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Falldarstellung
Da mit der Formulierung von Zielen noch keine pädagogische Praxis gestaltet ist, wird es im folgenden um die pädagogisch-didaktischen Formen des Umgangs mit ethnischer Differenz und um die Ambivalenzen gehen, die meiner These entsprechend auch jene kennzeichnen dürften. Was – so ist zu fragen – unternehmen Pädagogen in der Schule, wenn sie die anspruchsvollen interkulturellen Erziehungsziele ,Toleranz’, ,Respekt’ und ,Anerkennung’ in Unterrichtspraxis zu transformieren suchen? Wie gestaltet sich deren pädagogische Konkretisierung, wie gehen Lehrerinnen und Lehrer mit Ambivalenzen und Ambiguitäten um, in die ihr Handeln der Struktur nach führen muß? Diese Fragen kann ich an dieser Stelle weder erschöpfend noch im Sinne einer empirischen Beweisführung, sondern nur illustrierend diskutieren: am Beispiel der pädagogischen Form einer situativen (1) und einer curricularisierten Thematisierung (2) von Differenz in der Praxis des Kindergartens bzw. im schulischen Unterricht. Damit soll der pädagogische Umgang mit ethnischer Differenz zum einen auf der Ebene situativer Reaktionen auf unplanbare Ereignisse, zum anderen auf der Ebene elaborierten und vielfach abgesicherten Wissens von Curriculumkonstrukteuren, etwa Schulbuchautoren, beleuchtet werden.
Die curricularisierte Thematisierung ethnisch codierter Differenz
In der Schule erfolgt die Thematisierung von sozial vorgefundenen/konstruierten ethnischen Differenzen zumeist dadurch, daß sie zum Gegenstand/Thema des Unterrichts gemacht, also curricularisiert werden. Insofern operationalisiert Thematisierung den pädagogischen Willen, im Dienste der interkulturellen Lernziele auf Heranwachsende einzuwirken. Die Frage, was geschieht – angeleitet vom Programm einer Interkulturellen Pädagogik – und mit welchen möglichen Wirkungen im Klassenzimmer, legt den Akzent nicht so sehr auf die Klärung, ob Differenz (überhaupt) thematisiert wird, sondern notwendigerweise darauf, wie sie thematisiert wird.
Das Programm der Interkulturellen Pädagogik gibt eine spezifische Beobachtungsform der Realität in der Klasse vor, denn es geht von sozial relevant gemachten ethnischen Differenzen aus, mehr noch: es setzt sie geradezu zwangsläufig voraus. Entsprechend sind es wenige (herausgegriffene) wiederkehrend ethnisch codierte Differenzen, die qua Thematisierung zum Gegenstand des Unterrichts werden. Abstraktionen bzw. abstrakte Kategorien wie ,Ausländer’, ,Deutsche’, ,Flüchtlinge’, ,Fremde’ oder ,Einheimische’ halten auf diesem Wege Einzug ins Klassenzimmer. Der Struktur nach haben sie mit dem konkreten Einzelfall der anwesenden Schülerinnen und Schüler nichts zu tun (vgl. DOLLASE 1996), sondern machen die ethnischen Unterscheidungen, die sozial wiederum Unterschiede machen, am einzelnen Schüler fest. Die anwesenden konkreten Kinder dienen mithin ihrer Bestätigung und nachträglichen Legitimation, und dies obwohl doch die ubiquitäre ethnische Differenzierungs- und Diskriminierungspraxis durch den pädagogisch angestrebten toleranten und anerkennenden sozialen Umgang bzw. die Haltungen/Einstellungen ,Toleranz’ und ,Respekt’ in ihrer weitreichenden Bedeutung außer Kraft gesetzt werden sollen. Die erste Wirkung curricularer Thematisierung ist die Aktualisierung der Unterscheidungen. Ethnisch codierte Differenzen bilden also die notwendigen Referenzen für didaktische Ansatz- und Ausgangspunkte. Sozialkonstruktivistisch gedacht (vgl. BERGER/LUCKMANN 1969; KNORR-CETINA 1989) wird eine sozial gängige Unterscheidungspraxis, die zugleich immer auch Bewertungspraxis ist, im Curriculum institutionalisiert und damit stabilisiert. Anders: Die Schülerinnen und Schüler werden mit Kategorisierungen konfrontiert, auf denen die bestehende sozial-ethnische Ordnung basiert, und sie sind durch die Unterrichtssituation gehalten, diese Unterscheidungen zu reproduzieren und auf sich selbst anzuwenden. Vergleichbar dem in der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung weithin bekannt gewordenen ethnomethodologischen Konzept des sogenannten ,doing gender’ (vgl. WEST/ZIMMERMAN 1987), das den sozialen und individuellen Herstellungsmodus von Geschlechterdifferenz, -identität und -verhältnissen vor allem mit Interaktion erklärt, ließe sich in diesem Falle von einem ,doing ethnicity’ durch pädagogisch-didaktische Intervention sprechen (vgl. DIEHM 1999).
