Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Pausenspiele neun- bis zwölfjähriger Schulkinder zeichnen sich durch große Beweg­lichkeit und durch „kontinuierliche Beschäftigung mit den Körpern der anderen“ (Thorne 1993, S. 15) aus. Im schulöffentlichen Kontext sind Kinderspiele nicht nur In­teraktionsterritorien, die eine bestimmte Teilnehmergruppe in eine bestimmte Aktivität involvieren und dabei andere ausschließen oder zu Publikum machen. Sie sind zunächst auch im schlichten räumlichen Sinne abgegrenztes Gebiet. In den vergangenen Jahren haben eine Reihe von Untersuchungen auf Geschlechterunterschiede in der (spieleri­schen) Raumaneignung im Kindesalter hingewiesen (für öffentliche Räume vgl. zusam­menfassend Nissen 1998, S. 151ff; für Schule vgl. Thorne 1993, S. 44f.): Jungen gingen tendenziell raumgreifenderen Aktivitäten als Mädchen nach. Dies ist zugleich der Hin­weis, daß ein Großteil der Pausenspiele in der untersuchten Altersgruppe in geschlechts­homogenen Formationen gespielt wird. Die körperliche Auseinandersetzung in Spielen erfolgt also vielfach in der eigenen Geschlechtsgruppe und eine Reihe Spiele sind ausge­sprochen geschlechtsspezifisch konnotiert: Fußball ist eine Sache der Jungen, Gummi­twist und Himmel-und-Hölle-Spiele eine Sache der Mädchen.

Die Pausenaktivitäten der Schulkinder gestalten sich allerdings sehr komplex, zumal an einer Ganztagsschule wie der Laborschule, in der es eine halbstündige ‚kleine Pause‘ und eine Stunde Mittagspause gibt. Neben den zahlreichen Möglichkeiten, Pausen gar nicht mit Spielen zu verbringen – Essen, Herumwandern, Erzählen und Reden -, und neben den Spielen mit mehr oder weniger festen Regeln, die seit Generationen tradiert und ab­gewandelt werden (vgl. Sutton-Smith 1972; Opie 1994), kommt es zu einer Fülle an unreglementierten und Phantasiespielen, die spontan entstehen und wieder verschwinden, die also Unikate in der Spielkultur der Schulkinder darstellen.

Relativ unabhängig von ihrem Charakter stellen sich die Aktivitäten der Kinder im Raum häufig als eine „Geschlechtergeographie“ (Thorne 1993, S. 42) dar, bei der peer groups sich nach Geschlechtszugehörigkeit zusammenfinden und von anderen separieren. Eder (1995) bezieht sich ebenso wie Thorne auf Phänomene der Geschlechterseparation im koedukativen Setting und untersucht, so könnte man sagen, geschlechtshomogene In­teraktionsterritorien im Jugendalter, und zwar die Tischgespräche von Jungengruppen und Mädchengruppen in Schulmensen. [8]   Auch Gordon und Lahelma (1996) beschäftigen sich, ausgehend von der These, daß sich Schule im Allgemeinen durch einen Mangel an räumlicher und körperlicher Autonomie auszeichnet, mit geschlechtsspezifischen Phäno­menen der Raumaneignung in diesem ‚dichtbevölkerten‘ Feld.

Doch daß viele Interaktions- und Spielterritorien geschlechtshomogen besetzt sind, macht sie noch nicht per se zu Geschlechterterritorien im oben eingeführten Sinne. Am folgenden Beispiel interessiert deshalb gerade die Transformation der Rahmung einer Spielsituation: Wie kommt ‚Geschlecht‘ hier ins Spiel? [1]

In der Pause gehe ich mit Tanja und Judith mit. Die beiden wollen ‚Tennisspielen‘. Dies geht auf einem kleinen gepflasterten Platz zwischen Bauspielplatz und Sportplatz. Dort gibt es eine Materialbude und man kann sich bei einem Sozialarbeiter Material und Geräte leihen. Judith und Tanja haben sich schon vorher den Tennisplatz reservieren las­sen. Da sie aber bereits um 12 Uhr 50 dort ankommen, ist die Gefahr, daß jemand ver­sucht, ihnen den Platz wegzuschnappen, nur gering, denn die anderen Gruppen haben bis 13 Uhr Unterricht.

Die beiden besorgen sich Schläger und einen Ball. Ein Netz gibt es nicht. … Auf dem Pflaster ist nur noch die Andeutung einer Feldbegrenzung sichtbar. Die beiden stellen sich gegenüber auf und beginnen, sich den Ball zuzuspielen… .

