer hatten ein ungebrochenes Verhältnis zur Norm der Disziplinierung und sie waren gewillt, sie auch durchzusetzen. Belohnt wurden sie entweder mit Beweisen des Untertanengeistes oder den Akten der Subversion durch die Schüler, die sich an der gestanzten Autorität der Hausordnung rieben.
Zu vermuten ist, dass die Veränderung nicht an der Ordnung als Ordnung abzulesen ist, sondern eher schon an der Art und Weise, wie diese Ordnung von den Lehrern überwacht wird. Möglicherweise musste in der alten Schule für jedes Vergehen mit einer Strafe gerechnet werden, weil die Lehrer hinter der Ordnung standen. Wahrscheinlich gibt es in der neuen Schule vielfach nur ein sanftes Ermahnen, weil die Lehrer sich die erhoffte Freundschaft oder auch nur die Kooperation der Kinder nicht durch autoritäres Auftreten verscherzen wollen. Aber das wäre an anderen Dokumenten abzulesen, die analysierten geben dafür nur den Hinweis auf die Rhetorik: Die eine verlangt nach Konsequenzen, die andere nach einer weichen Regelung von Konflikten. Ansonsten erlauben beide Texte lediglich einen Schluss: Ordnung muss sein!
Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk
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