Curricularisiert wird auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Ebene von Lehrinhalten, wie sie in Rahmenrichtlinien und -plänen ebenso wie in Schulbüchern vorgegeben sind, und auf der Ebene realisierten Unterrichts, in sorgfältig geplanten didaktischen Einheiten. Richtlinien und Schulbücher stellen Curriculummaterial dar, das in Expertenkommissionen und Prüfungsgremien vielfach abgesichert wurde. Wäre im vorangegangenen Fall der situativen Thematisierung im Kindergarten noch einzuwenden, bei dem in sein Gegenteil verkehrten Versuch, interkulturell zu erziehen, handele es sich um ein Performanzproblem auf Seiten der Erzieherin, deren pädagogisches Handeln zwar als wohlmeinend, aber unbedarft und uninformiert beurteilt werden müsse, so ist im Falle der curricularisierten Thematisierung weder von Zufälligkeiten noch von Konzeptionslosigkeit auszugehen.
Vielfältige und repräsentative Beispiele für die curricularisierte Thematisierung ethnisch codierter Differenz finden sich in Schulbüchern (vgl. GEIGER u.a. 1997; HÖHNE/KUNZ/RADTKE 1999). Genaue Strukturanalysen dieses Materials können veranschaulichen, welche Fallstricke ausliegen, wenn ethnische Differenz bei den allerbesten Absichten zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird. Hier kommt es vor allem darauf an, dem ,heimlichen Lehrplan’ der Schulbuchseiten auf die Spur zu kommen (vgl. DIEHM/RADTKE 1997). Mehr oder weniger durchgängig finden sich die immer gleichen Thematisierungsmuster, allen voran solche, die ,Ausländer’ und ,Deutsche’ ethnisch, zumal national codieren und gemäß der in der Gesellschaft relevanten Bildung von ,Wir- und Sie-Gruppen’ auseinanderdividieren.
So unterscheidet auch eine Schulbuchseite aus dem Arbeitsheft zum Sachunterricht für das dritte Schuljahr der Grundschule (1993) [1] unter dem Titel „Menschen aus aller Welt“ in einer mit Fotos versehenen Portraitleiste vier Kinder im Alter der adressierten Drittkläßler. Der Titel erweist sich schnell als ein Euphemismus, denn letztendlich geht es doch um das Leben der Kinder von Arbeitsmigranten aus Südosteuropa (ehemals ,Gastarbeiter’) und somit um die in jeder Schulklasse anzunehmenden Migrantenkinder selbst. Die praktizierte Aufspaltung fällt mit der gängigen sozialen Codierung zusammen, mit der die nach nationaler Herkunft sortierten Gruppen in ein Prestige-, Status- und Machtgefälle eingeordnet werden: zuerst der blonde Junge aus Hamburg, dessen Vater bei einer Bank arbeitet, dann das düster dreinblickende Mädchen, das aus Kroatien stammt, in Frankfurt aufgewachsen ist und dessen Eltern auf dem Bau bzw. als Reinigungskraft im Büro tätig sind; sodann der Junge, der zu Hause Spanisch spricht und dessen Eltern in einem Kaufhaus arbeiten, sowie schließlich das Mädchen, das aus der Türkei kommt und dessen Vater bei der Stadt, die Mutter in einer Großküche arbeiten. Mit den auf diese Exposition der ethnischen Ordnung folgenden Arbeitsaufforderungen an die Schülerinnen und Schüler wird die Bildung von ,Wir- und Sie-Gruppen’, wie in vielen anderen Schulbüchern auch, explizit in die Klassen hineingetragen:
„In Frankfurt arbeiten und wohnen viele Menschen aus anderen Landern. Viele sind gerufen worden, als hier Arbeitskräfte fehlten. Andere sind gekommen, weil sie hier Arbeit suchten. Haben sie ein Recht, hier zu sein?
Sprecht in der Klasse über folgende Fragen und notiert alle möglichen Antworten:
– Wo werden ausländische Arbeitskräfte gebraucht?
– Wohin fahren Ivanka, Pedro und Fatma in den Ferien?
– Wie könnte sich ein Wiedersehen mit Verwandten in der Heimat abspielen?
– Warum bleiben ausländische Familien in Frankfurt?
– Welche Vorurteile und Schimpfworte müssen manche Ausländer ertragen?
– Warum sind manche Deutsche gegen Ausländer?