Am Anfang sind noch mehrere fremde Jungen auf dem Feld und der Sozialarbeiter meint, die beiden Mädchen müßten sich mit ‚den Jungen‘ abstimmen und sie ‚verscheu­chen‘. Das geht ganz reibungslos. Nachdem Judith und Tanja schon eine Weile recht wortkarg gespielt haben, kommen zwei größere Jungen (9. oder 10. Klasse) und fragen, ob sie spielen dürfen. Judith sagt: „ Wir haben aber den Platz reserviert.“ Die Jungen meinen, das hätten sie auch. Das ist Judith und Tanja aber egal, sie wollen auf jeden Fall noch weiter spielen. Man verhandelt über die Dauer des Spiels. Judith und Tanja wollen bis halb 2. Also wenden sich die beiden Großen zunächst anderen Beschäftigungen zu, bleiben aber in der Nähe des ‚Tennisplatzes‘.

Kurz drauf erscheinen Uwe und Alexander in der Nähe. Judith verdreht genervt die Augen und nennt Alexander und Uwe „Arschlöcher“. Dadurch werde ich überhaupt erst auf die beiden Jungen aufmerksam, denn sie sind noch außer Hörweite. Tanja bestätigt „die Arschlöcher“. Als die Jungen näherkommen, sagen Tanja und Judith aber nichts mehr.

Alexander stellt sich an den Rand des Tennisplatzes und macht den Sportreporter. Er bemüht sich um eine Beschreibung des Spielverlaufs, da aber nach dem Aufschlag meist nicht mehr so viel kommt, verliert Alexander schnell die Lust an seinem Reportersein und geht zum Sportplatz.

Jetzt springt Uwe kurz in die Reporterrolle, um sich dann als „Netz“ anzubieten. Er stellt sich in die Mitte des Feldes, Tanja und Judith spielen über ihn hinweg oder versu­chen es zumindest. Sie erscheinen bemüht, sich nicht stören zu lassen, obwohl Uwe als Netz nicht besonders funktional ist. Ich unterstelle Uwe eine provokative Absicht, er paßt allerdings auf, sein Verhalten zu dosieren. Er stellt sich in die Mitte und versperrt den beiden Spielerinnen die Sicht, aber er greift z.B. nicht nach dem Ball. Judith und Tanja ihrerseits versuchen, sich nicht provozieren zu lassen.

Nach einer Weile kommen weitere Kinder aus der Gruppe zum Platz. Malte und Chri­stian sind dabei, Daniel und Björn kommen mit Fahrrädern. Malte versucht ein paar Mal, den Tennisball zu erwischen, beschäftigt sich dann aber mit etwas anderem. Es kommt mir so vor, als sei die Anwesenheit der anderen Kinder eine latente Störung oder Bedrohung für das Tennisspiel. Immer wieder zieht es die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Uwe und Alexander sind jetzt beim Sportplatz und können von oberhalb der Materialbude auf uns herabsehen. Wieder tun sie so, als wären sie Sportreporter und kommentierten das Spiel, wobei ich das jetzt besonders gelungen finde, weil ihre erhöhte Position der eines Reporters im Stadion nachempfunden zu sein scheint.

Tanja und Judith haben sich für die beschriebene Pause entschieden, einer raumgrei­fenden Aktivität nachzugehen, für die man sogar einen spezifischen Ort reservieren muß. Die beiden müssen das Feld dann trotzdem erst noch freibekommen und ein paar Jungen verscheuchen. Wie sich herausstellt, gibt es zusätzlich auch noch Konkurrenten, die mei­nen, den Platz ebenfalls reserviert zu haben. Für die Etablierung ihres Spiels am dafür vorgesehenen Ort haben Judith und Tanja also einige Hürden zu nehmen, die die spieleri­sche Aktivität selbst als kostbar erscheinen lassen. Die Nachfrage übersteigt das Angebot an räumlichen Ressourcen.

Daß Tennisspielen eine privilegierte Pausenaktivität darstellt, bedeutet zugleich, daß es die Spielerinnen im Spiel exponiert. Würde man aus großer Höhe auf das Spielfeld herabblicken, nähme man es im Vergleich zur Umgebung als leeres Feld mit nur zwei Figu­ren wahr. Die Grenzen des Feldes wären dadurch sichtbar, daß es nicht bevölkert ist. Die Ausgedehntheit des Spielterritoriums läßt das Provokationspotential erahnen, das solche Spiele im Rahmen von Schulpausen für andere Kinder mit sich bringen. Die Störanfällig­keit des Tennisspiels korrespondiert mit seinem territorialen Anspruch.

