Falldarstellung

Demokratie, so hat es Adorno einst formuliert, sei schlechterdings nur als eine Gesellschaft von Mündigen vorstellbar.[1] So muss sich eine Erziehung zur Demokratie in besonderem Maße auf die klassische pädagogische Denk­form besinnen, nach der Erziehung von Beginn an auf die Mündigkeit des Edukanden gerichtet ist. Eine Erziehung zur Mündigkeit als der Anleitung zum unangeleiteten Denken erscheint an sich schon paradox. Sie kann nicht am Gängelband erfolgen, vielmehr muss der Erzieher den Heranwachsenden kontrafaktisch als einen mündigen Menschen behandeln, zu dem er sich durch sein erzieherisches Einwirken zugleich doch erst entwickeln soll. Poli­tische Mündigkeit als die Fähigkeit in einen politischen Diskurs unter poten­tiell Freien und Gleichen einzutreten, setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich auch gegenüber einer bestehenden Ordnung mündig zu setzen, und diese selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, d.h. aufgrund eines rationalen Urteils einer Kritik zu unterziehen. In der Schule aber hat der Lehrer eben jene Ordnung als gut und gerecht zu legitimieren. So richtet sich an den „mündigen“ Schüler die Erwartung der freiwilligen Erfüllung des strukturell Vorgesehenen. Er macht sowohl die Erfahrung, mitbestimmen zu dürfen, als auch jene, sich zu den gegebenen Verhältnissen nur adaptiv und gerade nicht eigensinnig verhalten zu können.

Szenario zwei:

In der Pestalozzi-Gesamtschule haben viele Schüler schon seit langem den Wunsch, über einen Raum zu verfügen, den sie in Freistunden und nach dem Unterricht für sich nutzen können. Nach langer Zeit und vielen Gesprächen mit dem Schulleiter einigte man sich darauf, dass ein sozialpädagogischer Verein gemeinsam mit den Schülern in der Schule ein selbstverwaltetes Schü­lercafe planen sollte. Es wurde ein erstes Treffen zwischen interessierten Schülern und dem Pädagogen, der in Zukunft für das Projekt „Schülercafé“ zuständig sein sollte, vereinbart. Es kamen insgesamt 15 Schüler aus den Jahrgangsstufen 8, 9 und 10. Der Pädagoge erklärte ihnen, dass nicht er be­stimmen wolle, wie das neue Cafe aussehen und was dort passieren soll, son­dern dass alle wichtigen Entscheidungen von den Schülern gemeinsam ge­troffen werden sollen. Über wichtige Fragen sollte abgestimmt werden und diese Entscheidungen gälten dann für alle und seien verbindlich. Die Schüler entschieden darüber, wann das Cafe geöffnet sei, was dort verkauft werde und zu welchem Preis. Sie entschieden aber auch, dass in ihrem neuen Cafe Veranstaltungen stattfänden, wie Filmvorführungen, Infotage oder Work­shops zu interessanten Themen. Jeder sollte die Möglichkeit bekommen, seine Meinung zu sagen und seine Ideen und Vorschläge einzubringen.

Das Cafe der Schüler ist nun eröffnet, viele Schüler nutzen die Möglich­keit, sich dort zu treffen, Musik zu hören, zu lesen oder für die Schule zu arbeiten. Am Nachmittag treffen sich AGs wie die Schach- oder die Theater- AG, die von den Schülern selbst gegründet wurden und ohne die Anwesenheit von Lehrern stattfinden. Freitags gibt es das „Freitagskino“ und es gab ein­mal eine Veranstaltung zu Hitler und dem Holocaust mit einer anschließen­den Ausstellung, die sich viele Schüler und Eltern angesehen haben.

Nun wird unter den Schülern aber eine sehr schwierige Frage diskutiert. Hosni und Fatima, zwei Schüler der 9. Klasse, haben vor einiger Zeit angeregt, man könnte an einem Nachmittag in der Woche doch eine Islam-AG anbieten. Sie würden auch gerne jemanden von der Uni und von einem muslimischen Kulturverein als Referenten einladen. In der Cafégruppe hielt man das für eine gute Sache, schließlich gebe es keinen Grund, warum eine Beschäftigung mit dem Islam nur in der Koranschule stattfinden solle. Also wurde beschlossen, eine neue Islam-AG zu gründen. Bevor die Schüler weiter planen konnten, er­fuhren einige Lehrer von der Sache und es gab großen Ärger. Islamunterricht habe es an dieser Schule noch nie gegeben und man fände sicher auch unter den Eltern dafür keine Mehrheit. Wenn die Schüler nicht dazu in der Lage sei­en, ihre Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, verantwortungsvoll auszufüllen, könnten sie das Projekt „Schülercafé“ so zukünftig nicht mehr unterstützen.