Stellt euren ausländischen Mitschülern Fragen. Sie werden sicher gern von ihrem Leben in Frankfurt erzählen.
Manche kennen auch noch ihre alte Heimat…“
Interpretation
Sätze wie diese heften den Kindern von Migranten nicht nur immer wieder das Stigma der Fremden an, was der Reproduktion einer Dauerkränkung gleichkommen muß, sondern sie signalisieren ihnen subtil, aber deutlich, daß sie hier nicht „dazu gehören“. Indem sie zu authentischen Vertretern ihrer vermeintlichen nationalen Heimatkultur erhoben werden, wird im Grunde ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik noch im Klassenzimmer zur Disposition gestellt: „Haben sie ein Recht, hier zu sein?“ oder „Warum bleiben ausländische Familien in Frankfurt?“ Mit der Unterscheidung ,Ausländer’ – über die im Unterricht gesprochen werden soll – versus ,Einheimische’, die sich Gedanken machen sollen, geht die pädagogisch höchst fragwürdige Konsequenz einher, daß ein Teil der Klasse zum Anschauungsobjekt (Lerngegenstand) für den anderen Teil gemacht wird. Was gewiß in guter pädagogischer Absicht geschieht, führt wohl unvermeidbar zu einer kulturalistischen und sozialen Stereotypisierung der Migrantenkinder sowie ihrer Objektivierung. Es ist der „weiße Blick“, der sie zu Objekten macht und der deshalb von Fantz Fanon als Grundstruktur des Rassismus bezeichnet wird (vgl. 1952/80, S. 71ff.). Scham-[2], Schuld- und Rechtfertigungsgefühle der Migrantenkinder scheinen dadurch vorprogrammiert, was ihrer Selbstwertentwicklung nicht zuträglich sein kann.
Derartige Thematisierungsversuche heben offenkundig darauf ab, Einsichten in die Selbstverständlichkeit des multikulturellen Zusammenlebens einerseits mit den real existierenden sozialen Stratifizierungen/Benachteiligungen andererseits zu vermitteln. Der didaktischen Aufarbeitung solcher Ziele für den Unterricht sind intentional die Ideale Toleranz gegenüber und Anerkennung von ethnischer Differenz unterlegt. Sie lassen sich rekonstruieren über die auch ip der herangezogenen Schulbuchseite auffindbaren Versuche, Informationsdefizite vor allem auf Seiten der ethnischen „Mehrheit“ abzubauen sowie deren Aufklärung dadurch voranzutreiben, daß Verständnis für „die Ausländer“ und ihre miese Situation geweckt wird. Die Vorstellung von Toleranz als einem notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zur vollumfänglichen Anerkennung mag hier ganz im Sinne BAUMANS unterlegt sein. In den didaktisch dargebotenen Inhalten scheinen jedoch auch die anderen Dimensionen des oben diskutierten Toleranzbegriffs auf: Toleranz in ihrem duldenden Sinne und Tolerieren im Sinne eines Gewährenlassens bis auf weiteres, das aber auch jederzeit aufgekündigt werden kann. Alle zitierten Aussagen und Fragen der Schulbuchseite strukturieren die Unterrichtssituation, indem sie die Adressaten in „einheimische“ Schülerinnen und „fremde/ausländische Mitschüler“ auseinanderdividieren und sie hie zu Aktiven, da zu Objekten und zugleich Opfern machen.
Das Toleranzgebot, das dem in Teilen wiedergegebenen Sachunterrichtsmaterial implizit ist, erweist sich als eines, das Asymmetrien im sozialen Arrangement einer Schulklasse produziert, re-produziert und reifiziert. Wohlmeinende Erziehungsabsichten stehen so in der Gefahr, in ihr Gegenteil verkehrt zu werden, wenn das Subthema des heimlichen Lehrplans lautet: Die in Rede stehenden Differenzen, die hier pädagogisch als tolerierbar und anerkennenswert beschworen werden, sind nicht nur für die bestehende, Ungleichheit produzierende und perpetuierende ethnisch-soziale Ordnung konstitutiv, sondern sie setzen die sozialen Dominanz- und Subordinationsverhältnisse in der Struktur didaktisch aufbereiteter, pädagogischer Situationen fort. Ambivalenzen und Dilemmata, die dem pädagogischen Umgang mit ethnischer Differenz in Gestalt ihrer curricularisierten Thematisierung innewohnen, sind vor diesem Hintergrund klar erkennbar: auf der einen Seite die kaum zu umgehende Gefahr der Kategorisierung/Stereotypisierung und Stigmatisierung von Schülerinnen und Schülern und der Reifizierung asymmetrischer sozial-ethnischer Verhältnisse durch Pädagogik; auf der anderen Seite die Gefahr des Ignorierens von Unterschieden in den Lebensgeschichten und -erfahrungen von Individuen, die deren persönliche Entwicklung nachhaltig prägen und die Grundlage für Individualität überhaupt bilden.