Interessant ist dann, wie Uwe und Alexander das Spiel Judiths und Tanjas als „Repor­ter“ ‚umspielen‘. Sie halten sich dabei außerhalb des Spielfeldes auf, dringen aber sozu­sagen akustisch in das spielerische Territorium ein. Während Alexander die Lust verliert, geht Uwe dann weiter und begibt sich, indem er sich als Netz darbietet, ins Zentrum des Spielfeldes. Seine Intervention ist insofern geschickt, als er sich den Mädchen als Ersatz für ein Spielgerät anbietet, das dem Spiel genaugenommen fehlt – anders als Malte, der es auf eine Unterbrechung des Tennisspiels anlegt, wenn er versucht, den Ball zu klauen. Folglich qualifiziert die Beobachterin Uwes Verhalten als dosierte Provokation, was be­deuten soll, daß die Spielerinnen die Wahl haben, wie sie reagieren wollen.

Bezogen auf Uwe bedeutet es, daß er seine Provokation, die zweifellos eine ist, inso­fern er ins Spielfeld eindringt und den Spielerinnen die Sicht versperrt, abzumildern ver­steht. Oswald (1997) weist im Zusammenhang seiner Interpretation von Kampf- und Tobespielen im Anschluß an G. H. Mead (1968) darauf hin, daß die Bedeutung einer Handlung in ihrer Antworthandlung liegt. Er bezieht sich außerdem auf die Anforderung an die Spieler in unreglementierten Spielen, fortgesetzt am Rahmen ihrer Aktivitäten zu arbeiten (im Sinne von Goffmans (1977) Rahmenanalyse). Für Judith und Tanja stellt sich die Frage, ob sie den Rahmen ihres ursprünglichen Spiels aufrechterhalten wollen, dann müssen sie Uwe auszuschließen versuchen, oder ob sie den Rahmen modifizieren und ihn integrieren. Sie entscheiden sich für einen dritten Weg: Weder vertreiben sie Uwe noch beziehen sie ihn ein. Mit ihrer (nach Ansicht der Beobachterin zur Schau gestellten) Ignoranz halten sie die eigene Interpretation der Situation in der Schwebe, es ist nicht ent­scheidbar, ob sie sich ernstlich gestört fühlen oder aber die ‚Störung‘ begrüßen.

Wie verhält es sich nun mit der Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit der Akteure? Man muß zunächst darauf hinweisen, daß diese von den Akteuren an keiner Stelle thema­tisiert wird. [2]  Das spielerische Territorium definiert sich nicht über Geschlecht, es ist als solches schon von Verletzung bedroht, sowohl durch Jungen wie durch Mädchen. Als Uwe sich als Netz anbietet, gewinnt man jedoch den Eindruck, daß er sich den Mädchen als Junge in den Weg stellt. Dieser Eindruck wird nicht nur durch den Kontext der Situa­tion, nämlich den Umstand vermittelt, daß das Spielfeld auch schon zuvor von einer gan­zen Reihe Jungen umlagert wurde, sondern auch dadurch, daß Uwe und Alexander vorher und nachher als Sportreporter kooperieren und darin das Spiel von Judith und Tanja eben­falls anders rahmen, als diese es selbst ursprünglich getan haben. Die ‚Sportreporter‘ ver­einnahmen das Spiel der Tennisspielerinnen, sie greifen die Exponiertheit der Spielakti­vität auf, stellen die Spielerinnen auf eine imaginäre Bühne und machen sie zum Objekt ihres eigenen Spiels. Als entscheidender für die Interpretation der Situation, in der Uwe sich als Netz anbietet, erweist sich jedoch die interne Strukturveränderung des Spiels. Sie läßt vermuten, daß Uwe das Spiel der Mädchen durch sein Eindringen und seine zentrale Platzierung zu einem geschlechtlich definierten Territorium macht. Der zweite Beobach­ter, der in dieser Pause Uwe und Alexander begleitet hatte, interpretierte die Situation so: „Während vorher die sportliche Übung, den Tennisball zu treffen, im Vordergrund stand, ergab sich durch die Aktion Uwes eine ganz neue Aufladung der Situation. … Mir wurde als Beobachter nicht deutlich, ob die Tennisschläge Tanjas und Judiths darauf zielten, an dem in der Mitte stehenden Uwe vorbeizuspielen oder gerade darauf, ihn zu treffen. Je­denfalls aber war jetzt jeder gespielte Ball auf Uwe und dessen Reaktionen bezogen“ (Breidenstein 1994, S. 104).