Metin, einer der Schüler in der Cafégruppe schlägt vor, die Pläne fallen zu lassen. „Wenn wir nicht aufpassen, verbietet uns der Schulleiter das Café ganz oder wir dürfen nicht mehr selbst entscheiden.“

Fatima ist entsetzt: „Aber die Sache ist uns wirklich wichtig, ich versteh‘ gar nicht, warum wir das nicht machen können. Außerdem wissen wir doch noch gar nicht, ob es nicht vielleicht doch klappt. Wir sollten es wenigstens versuchen.“

Till unterstützt sie: „Das sehe ich auch so. Außerdem haben wir doch am Anfang gesagt, dass hier jeder seine Meinung sagen und Ideen einbringen darf, da dürfen wir Hosni und Fatima nicht ausschließen, nur weil den Leh­rern die Sache nicht gefällt. Wir machen doch das Programm und nicht die Lehrer. Im Übrigen haben wir das schon diskutiert und alle dafür gestimmt. Die Entscheidung können wir doch jetzt nicht einfach wieder zurücknehmen.

Metin entgegnet: „Ich fände es auch gut, wenn es eine Islam-AG gäbe, aber wenn wir die Sache gegen den Willen der Lehrer durchsetzen wollen, dann verlieren wir vielleicht unsere Entscheidungsfreiheit oder das ganze Café. Dann gäbe es kein Kino mehr und die AGs würden von Lehrern geleitet. Davon hätte doch keiner etwas. Und die Islam-AG gäbe es trotzdem nicht.“

Interpretation

Mit der Konstruktion eines selbstverwalteten Schülercafés wird ein Raum ge­schaffen, der, wenngleich in den schulischen Kontext eingebettet, schulischer Kontrolle weitgehend entzogen ist. Träger des Schülercafés ist ein sozialpäda­gogischer Verein, dem zwar schulische Räume zur Verfügung gestellt werden, die inhaltliche Arbeit liegt aber allein in der Verantwortung des zuständigen Pädagogen. Von den Schülerinnen und Schülern, so wird die Genese des Pro­jekts „Schülercafé“ im Szenario eingeführt, wurde der Wunsch nach einem Raum geäußert, der ihnen zur freien Verfügung steht. Dieser Wunsch impliziert die Bereitschaft der Jugendlichen, den Raum inhaltlich wie material zu gestal­ten. Diese wesentlich autonome Gestaltungs- und Planungsarbeit wird als Ziel des Projektes, die Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen als Aufgabe des Pädagogen benannt. Zur Entscheidungsfindung werden demokratische Ver­fahren entwickelt, die für alle gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Die Jugendli­chen fassen den konstitutiven Beschluss, dass das Schülercafé als Ausgangs­punkt für diverse Bildungsveranstaltungen dienen soll. Bei der Planung solcher Veranstaltungen soll sowohl der demokratische Grundsatz der Meinungsfrei­heit als auch der der Chancengleichheit gelten.

Als Fatima und Hosni ihren Vorschlag der Islam-AG einbringen, hat die Gruppe inhaltlich nichts einzuwenden und beschließt, sich der Sache anzu­nehmen. Nun kündigt sich in den Reihen der Lehrerschaft aber Widerstand gegen das Vorhaben an. Der von Lehrern der Schule geäußerte Einspruch spiegelt die Zurücknahme der den Jugendlichen zuvor zugebilligten und in­stitutionell abgesicherten Entscheidungsfreiheit. Die Situation wirkt so be­drohlich, dass die Schüler nicht nur den Verlust ihrer Entscheidungsfreiheit befürchten, sondern gar den Fortbestand des Cafés gefährdet sehen. Unter den Jugendlichen wird nun kontrovers diskutiert, wie weiter zu verfahren sei.

Metin formuliert diese Sorgen. Er befürchtet die Schließung des Cafés oder doch zumindest den Verlust der eigenen Autonomie, ist aber gleichzeitig dazu bereit, diese in vorauseilendem Gehorsam faktisch aufzugeben, um sie als Anspruch dennoch formal aufrechterhalten zu können.

Fatima dagegen referiert auf die inhaltliche Dimension. Sie klagt an, dass eine Entscheidung nicht ohne Ansehen der Sache, um die es doch eigentlich gehe, getroffen werden könne. Ihr geht es emphatisch um die Umsetzung einer Idee und sie kann kein sachliches Argument im Sinne eines Arguments gegen die Sache erkennen, das dagegen spräche, diese weiterzuverfolgen. Zudem weist sie darauf hin, dass es sich bei Metins Befürchtungen doch nur um ein denkbares Szenario handele. Ließe man sich von der Antizipation leiten, so bringe man sich gegebenenfalls um die Möglichkeit, sich mit der eigenen Idee doch durchzusetzen. So lautet ihr Einwand: Wer nicht wagt, hat schon verloren.

