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Falldarstellung

Da mit der Formulierung von Zielen noch keine pädagogische Praxis gestaltet ist, wird es im folgenden um die pädagogisch-didaktischen Formen des Um­gangs mit ethnischer Differenz und um die Ambivalenzen gehen, die meiner These entsprechend auch jene kennzeichnen dürften. Was – so ist zu fragen – unternehmen Pädagogen in der Schule, wenn sie die anspruchsvollen interkul­turellen Erziehungsziele ,Toleranz’, ,Respekt’ und ,Anerkennung’ in Unter­richtspraxis zu transformieren suchen? Wie gestaltet sich deren pädagogische Konkretisierung, wie gehen Lehrerinnen und Lehrer mit Ambivalenzen und Ambiguitäten um, in die ihr Handeln der Struktur nach führen muß? Diese Fragen kann ich an dieser Stelle weder erschöpfend noch im Sinne einer empi­rischen Beweisführung, sondern nur illustrierend diskutieren: am Beispiel der pädagogischen Form einer situativen (1) und einer curricularisierten Themati­sierung (2) von Differenz in der Praxis des Kindergartens bzw. im schulischen Unterricht. Damit soll der pädagogische Umgang mit ethnischer Differenz zum einen auf der Ebene situativer Reaktionen auf unplanbare Ereignisse, zum anderen auf der Ebene elaborierten und vielfach abgesicherten Wissens von Curriculumkonstrukteuren, etwa Schulbuchautoren, beleuchtet werden.

Die situative Thematisierung ethnisch codierter Differenz

Eine Szene aus dem Kindergarten kann die situative Thematisierung in ihrer strukturellen Problematik veranschaulichen und vermag sogar vage auf unbe­absichtigte, ja paradoxe Wirkungen zu verweisen. Sie wurde von mir bereits andernorts dokumentiert (vgl. DIEHM 1995, S. 151):

Frau Z. (die Erzieherin) schlägt den Kindern vor, einen Stuhlkreis zu bilden, damit wir uns gegenseitig vorstellen können. Sofort beginnen einige Mädchen, Stühle herbeizuschaffen. Frau Z. bittet alle Kinder in den Kreis, und wir beginnen die Vorstellung mit mir.

Ich sage meinen Namen, mein Alter und erzähle den Kindern, wo ich wohne und daß ich in den Kindergarten gekommen sei, zu sehen und aufzuschreiben, was sie spielen. Die Kinder fahren mit der Vorstellung fort. Einige jüngere Kinder sind sehr schüchtern, sie möchten kaum ihren Namen sagen. Die älteren Kinder verhalten sich in dieser Gesprächssituation da­gegen relativ offen und vertrauensvoll, sie teilen ihren Namen mit, manche sagen ihr Alter, und auf das Nachfragen von Frau Z erzählen einige Kinder, daß sie oder ihre Eltern aus ei­nem anderen Land als Deutschland kommen. Der vierjährige P. erzählt, daß er ein Spanier sei, seine Mama käme aus Deutschland, aber er sei wie sein Papa ein Spanier.

Ein großer Teil der jüngeren Kinder kann mit dieser Frage aber gar nichts anfangen. Sie rea­gieren mit Unverständnis und antworten nicht. Zwei Kinder antworten auf Frau Z.s Nachfra­ge, sie kämen aus Niederrad (einem Stadtteil von Frankfurt, I.D.) bzw. Frankfurt. Frau Z er­gänzt die Antworten, indem sie sagt: „Ja, M., Du wohnst jetzt in Niederrad, geboren bist Du in Polen und S. ist in Indien geboren.“ „Aber ich bin ein Deutscher!“ erwidert M., der polni­sche Junge.

Interpretation

Die Szene wurde im Rahmen eines längerfristig angelegten Projekts zur Ent­wicklung einer „multi- bzw. interkulturellen“ pädagogischen Konzeption für diesen speziellen Kindergarten beobachtet. Die Erzieherinnen der Einrichtung hatten sich vorgenommen, als Antwort auf die „multikulturelle Gesellschaft“ Bundesrepublik, ihre „multikulturelle“ Stadt und die „multikulturelle“ Zusam­mensetzung der Kindergartengruppen mit einer Revision ihrer pädagogischen Zielsetzungen und Vorgehensweisen zu reagieren: durch Hinwendung zur In­terkulturellen Pädagogik. Die Absicht, ethnische Differenz – seien es kultu­relle, religiöse, nationale oder phänotypische Unterschiede – ausdrücklich an­zuerkennen und die Vorschulkinder dementsprechend zu erziehen, spricht aus Frau Z.s Argumentation. Hierfür muß sie die in Rede stehenden Unterschei­dungen ins Gespräch und ins Bewußtsein der Kinder bringen. Bei den jüngeren Kindern stößt sie damit auf Unverständnis, was vor dem Hintergrund sozial­psychologischer Forschungsergebnisse zur sozial-kognitiven Entwicklung im frühen Kindesalter nicht verwundert (vgl. ABOUD 1988; KATZ 1983). Danach werden ethnische Kategorisierungen und deren soziale Bewertungen erst im Anschluß an die Kategorisierung nach Geschlecht und die daran geknüpften Bewertungen gelernt, so daß mangelnde Vorstellungen zur Unterscheidung ,Nationalität’ bei drei- bis vierjährigen Kindern nichts Außergewöhnliches dar­stellen.