Uwe bietet seinen Körper als denkbar ambivalentes Objekt an: als menschliches Hin­dernis einerseits und als Zielscheibe andererseits. Steht die Verletzung des Spiels von Ju­dith und Tanja durch Uwe auf der einen Seite, so ist die Verletzbarkeit Uwes als Netz durch Judith und Tanja auf der anderen Seite zu konstatieren. Mit seinem Eindringen bietet Uwe gleichzeitig einen Ausgleich, eine Kompensation für seine Verletzung des spielerischen Territoriums an. Diese Ambivalenz erzeugt die Spannung in der Situation, die auch dafür verantwortlich sein mag, daß Judith und Tanja sich nicht dafür entscheiden, Uwe zu vertreiben. Die Spannung erzeugende Ambivalenz liegt auch in der komplexen Struktur des Spiels: „Ist nicht gerade der Rahmen des ursprünglichen Spiels notwendig für das andere, das ‚Spiel innerhalb des Spiels‘?“ (Breidenstein 1994, S. 105). Der be­reits etablierte spielerische Rahmen wird gewissermaßen beliehen für die Aufforderung, das Eindringen Uwes nicht als Störung und damit „ernst“ zu nehmen, sondern es als Spaß zu integrieren. In jedem Fall ermöglicht der spielerische Rahmen, daß Uwe gewisserma­ßen nicht sich selbst als Objekt anbietet, sondern daß er das Netz ‚vertritt‘, und als solches wird er dann überspielt, beschossen und getroffen.

Und doch: die Tatsache, daß Uwe in das Spielterritorium eindringt und sich zum Ob­jekt des Spiels der Mädchen macht, verweist nicht zwingend darauf, daß es die Ge­schlechtszugehörigkeit ist, die hier das spielerische Gegenüber strukturiert. Ist es vorstell­bar, daß ein anderes Mädchen wie Uwe agierte, mit gleichen Effekten? Mit der Untersu­chung der territorialen Geschlechterspiele entsteht für die ethnographische Forschung, wie bereits erwähnt, ein methodologisches Problem: Wie läßt sich von der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Analyse sprechen, wenn die Spielerinnen und Spieler sich nicht explizit auf „Mädchen“ und „Jungen“ beziehen?“ Entschließt man sich als Forsche­rin, nur solche Situationen zu beschreiben, in denen die Teilnehmer selbst ihre Geschlechtszugehörigkeit explizit ‚aktivieren‘, läuft man Gefahr, subtile, aber bedeutsame Praktiken der Geschlechterunterscheidung zu verpassen. Die methodische Schwierigkeit in der Interpretation solcher Szenen liegt außerdem darin, daß diese die ambivalente Hal­tung der Teilnehmerinnen in der Situation aufzugreifen hat. Eine Geschlechteropposition kommt hier nicht zum offenen Ausbruch, es ist aber, als sei sie latent im Spiel. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Die unentschiedene Interpretation der Situation durch die Akteurinnen läßt sich auch im Nachhinein nicht auflösen. Die Beobachterin war zwar durch die Bezeichnung als „Arschlöcher“, mit der Judith und Tanja das Ankommen von Uwe und Alexander ‚be­grüßten‘, ohne daß diese es hören konnten, auf eine Opposition zwischen Spielerinnen und ‚Störern‘ eingestellt, die sich vermutlich auf anderweitige Erfahrungen aller Beteilig­ten gründete. Judith und Tanja überraschten die Beobachterin dann aber am Ende der Pause mit der Ankündigung, sie wollten eine „Beschwerde machen“, und zwar nicht über Uwe, sondern über die großen Jungen, die doch immer wieder gestört hätten. Dies war der Aufmerksamkeit der Beobachterin entgangen.

Das Spiel von Tanja, Judith und Uwe ist ein Beispiel für ein beiläufiges Spiel zwischen Mädchen und Jungen, das durch ein anderes Spiel eingekleidet wird und sich auf diese Wei­se – und durch das understatement der Akteurinnen – im Pausenalltag ‚versteckt‘. (…)

Spieltheoretische Überlegungen

In neueren Studien zur Körpersozialisation befaßt man sich ganz überwiegend mit der je individuellen „Aneignung“ der Geschlechtsidentität. Demgegenüber zeigen die hier ana­lysierten Beispiele von Kinderspielen, daß Geschlechtlichkeit in der Erzeugung geschlechtsdefinierter Territorien auch in spezifisch spielerischer Weise ‚entäußert‘ wird. Diese Praktika sind im Zusammenhang einer Kulturtheorie der Zweigeschlechtlichkeit bedeutsam. Um ihre Bedeutung zu ermessen, sollen abschließend die spieltheoretischen Überlegungen ausgeweitet werden.