Till verweist auf einen Grundsatzbeschluss und damit auf eines der kon­stitutiven Prinzipien des Cafés, nämlich das verbürgte Recht auf freie Mei­nungsäußerung und auf inhaltliche Mitbestimmung. Dieser Beschluss ver­pflichtet die Gruppe zur Solidarität mit den Ideenträgern, wenn die Idee durch eine gemeinsame Entscheidung gleichsam zur gemeinsamen Idee wird. Diese durch ein formales Verfahren zustande gekommene Entscheidung, so argumentiert er weiter, könne nicht ohne Weiteres wieder zurückgenommen werden, ohne dem Verfahren selbst damit erheblichen Schaden zuzufügen. Darüber hinaus weist er noch einmal ausdrücklich auf die den Schülern zu­gestandene Planungsfreiheit hin.

Metin sieht trotz inhaltlicher Übereinstimmung das Gemeinwohl gefähr­det. Durch eine Einzelentscheidung dürfe nicht das Ganze in Gefahr gebracht werden. Der Schaden wäre ungleich größer und beträfe alle. Nicht einmal der Islam-Idee sei so zur Durchsetzung zu verhelfen.

Das zweite Szenario unterscheidet sich nun in zwei wesentlichen Punkten vom ersten. Im ersten Szenario ist die Mündigkeitsnorm nur implizit enthalten, in­dem dem Lehrer inhaltlich nur schwerlich zu widersprechen ist, dass man in der Schule sei, um etwas zu lernen. Dagegen wurde im zweiten Szenario den Schülern des Schülercafés explizit, d.h. formal ein Entscheidungsrecht über ei­ne vertragliche Vereinbarung zugesprochen. Darüber hinaus erweist sich die Einführung einer Islam-AG als durchaus vernünftige Sache. Anders als im ers­ten Fall scheinen die Lehrer nun formal wie inhaltlich im Unrecht.

Die Vereinbarung über die Selbstverwaltung erfolgt im Rahmen eines de­mokratisch legitimierten Rechtssystems, das selbstverständlich zu achten ist. Die Entscheidungen der Schüler unterliegen also geltendem Recht. Mit diesem kommt die zur Disposition stehende Planung einer Islam-AG aber nicht in Konflikt. Die Frage nach der Legalität, die etwa dann aufkäme, wenn die Schü­ler das Rauchen im Schulgebäude erlauben wollten, spielt in diesem Szenario also keine Rolle. Doch unterliegt die Entscheidung der Schüler nicht nur dem gesamtgesellschaftlich gültigen Rechtssystem, sondern auch der demokrati­schen Ordnung innerhalb der Programmgruppe. Dort gelten demokratische Re­geln, die das (politische) Handeln der Schüler an die gemeinsam getroffenen Entscheidungen binden. Zur Legitimität ihres Vorhabens führen die Schüler zwei Argumente an. Erstens beruht es auf einer im transparenten demokrati­schen Verfahren zustande gekommenen Entscheidung und zweitens sind keine rationalen Gründe erkennbar, die gegen das Projekt sprächen. Darüber hinaus ließen sich eine Reihe von Gründen finden, warum das Projekt nicht nur legi­tim, sondern aufgrund der aktuellen politischen Lage (internationaler Kampf gegen den Terrorismus) pädagogisch gefordert sei (etwa der Abbau von Vorur­teilen gegenüber dem Islam und muslimischen Mitbürgern, die Förderung des interkulturellen Dialogs etc.). Eine Rücknahme der Entscheidung aus strategi­schen Gründen erscheint aufgrund des gruppeninternen Regelwerks als illegi­tim und für die Eröffnung des Diskurses müsste die Legitimität des Projektes aufgrund rationaler Gegenargumente angezweifelt werden. Solche bringen die Lehrer jedoch nicht vor. Ihre Drohung aber, den geschlossenen Vertrag aufzu­lösen, sollte die Gegenpartei von den darin vereinbarten Rechten Gebrauch machen, ist geradezu absurd. Sie ließe sich als Nötigung deuten, mit deren Hil­fe die Schüler an der Ausübung ihrer Rechte behindert werden sollen. Das Verhalten der Lehrer ist nicht nur als Angriff auf die „privatrechtlich“ verein­barte Entscheidungskompetenz der Schüler zu werten, sondern bedroht glei­chermaßen universalistische demokratische Freiheitsrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder auf informationelle Selbstbestimmung. Diese Ausgangslage zwingt die Schüler zur Reaktion und lässt aufgrund rationaler Erwägungen nur die Möglichkeit, einen Rechtsstreit zu führen, um die Gegen­partei auf die Einhaltung der vertraglichen Vereinbarungen zu verpflichten. Der Diskurs innerhalb der Programmgruppe entzündet sich nun daran, dass diese idealdemokratische Position vor dem Hintergrund der realen Machtverhältnisse schlichtweg naiv erscheint.

Fußnote

1) Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung Wozu? In: Ders: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main 1972, S. 107.

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
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