Falldarstellung

Demokratie, so hat es Adorno einst formuliert, sei schlechterdings nur als eine Gesellschaft von Mündigen vorstellbar.[1] So muss sich eine Erziehung zur Demokratie in besonderem Maße auf die klassische pädagogische Denk­form besinnen, nach der Erziehung von Beginn an auf die Mündigkeit des Edukanden gerichtet ist. Eine Erziehung zur Mündigkeit als der Anleitung zum unangeleiteten Denken erscheint an sich schon paradox. Sie kann nicht am Gängelband erfolgen, vielmehr muss der Erzieher den Heranwachsenden kontrafaktisch als einen mündigen Menschen behandeln, zu dem er sich durch sein erzieherisches Einwirken zugleich doch erst entwickeln soll. Poli­tische Mündigkeit als die Fähigkeit in einen politischen Diskurs unter poten­tiell Freien und Gleichen einzutreten, setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich auch gegenüber einer bestehenden Ordnung mündig zu setzen, und diese selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, d.h. aufgrund eines rationalen Urteils einer Kritik zu unterziehen. In der Schule aber hat der Lehrer eben jene Ordnung als gut und gerecht zu legitimieren. So richtet sich an den „mündigen“ Schüler die Erwartung der freiwilligen Erfüllung des strukturell Vorgesehenen. Er macht sowohl die Erfahrung, mitbestimmen zu dürfen, als auch jene, sich zu den gegebenen Verhältnissen nur adaptiv und gerade nicht eigensinnig verhalten zu können.

Szenario eins:

Es ist kurz vor den Sommerferien und zum Abschluss des Schuljahres will die Klasse mit ihrem Lehrer einen Wandertag machen. Um nicht an den Schü­lerwünschen vorbeizuplanen, dürfen Vorschläge zur nächsten Stunde mitge­bracht werden. Die Klasse findet es echt super, dass sie mitbestimmen darf und schon in der nächsten Pause beginnen sie zu überlegen und zu planen. Am nächsten Tag fragt der Lehrer die Schüler, wie weit sie mit ihren Planun­gen gekommen sind.

Eine Gruppe um Frank schlägt den Besuch der Eis­dance-Disko in der benachbarten Stadt vor. Das sei Sport, Spiel und Spaß und für alle etwas. Eine Gruppe um Karin berichtet davon, dass es in der na­hen Großstadt bald eine Gratisveranstaltung einer Pop-Gruppe gebe. Die Klasse wisse ja, dass sie ein Fan dieser Gruppe sei, und die noch nicht Über­zeugten könnten sich das ja einmal anschauen und anhören. Anna hat eine Information über einen Vergnügungs-Freizeit-Park mitgebracht und fände es toll, z.B. zum Fantasialand zu fahren. Auch andere Schüler haben Ideen. Schnell sind sich alle einig: Karins, Annas und Franks Vorschläge können in die engere Wahl gezogen werden.

Der Lehrer, der bis jetzt zugehört hat, schaltet sich in das Gespräch ein: „Ich finde es sehr schön, dass ihr euch so viele Gedanken gemacht habt, aber ich habe Sorge, dass das Ganze so am Thema Wandertag vorbeigeht. Der Wandertag soll nicht nur ein Ausflug, sondern er soll ein Gemeinschaftser­lebnis sein und das geht weder in einem Freizeitpark, noch bei der Eishal­lendisko, noch bei einem Pop-Konzert, wo alle verstreut sind.“ Die Schüler sehen das nicht ein. Sie entgegnen dem Lehrer, dass so doch etwas Gemein­sames als Erlebnis entstehe. Dafür müsse man sich doch nicht laufend an den Händchen halten. Darauf der Lehrer: „Das ist sicher richtig. Aber es wäre auch schön, wenn wir an diesem Tag etwas erleben könnten, was wir im Un­terricht schon besprochen haben. Ich denke zum Beispiel an eine Fahrrad­tour in den Wald, wo wir etwas über die Natur erfahren können. Denkt etwa an die Krötenwanderung öder den Ameisenhaufen, die wir kürzlich im Biologie-Unterricht behandelt haben.“ Mehrere Schüler kommentieren das mit einem: „Och, das ist ja öde.“ Der Lehrer reagiert darauf mit dem Hinweis auf den pädagogischen Auftrag der Schule: „Es geht Euch augenscheinlich nur um Freizeit und Spaß, alles das, was Ihr außerhalb der Schule doch selbst organisieren könnt. Wir sollten etwas finden, was nicht schon wieder viel kostet und was lehrreich für alle ist.“