Daß Frau Z. bei ihrem wohlmeinenden Versuch, nationale Differenz zu thematisieren und dabei existierende soziale Bewertungen zu übergehen bzw. um­zudeuten, sogleich scheitert, zeigt die Reaktion des Jungen M., der sowohl von ihr als auch dem Beobachter als „polnischer“ Junge bezeichnet wird. Er weiß offensichtlich schon sehr wohl um die soziale Bedeutung der nationalitätenspe­zifischen Kategorisierung ,Pole’; er muß gelernt haben (vielleicht schmerzlich vor, während und nach der Migration seiner Familie), daß es historisch-soziale Unterschiede macht, ob man in Deutschland ,Pole’ oder ,Deutscher’ ist. Nur so ist zu erklären, daß er sich gegen seine „Gefangennahme“ in einer nicht ge­wollten Nationalität und die Mißachtung seiner Situation zur Wehr setzt. M. kann die Stigmatisierung, die er in seinen Augen als „Pole“ erfährt, nicht hin­nehmen. Er kann nicht verstehen, daß Frau Z. ihn doch gerade befreien will von der Angst, nicht dazu zu gehören oder weniger „wert“ zu sein. Sie wieder­um versteht nicht, daß sozial relevante Bewertungen, die insbesondere der Un­terscheidung ,Nationalität’ anhaften, nicht einfach durch gute, pädagogische Absichten und Wunschkommunikation vom Tisch zu wischen sind. Die auch seine nationale Zugehörigkeit einschließende Anerkennung, die sie M. geben und in Anwesenheit aller Kinder offen zum Ausdruck bringen will, läßt sich lo­gisch nicht durch die abstrakte Anerkennung der Kategorie ,Nationalität’ ver­mitteln (vgl. DOLLASE 1996).

Anders ausgedrückt: Frau Z.s pädagogische, die vermeintliche Herkunft der Kinder präzisierende Intervention richtet sich implizit an unterschiedlichen Anerkennungsverhältnissen aus, was die Erzieherin unverhofft, neben den unbeabsichtigten Effekten einer Stereotypisierung und Stigmatisierung, mit einem weiteren Strukturproblem pädagogischen Handelns im Umgang mit (ethnisch codierter) Differenz konfrontiert: HONNETS (vgl. 1990, S. 1049ff.) Systematik der drei Formen von Anerkennungsverhältnissen, die jeweils Hin­weise auf intersubjektive Wechselbeziehungen geben sollen, unterscheiden zum ersten das ,Leibgebunde Selbstvertrauen’ (1), zum zweiten das ,Anerken­nungsverhältnis des Rechts’ (2) und zum dritten das ,Anerkennungsverhältnis der Solidarität’ (3). Pädagogisches Konzeptualisieren und Handeln kann sich, mit Ausnahme einiger Residuen der erstgenannten Form – zumal im institutio­nellen Kontext der Elementarpädagogik, ausschließlich auf die letztgenannte Form beziehen: das Anerkennungsverhältnis der Solidarität. Hier geht es, wie oben bereits ausgeführt, um das Prinzip der, egalitären Differenz’, das die ,soli­darische Zustimmung zu alternativen Lebensweisen’ und die ,Anerkennung der Subjekte in ihren je individuellen Besonderheiten als lebensgeschichtlich individuierte Personen’ umfaßt. In der Absicht, ihm ,soziale Wertschätzung’ zukommen zu lassen, wendet sich Frau Z. an M., an den anderen in seiner „personalen Andersheit“ (vgl. BENNER 1999; WIMMER 1992), zwängt ihn aber zugleich in das straff sitzende Gewand abstrakter Unterscheidungen wie ,Na­tionalität’ und ,Kultur’. Das aber sind Kategorien, abstrakte Unterscheidungen, die dem ,Anerkennungsverhältnis des Rechts’ zuzuordnen sind. Vorherrschen­des Prinzip dieses Anerkennungsverhältnisses ist der ,universelle Universalis­mus’.