Spiele unterbrechen den gewöhnlichen Alltag, und doch sind sie in den Alltag einge­lassen. Sie etablieren eine Ebene, bei der die Aktivitäten nicht nur nicht bedeuten, was sie, ernstgemeint, bedeuten würden, sondern die Aktivitäten sind auch fiktiv (vgl. Bateson 1985, S. 247) – der Geschlechterkrieg findet damit im doppelten Sinne nur zum Spaß statt. Und doch sprechen Spieltheoretiker vom „heiligen Ernst im Spiel“ (Huizinga 1987, S. 27; vgl. auch Turner 1995). Für Huizinga sind es v.a. die „formalen Kennzei­chen des Spiels“, die seine ‚Heiligkeit‘ konstituieren: es stellt „freies Handeln“ dar, ist keine Pflicht, es ist uninteressiert, erfüllt also keine unmittelbaren Zwecke, und es ist zeitlich und räumlich abgeschlossen und begrenzt. Vor allem diesen letzten Aspekt betont Huizinga (1987, S. 18f.): „Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen. Innerhalb des Spielplatzes herrscht eine eigene und unbedingte Ordnung. … (Das Spiel) schafft Ord­nung, ja es ist Ordnung. In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige, begrenzte Vollkommenheit.“

Ein wichtiges Element der Durchführung von Spielen, auf das Spieltheoretiker eben­falls übereinstimmend hinweisen, ist die Selbstvergessenheit der Mitspieler, die Hingabe ans Spiel. So gilt, was Turner (1995, S. 90) allgemein über den Zustand des „Fließens“ sagt, den man in Spiel und Sport erleben kann, in Ansätzen wohl auch für die beschriebe­nen Geschlechterspiele: „Das ‚Selbst‘, das normalerweise Vermittler zwischen den Hand­lungen zweier Personen ist, wird einfach irrelevant… kein Ich ist vonnöten, das ‚aushan­delt‘, was getan oder was nicht getan werden soll. Die Regeln sorgen für eine Reduktion devianten oder exzentrischen Verhaltens.“ Dabei ist auf eine Differenz hinzuweisen: Die Verhandlung über Regeln ist nicht das Spiel selbst. Das „Fließen“, das Turner so em­phatisch beschreibt, wird pragmatisch gesehen häufig durch einen Ebenenwechsel unter­brochen, denn Regeln wollen ausgelegt sein und werden nicht selten im Spielverlauf in Aushandlungen modifiziert. Ein Gegenstand der spieltheoretischen Überlegungen bei Bateson (1985) sind außerdem die meist implizit bleibenden „metakommunikativen Mitteilungen“ im Rahmen von Spielen, auf die sich Goffman (1977) in der „Rahmen­analyse“ bezieht. Anders als Turner (1995) es nahelegt, handeln die Mitspielerinnen demzufolge fortlaufend auch dann etwas aus – nämlich wann und wie der Boden des Spiels verlassen wird -, wenn sie vordergründig nichts auszuhandeln scheinen.

Der Hinweis auf explizite Regelaushandlungen macht umgekehrt noch einmal auf den ritualisierten Charakter der hier beschriebenen Spiele aufmerksam: Jene Aushandlungen erübrigen sich, weil die Grundstruktur der Territorialität und Polarität der Geschlechter klar ist und die sozusagen implizite Aufgabe darin besteht, neue Variationen zu erfinden. Insofern sind Turners Ausführungen zu differenzieren und nicht etwa ganz zu verwer­fen: Die Individuen werden qua (implizitem oder explizitem) Regelwerk entlastet und können sich insofern dem Spiel ‚hingeben‘.

Auch Turner merkt an, daß Realität in Spielen tendenziell so stark vereinfacht werde, daß sie verständlich, definierbar und handhabbar werde. Schon bei Huizinga und Turner klingt damit an, was Retter (1991, S. 40) neuerdings in systemtheoretischer Perspektive wie folgt beschreibt: Spiele reduzieren Komplexität, „indem sie den Hand­lungsspielraum auf ein gewisses Maß an Kontingenz einschränken“, indem die Aktivitä­ten also über ausgesuchte Ordnungsmerkmale gesteuert werden. In den beschriebenen Spielen wird die Unhinterfragbarkeit der Geschlechtszugehörigkeit zur Ressource und sorgt für die Entlastung der Akteure. Die Gegenüberstellung der Geschlechter besorgt die Orientierung. Nicht qua persönlicher Entscheidung regeln sie ihre Handlungen im Spiel, sondern gemäß den ‚Vorschriften‘ des Spiels, die bis zu einem gewissen Grad die Spieler und Spielerinnen depersonalisieren. Sie sind im Moment des Spiels ausschließlich Ange­hörige ihrer Geschlechtsgruppe. [3]