Interpretation

Das Szenario dient als Einstiegsimpuls für klinische Dilemmainterviews. Es ist bewusst so konstruiert, dass beide Seiten des Widerspruchs in einer alltäglich verankerten Situation dilemmatisch derart aufeinandertreffen, dass die Reaktion der Probanden auf den Widerspruch gehaltvoll daran überprüft werden kann. Schon zu Beginn der Geschichte erfahren wir, dass es für den zu planenden Wandertag einen besonderen Anlass gibt. Es ist kurz vor den Sommerferien und die Klasse möchte mit einem gemeinsamen Ausflug das Schuljahr abschließen. Womöglich ergreifen die Schüler die Initiative für die Unternehmung, denn es ist nicht der Lehrer, der mit seinen Schülern, sondern die Schüler, die mit ihrem Lehrer einen Wandertag machen wollen. Während der Unterricht durch curriculare Vorgaben stark normiert ist, liegt die inhalt­liche Gestaltung eines Wandertages weitestgehend im Ermessen des Lehrers oder eben der Klasse. Der Lehrer nutzt augenscheinlich diesen Freiraum, um die Schüler zu mündigem Handeln aufzufordern. Er überträgt den Schülern die Planungsverantwortung, indem er ihnen erklärt, dass nicht seine Vorstel­lungen einer sinnvollen Ausgestaltung des Tages, sondern ihre Wünsche für diese maßgeblich sein sollen. Die Schüler nutzen das Angebot des Lehrers, unterbreiten sich gegenseitig Planungsvorschläge, einigen sich schließlich auf eine „engere Wahl“ und könnten sich zweifellos zuletzt auf ein gemeinsames Programm verständigen. Das Szenario lässt offen, ob die Selektion durch ein formales Abstimmungsverfahren oder eine informelle Einigung auf jene Zie­le erfolgt ist, die die größte Zustimmung erwarten lassen. Womöglich sind einige Vorschläge auf eine offensichtliche Ablehnung gestoßen, andere viel­leicht aufgrund pragmatischer Ausschlusskriterien nicht weiter diskutiert worden. Der bis dahin selbstbestimmte Entscheidungsprozess der Schüler wird durch die Intervention des Lehrers zunächst unterbrochen. Der Wander­tag solle ein Gemeinschaftserlebnis sein und da bei allen verbleibenden Aus­flugszielen ein solches nicht zu erwarten sei, habe er Sorge, die Planung der Schüler ginge „so am Thema Wandertag vorbei“. Damit führt er den Wander­tag als Thema der Veranstaltung ein und fordert entsprechend einen themati­schen Bezug in dessen inhaltlicher Ausgestaltung. Doch ist dabei nicht der semantische Gehalt des Begriffes maßgeblich, denn dann wäre die Aktivität als solche unstrittig. Es ginge einzig um die Festlegung von Ziel und Weg der Wanderung. Augenscheinlich ist eine weitere Auslegung des Begriffes mög­lich. Dennoch ist in ihm eine Norm aufgehoben, auf deren Grundlage der Lehrer die Vorschläge der Schüler bewertet. Das Thema führt er mit einem weiteren Begriff als Kriterium ein, dem die Schülervorschläge zu genügen hätten. Der Wandertag solle ein Gemeinschaftserlebnis sein. Damit referiert er auf eine jener Zielsetzungen, die auch das Schulgesetz für den Wandertag vorsieht. Die Schüler widersprechen zwar dem Einwand des Lehrers, doch nicht, indem sie die Legitimität des Kriteriums in Frage stellen. Vielmehr se­hen sie das Kriterium in den eigenen Planungen berücksichtigt. Auch im Freizeitpark entstehe doch etwas Gemeinsames als Erlebnis. Dem stimmt der Lehrer zwar zu, fordert aber im Sinne eines weiteren Kriteriums einen Unter­richtsbezug. Es wäre doch schön, wenn der Wandertag der gemeinsamen An­schauung des im Unterricht Besprochenen dienen könnte. Auch wenn die Schüler das öde finden, so argumentiert der Lehrer weiter, verlange der pädagogische Auftrag der Schule, gemeinsam etwas Lehrreiches zu unternehmen. Mit dieser Begründung schlägt er eine Fahrradtour durch den Wald vor.

Dem Lehrer ist Widersprüchliches aufgetragen: Einerseits hat er den pä­dagogischen Zweck des Wandertages, den er als die Stärkung der Klassen­gemeinschaft durch ein gemeinsames Erlebnis und den Bezug zu den Unter­richtsinhalten angibt, zu gewährleisten, andererseits sollen die Schüler im Sinne einer Erziehung zur Mündigkeit beteiligt werden, indem sie durch die gemeinsame Planung des Wandertages nach ihren Wünschen den Tag zu „ih­rem“ Tag machen. In der dialektischen Verschränkung beider Ansprüche stellt sich den Schülern die paradoxe Aufgabe, den Tag dadurch zu ihrem eigenen zu machen, dass sie ihn zu dem machen, was er sein soll. Doch im Sinne des demokratischen Versprechens auf mündige Teilhabe sollten sie sich mit dieser Perspektive nicht zufrieden geben. Der mündige Schüler plant nicht den Wandertag als Wandertag, füllt ihn nicht einfach mit Aktivitäten, die man für einen Wandertag gemeinhin für angemessen hält, sondern fragt nach, welche ihm wirklich angemessen sein könnten. Er plant ihn als einen für sich sinnvollen und guten Tag.

Der Konflikt lässt sich in Richtung einer politischen Entscheidung zu­spitzen, wenn die Schüler aus ihrer rollengebundenen Abhängigkeit treten, nicht mehr die eigenen Interessen gegen den vom Lehrer durchzusetzenden pädagogischen Auftrag der Schule verteidigen, sondern als entscheidungs­kompetente Mitglieder einer Planungsgruppe ihre Beschlüsse gegen den Wi­derstand vermeintlich mächtigerer Gegenspieler durchsetzen müssen.

Fußnote

1) Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung Wozu? In: Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main 1972, S. 107.

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
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