Falldarstellung

Die Doppelrolle im Spannungsfeld schu­lischer und peerkultureller Handlungser­wartungen soll deutlich werden an einem Gesprächsausschnitt aus einer Klassenrats­sitzung. Die Schülerinnen und Schüler sind zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt und bli­cken auf eine zweijährige Erfahrung mit dem Instrument zurück. Sie leiten den Klas­senrat selbst und gehen dabei nach einer festen Tagesordnung vor.

 Tim Der Nils, der hat ja auch mit­gemacht, der hat mich mit meiner Jacke geschlagen (Tim guckt Nils lachend an.)
Nils Hm. Das hab‘ ich nicht.
Tim Doch. Ich hab’s doch selber gespürt (grinst dabei).
Nils Ich war’s nicht. Dann war das ein anderer (quietschende, hohe Stimme).
Tim Hä? Hab‘ dich doch hinter mir gesehen.
Dominik Wer war’s denn dann?
Tim Wer war’s denn sonst, genau?
Nils Weiß ich nicht. Aber ich war’s nicht.
Tim Nils (gedehnter Tonfall).
Nils Ich lüge nicht (helle Stimme)
Tim Aber ich hab‘ den Nils mit meiner Jacke in der Hand gesehen.
Nils Ja, ich hab‘ sie nur aufgehoben (helle, leise Stimme)
Dominik Nils, aber warum sollte jemand äh den Tim mit der Jacke schlagen?
Nils Weiß ich nicht.
Dominik Ohne Grund.
Nils Ich mach‘ aber so was nicht.
Tim Ja, Anna.
Anna Vielleicht wollte ja der Nils dir auch die Jacke aufheben und er hat dich aus Versehen dann mit der Jacke geschlagen.
Tim Könnte auch sein.
Dominik Aber der Tim hat da richtig geheult.
Fatih Doch. Da hat er geheult.
Benjamin Dann hat er geheult.
Raphael Doch hat er. Der hat geheult. Aber sehr.
Nils Ja… (bricht ab)
Tim Das hat richtig wehgetan.
Raphael Derjenige hat ihn richtig mit der Jacke geschlagen. Holla.

 

Interpretation

Zufällig hat eine Studentin die erwähnte Si­tuation zwischen Nils und Tim in der Pau­se verfolgt und sie in ihrem Praktikumsbe­richt beschrieben. Sie berichtet dort, dass sie beobachten konnte, wie Nils und alle an dieser Szene beteiligten Kinder, Tim ge­ärgert und auch geschlagen haben. Nils ha­be am Pausenende danach gefragt, ob sie alles gesehen habe (ausführlich in de Boer 2006, S. 102) und habe erklärt, dass sie sich, gemeinsam bei ihm gerächt hätten, der sie tags zuvor geärgert hätte und nun seien sie „quitt“.

Hier zeigt sich, dass nur ein Teil des Pau­sengeschehens im Klassenrat öffentlich ge­macht worden ist. Tim hat offensichtlich ei­nen Fall in den Klassenrat eingebracht, der eine Vorgeschichte hatte, die zum Verständ­nis der Situation hilfreich gewesen wäre. Ob­wohl es mehrere Beteiligte aus der Klasse gab, hat kein Kind die fehlenden Informa­tionen ergänzt. Alle wissen, dass das Argu­ment der „Rache“ vor der Lehrerin keinen Bestand haben wird. Außerdem besteht die Gefahr, aus der Rolle des Zeugen in die des Beschuldigten zu rutschen. Mit ihrer kollek­tiven Bekräftigung, Tim habe „geheult“, be­zeugen die Kinder diesen Tatbestand, ohne ihre eigene Rolle im Konflikt offenzulegen, und suggerieren Empörung. Zudem ist den Schülerinnen und Schülern bekannt, dass Schlagen in der Schule nicht erlaubt ist.

Auch Nils gibt keine weiteren Kontextinformationen. Er hätte seinen Ärger und Unmut über Tims Vorgehen öffentlich ma­chen können. Doch seine Sorge vor Be­schämung vor der Lehrerin und der Klas­se hält ihn davon ab. Seine Zurückhaltung zeigt, dass er dieses Thema in der Klassenratsöffentlichkeit nicht ansprechen möchte, zumal er als Schüler das Image des fried­lichen Jungen hatte.

Rollenadäquates Verhalten

Die geschilderten Verhaltensweisen der Schüler/innen zeigen – wie auch jene in anderen über vier Jahre hinweg protokol­lierten Sitzungen (de Boer 2006) -, dass im kindergeleiteten Klassenrat die Sorge vor Beschämung und Missachtung beste­hen blieb. Die Interventionen der Kinder weisen darauf hin, wie sie sich wechselsei­tig klar machen, dass sie in der Schule sind und eine Aufgabe bearbeiten, die von ih­nen erwartet wird: regelgeleitet Konflikte zu besprechen. Ihre Handlungen machen zugleich erkennbar, dass hier nicht „einfach so“ unter Kindern verhandelt wird, sondern dass die Kinder als Schülerinnen und Schüler Teil eines Verfahrens sind, dem eine schulische Ordnung zugrunde liegt. Es gibt ein von allen geteiltes Wissen darüber, welche Verhaltensweisen in der Schule ge­wünscht werden und welche nicht.

Kinder unterscheiden zwischen den Er­wartungen der Institution und denen der Gleichaltrigen. Am Klassenrat Beteiligte balancieren ihr Peer-Sein und ihr Schüler- Sein miteinander aus, beides ist nicht von­einander zu trennen. Sie sind im Klassenratsgespräch um die soziale Anerkennung der Lehrerin sowie der Gleichaltrigen be­müht und lösen diese Dilemmasituation, in­dem sie im Klassenrat nur das ansprechen, was mit dem Aufrechterhalten eines kon­sistenten Images vereinbart werden kann. Was sie im Klassenrat sagen und tun, muss einerseits die schulischen Erwartungen er­füllen und andererseits vor den Augen der Gleichaltrigen Bestand haben. Damit be­wirkt die Öffentlichkeit des Verfahrens taktische Verhaltensweisen und schränkt sie gleichsam durch ihre kontrollierende Funktion wieder ein. Die strategische und taktische Anpassung an schulischen Rege­lungen ermöglicht Schülerinnen und Schü­lern, die eigene Person zu schützen und sich zugleich von der Schule zu distanzieren. Schließlich machen Kinder wiederholt die Erfahrung, dass die Schule ein zentraler ge­sellschaftlicher Ort ist, an dem sich die Per­spektive von Erwachsenen meistens gegen­über der eigenen durchsetzt (de Boer/Deckert-Peaceman 2009, S. 321).

Schlussfolgerungen

Die beschriebenen strategischen Verhaltens­weisen können nicht nur als Abwehr, son­dern auch als Grenzziehung gedeutet wer­den. Die Grenzen sollten Lehrende wahr­nehmen, um Beschämung im Klassenrat und ähnlichen Situationen zu vermeiden. Sichtbar wird, dass die Funktionalisierung „privater“ Konflikte für schulische Lern­prozesse unter diesen Bedingungen kaum gelingen kann. Für das Gremium Klassen­rat erscheint deswegen eine Fokussierung auf schulische Themen sinnvoll, in denen die Klasse als Gemeinschaft angesprochen wird und nach Antworten auf Fragen sucht, die die Mehrheit der Schüler und Schülerinnen angehen.

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