In der wiederkehrenden Vermischung zweier Prinzipien, aber auch von Ka­tegorien, die systematisch jeweils unterschiedlichen Bereichen zugeordnet sind, ist die Ursache für das Strukturproblem zu suchen, in das Interkulturelle Päd­agogik regelmäßig gerät. Denn eine an sich subjektorientierte Pädagogik, die unter den Voraussetzungen eines Anerkennungsverhältnisses der Solidarität generell entfaltet werden könnte, erweitert ihren Geltungsbereich in der subdisziplinären Ausprägung einer Interkulturellen Pädagogik unexpliziert, und – wie ich meine – zu Unrecht auf das in der Gesellschaftspolitik angesiedelte An­erkennungsverhältnis des Rechts. Pädagogik ist nicht Politik, und kann es nicht sein, auch wenn beide in der Ethik, wie schon Friedrich Schleiermacher in seiner Vorlesung von 1826 ausmachte, ihre gemeinsamen Wurzeln haben mö­gen. Ungleiche politische, rechtliche und soziale Teilhabechancen gesellschaft­licher Gruppen sind im Medium der Politik zu überwinden, nicht durch Erzie­hung. Es sei denn, so HANNAH ARENDTS (1986, S. 102) Befürchtung, die ältere Generation versuche, auf dem Rücken ihrer Kinder Konflikte auszutragen, die sie durch Gesellschaftspolitik nicht lösen könne. Wie groß diese Gefahr in der Bundesrepublik ist, kann aus der Tatsache abgeleitet werden, daß hier ganze Bevölkerungsgruppen legal aus Politik und Gesellschaft ausgeschlossen blei­ben.

Frau Z.s Versuch, das große Unrecht im kleinen auszugleichen, führt aner­kennungstheoretisch unweigerlich in ein Dilemma: Die programmatische und performative Anerkennung ethnisch codierter Differenz in pädagogischen Si­tuationen bedient allgemeine (gesellschaftspolitische) Erwartungen mit unan­gemessenen (pädagogischen) Mitteln. Die ,personale Andersheit’ der zu Erzie­henden muß dann zwangsläufig zu kurz kommen, weil das Individuum zum Repräsentanten abstrakter Kategorien wird (vgl. DOLLASE 1996). Gleichzeitig sollen die sozial relevanten ethnischen Differenzmerkmale durch Pädagogik außer Kraft gesetzt werden, um den sozialen Umgang zukünftig weniger zu do­minieren. Pädagogisches Handeln, das sich an diesem Ziel ausrichtete, müßte die in Frage stehenden Kategorien zunächst aber pädagogisch relevant ma­chen, um sie hernach skandalisieren oder als bedeutungslos erklären zu kön­nen.

Fazit

Mit den vorangegangenen Ausführungen sollte, erstens, auf die Ambivalenzen und Ambiguitäten aufmerksam gemacht werden, die dem sozialen Umgang mit ethnischer Differenz inhärent sind. Zweitens ging es darum zu zeigen, daß sich die gleichen Ambivalenzen und Ambiguitäten in der wohlmeinenden in­terkulturellen Umsetzungspraxis sowie in den möglichen Wirkungen eines päd­agogischen Umgangs mit Differenz in der einen oder anderen Weise fortsetzen. Dabei führen Ambivalenzen ganz offensichtlich in Dilemmata, ja, sogar Aporien, die jedoch weniger ein Performanzproblem auf Seiten der Pädagoginnen, als vielmehr ein Strukturproblem Interkultureller Pädagogik darstellen. Unter einer solchen Einsicht verändert sich die erziehungswissenschaftliche Beobach­tungsperspektive auf die pädagogische Praxis im Umgang mit ethnisch codier­ter Differenz.

Auch Professionalisierung hätte, so gesehen, andere Akzente als bisher zu setzen, indem sie Pädagoginnen und Pädagogen nicht umstandslos in ein päd­agogisches Programm einübt, sondern sie gerade mit diesen dilemmatischen Strukturen des Handelns konfrontiert. Es ginge darum, angehende Pädagogen dazu zu befähigen, auch mit Situationen fertig zu werden, in denen es keine „richtige“ Lösung gibt. Zu durchkreuzen wäre die weitverbreitete Neigung, Widersprüche harmonisierend vereindeutigen oder durch Engagement kom­pensieren zu wollen. In professionalisierender Absicht gälte es, die Prämissen, Implikationen und ebenso die möglichen Wirkungen Interkultureller Pädagogik zu erörtern und zu zeigen, daß sie nicht von vornherein die Lösung, sondern erziehungswissenschaftlich ein Problem ist.

Mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Beltz
http://www.beltz.de/de/nc/paedagogik/zeitschriften/zeitschrift-fuer-paedagogik.html

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