Die Geschlechterspiele rekurrieren dabei nicht einfach auf die alltägliche Geschlech­terordnung, die sich viel komplexer darstellt, sondern vereinfachen sie bis zur (Un)kennt­lichkeit. Retter (1991, S. 61) weist darauf hin, daß in Spielen nicht nur Komplexität re­duziert, sondern auch gesteigert wird, sie stellen einen Prozeß der Verdichtung dar, inso­fern sie durch ein „Höchstmaß an Selbstorganisation und Selbstreferenz“ bestimmt sind. Orientiert man sich stärker an Begriffen ästhetischer Theorie, so kann man sagen, daß die hier untersuchten Geschlechterspiele die gewöhnliche, außerspielerische Geschlechter­realität weder „abbilden“ noch „nachspielen“ – und sie bereiten in der Form auch nicht auf den erwachsenen Geschlechteralltag vor. In der Vereinfachung liegt vielmehr der äs­thetische Reiz der Spiele: Solange sie dauern, bewegen sich die Spieler und Spielerinnen in einer eigenen Welt, einer Welt für sich. Wesentlichen Anteil an der Vereinfachung, Verfremdung und damit auch Ästhetisierung des Geschlechterarrangements hat die Ent­äußerung des Geschlechts an den Aufenthaltsort. Und wenn Uwe sich als Netz zum Ob­jekt macht, verfremdet er zum einen die Bedeutung des Körpers als Ort von Persönlich­keit und Individualität und zum anderen den Objektstatus, den die Geschlechter wechsel­seitig in vielfältigen Zuschreibungen bekommen. Paradoxerweise nutzen die Kinder im Spiel ihre Geschlechtszugehörigkeit und entledigen sich ihrer zugleich.

Thorne (1993, S. 78f.) stellt fest, daß alle von ihr als „borderwork“ bezeichneten Ak­tivitäten im Rahmen von Spielen stattfinden. Der spielerische Rahmen sorge für die Ambiguität der Aktivitäten und die Erzeugung von Spannung, dahinter stünden „aggression and sex as dangerous desires“. An dieser Stelle orientiert Thorne ihre Interpretation aus­nahmsweise an psychoanalytischen Betrachtungsweisen und identifiziert im (heterosexu­ellen) Begehren einen Dynamo der in Rede stehenden Spiele. Der enge Konnex von Körpersozialisation und Sexualität, der sich in neueren Jugendstudien findet (vgl. z.B. Helfferich 1994; Kolip 1999), bestimmt hier also auch die Perspektive Thornes: Die Aneignung der Geschlechtsidentität ist für eine Reihe von sozialisatioristheoretischen Studien gleichbedeutend mit der Ausbildung heterosexueller Orientierung.

Dennoch wäre vermutlich das Fest, das die Kinder mit solchen Spielen feiern, weniger glanzvoll, wenn sich einfach je individuelle Bedürfnisse dahinter verbergen würden, die sich im gemeinschaftlichen Spaß ausleben ließen. Breidenstein demonstriert im Zu­sammenhang seiner Studie zum „Sexualitätsdiskurs“ unter Schulkindern, daß „es (sozi­alwissenschaftlich) produktiver“ sein kann, (Hetero)Sexualität nicht als Motiv und Vor­aussetzung, sondern als Produkt sozialer Praktiken zu betrachten (Breidenstein/ Kelle 1998, S. 155). Er untersucht vielfältige Formen – Anspielungen, Beleidigungen u.a. – in denen Kinder Sexuelles thematisieren.

Im Falle des Gegenstandsbereichs nichtsprachlicher spielerischer Aktivitäten stellt sich die Umsetzung der angesprochenen Heuristik auf den ersten Blick als schwieriger dar, geht es doch darum, einen Zugang dazu zu finden, was die Kinder hier tun, ohne darüber zu sprechen. Gleichwohl ist die von Breidenstein vorgeschlagene Perspektive auch hier anwendbar. Bereits Huizinga (1987, S. 25) richtet seine Kritik gegen kulturtheoretische Reflexionen, die entweder danach fragen, welche Triebe oder Instinkte Spielen zugrundeliegen, oder danach, welchen Zweck sie erfüllen. Darin sieht er, mit Frobenius, „schlimmste Kausalitätstyrannei“ und „eine veraltete Nützlichkeitsvorstellung“. Mit Fuhs (1997, S. 27) läßt sich diese Argumentation ergänzen: „Die Verschiebung der Bedeutung des Spielens auf nicht sichtbare, innerpsychische Funktionen aber führt zu einer unter­schwelligen Abwertung des Spielens selber“. Solcherart auf die immanente Analyse von Spielen als Praxis verwiesen, läßt sich für die vorliegenden Beispiele sagen, daß erotische und sexuelle Konnotationen nicht deshalb immer schon in den beschriebenen Spielen mitschwingen, weil die Kinder eben einen ‚geschlechtlichen‘ Körper und heterosexuelle Bedürfnisse haben, sondern weil die binäre Struktur der Kategorie Geschlecht mit einer entsprechenden (heterosexuellen) Aufladung von Situationen besonders gut korrespon­diert, die sich über dieses Klassifikationskriterium strukturieren. [4]