Im Sachunterricht etwa das Thema „Meine Stadt“ zu behandeln, ohne den sozialen Aspekt ,Migration’ sowie kulturelle Unterschiede in der Bevölkerung in Rechnung zu stellen, käme genau jener Ignoranz gleich, die Interkulturelle Pädagogik überwinden will. Schülerinnen und Schüler mit eigenem oder familialem Migrationshintergrund jedenfalls könnten sich in einer solchermaßen aufbereiteten Unterrichtseinheit nicht wiederfinden. Das Thema aber in der oben beschriebenen Weise zu bearbeiten, bietet – so sollte gezeigt werden – ebenfalls keine didaktische Alternative.
Unter Berücksichtigung dieser Ambivalenzen, die die curricularisierten Formen einer interkulturellen Erziehung, die zugleich eine Erziehung zu Toleranz und Anerkennung sein will, mit sich führen, wäre das strukturell und interaktionell erzeugte und bekräftigte ,doing ethnicity’ dann sogar in einem pädagogischen ,doing tolerance‘ [3] zu konkretisieren. Im gutgemeinten Versuch, einen toleranten und anerkennenden sozialen Umgang mit ethnisch codierter Differenz auf Seiten der Heranwachsenden durch Pädagogik und Didaktik zu bewirken, besteht die Gefahr, gerade die problematischen, sozial-ethnische Ungleichheit stabilisierende Implikationen zu reproduzieren, die der sozial institutionalisierten Umgangsform des .Tolerierens’ bzw. der Bewertung/Haltung/Einstellung der .Toleranz’ immanent sind. Die pädagogische Situation, die in curricularisierter Form in ,Tolerieren’ und ,Toleranz’ einüben will, stellt entgegen der programmatischen Absichten ein auf Duldung beruhendes Arrangement in der Klasse interaktiv her.
Fazit
Mit den vorangegangenen Ausführungen sollte, erstens, auf die Ambivalenzen und Ambiguitäten aufmerksam gemacht werden, die dem sozialen Umgang mit ethnischer Differenz inhärent sind. Zweitens ging es darum zu zeigen, daß sich die gleichen Ambivalenzen und Ambiguitäten in der wohlmeinenden interkulturellen Umsetzungspraxis sowie in den möglichen Wirkungen eines pädagogischen Umgangs mit Differenz in der einen oder anderen Weise fortsetzen. Dabei führen Ambivalenzen ganz offensichtlich in Dilemmata, ja, sogar Aporien, die jedoch weniger ein Performanzproblem auf Seiten der Pädagoginnen, als vielmehr ein Strukturproblem Interkultureller Pädagogik darstellen. Unter einer solchen Einsicht verändert sich die erziehungswissenschaftliche Beobachtungsperspektive auf die pädagogische Praxis im Umgang mit ethnisch codierter Differenz.
Auch Professionalisierung hätte, so gesehen, andere Akzente als bisher zu setzen, indem sie Pädagoginnen und Pädagogen nicht umstandslos in ein pädagogisches Programm einübt, sondern sie gerade mit diesen dilemmatischen Strukturen des Handelns konfrontiert. Es ginge darum, angehende Pädagogen dazu zu befähigen, auch mit Situationen fertig zu werden, in denen es keine „richtige“ Lösung gibt. Zu durchkreuzen wäre die weitverbreitete Neigung, Widersprüche harmonisierend vereindeutigen oder durch Engagement kompensieren zu wollen. In professionalisierender Absicht gälte es, die Prämissen, Implikationen und ebenso die möglichen Wirkungen Interkultureller Pädagogik zu erörtern und zu zeigen, daß sie nicht von vornherein die Lösung, sondern erziehungswissenschaftlich ein Problem ist.
Fußnoten:
[1] Den Hinweis auf diese Schulbuchseite verdanke ich Barbara Rendtorff.
[2] Zum Schamgefühl in Zusammenhang mit der Achtungs- und Verachtungsproblematik vgl. A. MARGALIT (1997, S. 160ff.); im Zusammenhang mit dem sozialen Status bzw. der symbolischen Reproduktion von sozialer Ungleichheit vgl. S. NECKEL (1991).
[3] Diese Formulierung verdanke ich einem anregenden Gespräch mit MICHAEL BOMNES.
Mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Beltz
http://www.beltz.de/de/nc/paedagogik/zeitschriften/zeitschrift-fuer-paedagogik.html
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