Die Kollektivierung der Akteure in Geschlechtsgruppen, die diese Spiele betreiben, ist nicht eingleisig als Zweck für anderes – Erfüllung individueller Bedürfnisse – mißzuverstehen. Die territorialen Praktiken ermöglichen gerade, das Selbst zurückzunehmen – und die eigene Person ‚in den Dienst‘ einer Sache zu stellen. Der Kampf um die zum Spaß geschlecht­lich definierten Territorien ermöglicht es, Praktiken anzuwenden – treten, hauen, zergeln u.a.m. -, für die man unter normalen Umständen ganz anders persönlich zur Verantwortung gezogen würde. So betrachtet sind Territorialisierung und Kollektivierung Zwecke in sich selbst: Sie setzen die gewöhnliche Interaktionsordnung außer Kraft bzw. verschieben ihre Schwellen und erweitern damit den Handlungsspielraum aller einzelnen. Sie entindividuali­sieren die Akteure und dissoziieren den Zusammenhang von Geschlecht und Individuum.

In Bezug auf das Zusammenspiel von Individualisierung und Kollektivierung stellen die hier untersuchten Spiele damit einen besonderen Fall unter den Geschlechterspielen dar. Verliebtheitsspiele (Zettelspiele, Lotterien) organisieren die Zusammenstellung eines Jungen mit einem Mädchen zu einem Paar, und zwar nach dem Zufallsprinzip – sie konterkarieren darin erwachsene Vorstellungen von Partnerwahl als individuelle und private Angelegenheit (vgl. Breidenstein/Kelle 1998, S. 183ff). „Mädchen-fangen-Jungen“, „Knutschpacken“, „Kiss-and-Chase“ (Spiele, die Fangen und Küssen verbinden) kollek­tivieren ebenfalls die Mitspieler in Geschlechtsgruppen, funktionieren aber nicht als Lot­terie – man hat in der Hand, wen unter den Mitspielern des anderen Geschlechts man fängt (und küßt). Diese Spiele betonen im Effekt also das Element individueller Attrakti­vität beim anderen Geschlecht, behaupten aber nicht, ein Liebespaar zu formieren. Indem immer nur einer oder eine agiert, der oder die aber zu einer Geschlechtsgruppe gehört, erlauben es diese Spiele, individuelle Präferenzen im kollektiven spielerischen Rahmen zugleich unterzubringen und zu ‚verstecken‘ (vgl. Breidenstein/Kelle 1998, S. 38ff; vgl. auch Sutton-Smith 1972, S. 489). Beide Formen eröffnen je spezifische Möglich­keiten individueller ‚Objektwahl‘ oder ‚Partnerzuordnung‘ im Schutze und einge­schränkten Geltungsbereich des Spiels. Anders die Territorienspiele: Sie betonen weder den Aspekt individueller Wahl noch Attraktivität, sie können die einzelnen im Gegenteil für Momente vergessen machen, vor welchen Anforderungen sie als Individuen (in einer heterosexuell akzentuierten Kultur) stehen. Die Form der Kollektivierung, die sie weitge­hend ohne sprachliche Vermittlung und ohne Bezug auf die einzelnen als Personen, viel­mehr durch gemeinschaftlichen Körpereinsatz betreiben, formieren die Geschlechtsgrup­pen als Mannschaften, die gemeinsam agieren müssen, um dem Sinn des Spiels zu ent­sprechen. Wenn in diesen Spielen Sexuelles mitschwingt, dann in Form eines kollekti­vierten, relativ entgrenzten Körperkontakts – der in den anderen Spielen entweder nicht vorkommt oder nur als stark reglementierter und auf das Küssen fokussierter.

Die Geschlechterspiele der Schulkinder müssen also im Hinblick auf ihre Struktur und Effekte sehr differenziert betrachtet werden. Dennoch soll in Bezug auf die Territorien­spiele, um die es hier ging, auch noch ein etwas allgemeinerer Schlußpunkt gesetzt wer­den. Thorne (1993, S. 87) bemüht nicht nur – passagenweise – psychoanalytische Theo­rie, sondern sie bezieht sich auch auf Spiel- und Kulturtheorie, wenn sie darauf hinweist, daß Spiele und Rituale eine bestehende Ordnung der Wirklichkeit sowohl betonen als auch kommentieren und herausfordern können (vgl. auch Grugeon 1993, S. 30). Mit Bezug auf Geertz (1983) Interpretation des balinesischen Hahnenkampfes als „metaso­zialen Kommentar“ zu Hierarchisierungen schreibt Thorne borderwork-Aktivitäten eine vergleichbare kulturtheoretische Bedeutung zu.

Sie kommentieren in unseren Beispielen nicht nur die Geschlechterordnung (innerhalb der peer culture), sondern auch die schulische Hausordnung: Sie realisieren für kurze Zeit, was jene verbietet. Als die Lehrerin im zweiten Beispiel wieder auf der Bildfläche erscheint, kooperieren die Schüler mit ihr darin, diese Ordnung wieder herzustellen: All das, was gerade noch stattgefunden hat, ist nun nicht nur wieder verboten, sondern wird auch reinterpretiert und wieder in die schulische Ordnung eingepaßt. Darin manifestiert sich zugleich noch einmal der Sonderstatus des Spiels.

Im Zusammenhang der Praktiken der Geschlechterunterscheidung kommt Geschlech­terspielen, die sich nicht vorrangig über Sprache organisieren, auch deshalb eine besonde­re Rolle zu, weil sie sich einer inhaltlichen Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit ge­rade enthalten. Fehlt den beschriebenen Praktiken die inhaltliche Definition der Ge­schlechterdifferenz, muß sich die Interpretation auf die formalen Effekte der spezifischen Unterscheidungen nach Geschlecht konzentrieren. Thornes kulturtheoretische Überle­gungen erscheinen deshalb als treffend, weil sie die Interpretation für die in die Spiele eingelassenen Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten öffnen (vgl. auch Sutton-Smith 1997): Mädchen und Jungen gehören in diesen Spielen zu gegnerischen Parteien, und doch sind sie auch symmetrisch angeordnet und kooperieren in einem gemeinsamen Spiel. Im Sinne eines metakulturellen Kommentars auf die Geschlechterunterscheidung bringen Territorienspiele der Form nach das implizite Wissen zum Ausdruck, daß die Geschlechter sowohl verschieden als auch gleich sind.

Fußnoten:

1) Wenn Thorne (1993, S. 36) den Schulalltag als „Choreographie von Separation und Integration“ oder Kalthoff (1996, S. 164) ihn als „einen Rhythmus von Separation und Aggregation“ beschreibt, dann betrachten sie ihn von außen, mit Abstand und sozusagen im Zeitraffer. Sie entwickeln in diesen Begriffen eine interessante ethnographische Darstellung des koedukativen Schullebens; sie identifizieren aber auch die Teilnehmer nach Geschlecht, unabhängig davon, ob diese selbst dies im Zuge ihrer Aktivitäten tun oder nicht. Thorne (1993, S. 9) benennt selbst dieses methodologische Schwierigkeit im Blick behalten, wenn danach gefragt wird, wie die Teilnehmer selbst ihre Geschlechtszugehörigkeit ‚aktivieren‘.

2) Die hier behandelten Spiele unterscheiden sich damit deutlich von den sprachlich vermittelten Inszenierungen der Geschlechterdifferenz im Necken und Ärgern, bei der Geschlechtsunterschiede gerade das Material der neckenden Rede darstellen (vgl. Breidenstein/Kelle 1998, S. 204ff).

3) Zur Reifizierungsproblematik in der Geschlechterforschung, d.h. zur voraussetzungsreichen Verwendung der Geschlechtsunterscheidung, die doch erst untersucht werden soll, vgl. dazu Kelle (1997b; 1999).

4) „Klassen“ heißen in der Laborschule „Gruppen“. Die „Fläche“ ist der einer Gruppe zugeteilte Klassenraum, der jedoch ganz überwiegend nicht durch Wände und Türen zu anderen Flächen abgegrenzt ist.

5) Geschlechtszugehörigkeit als interaktive Ressource ist nicht spezifisch für Spiele (vgl. Breidenstein/Kelle 1998). Spielspezifisch ist aber die ungebrochene, unreflektierte Polarisierung.

6) In seiner Einteilung von Untersuchungen des Phänomens Spiel unterscheidet Schäfer (1995, S. 161) zwischen funktionsorientierten und strukturdynamischen Positionen der Spielforschung. Legt man diese Einteilung zugrunde, so kann man meine Studie unschwer der zweiten Position zurechnen

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