Hinweis des Fallarchivs:

  • Das Thema der Stunde ist die Schuldfrage aus dem Roman Malka Mai und ist hier nachzulesen.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der ausgewählte Gesprächsausschnitt stammt aus dem Unterricht der neunten Klasse der deutschen Schule in Warschau. Diese Klasse besuchen zehn SchülerInnen (sieben Mädchen und drei Jungen). Das Gespräch findet in der Mitte der Unterrichtseinheit statt und hat die Schuldfrage der Mutterfigur Hanna zum Thema. Diese Passage ist zum einen ein key incident wegen der Ambivalenz dieser Entscheidungsfrage, zum anderen wegen der interaktiven Bezugnahme der SchülerInnen und ihren detaillierten Erzählungen.

(…) Zunächst lässt die Lehrerin die SchülerInnen aufgrund ihrer persönlichen Meinung (eindeutig) abstimmen, ob Hanna schuldig oder unschuldig sei. Im Anschluss daran fragt sie nach der Entwicklung ihrer persönlichen Einschätzungen. Im Folgenden sind die Namen der SchülerInnen zum Schutze der Personen pseudonymisiert.

 

Zum einen fragt die Lehrerin nach der persönlichen Einstellung zu Hanna im Hinblick auf ihre Entscheidung unmittelbar nach der Lektüre, zum anderen nach möglichen Än­derungen dieser Einstellung durch das Unterrichtsgespräch. Sie geht somit von einer subjektiven Bedeutungskonstruktion während des Rezeptionsprozesses aus, der (in­dividuelle) Positionierungen der Lesenden einschließt. Des Weiteren sieht sie in der Anschlusskommunikation die Möglichkeit einer Veränderung subjektiver Deutungen. Mit ihrer Frage spricht die Lehrerin den Lektüre- sowie den Deutungsprozess auf der Metaebene an und macht ihn zum Gesprächsthema. Implizit vollzieht sie einen Rah­menwechsel: Anders als beim Rollenspiel und der Abstimmung zuvor geht es nun nicht mehr um die (fiktive oder persönliche) Beantwortung der Schuldfrage, sondern um die individuelle Entwicklung der Rezeptionsprozesse der SchülerInnen in Bezug auf die Entscheidung der Protagonistin.

Die SchülerInnen scheinen dieser Frage – und damit auch ihren Implikationen – nicht mit Verständnisschwierigkeiten zu begegnen. Denn im Gegensatz zu häufig beob­achteten Gesprächseinstiegen, bei denen sie zunächst mit der Lehrerin die Bedeutung der Fragestellung aushandeln, signalisieren sie hier durch ihre Meldungen noch wäh­rend der Frageformulierung ihre Beitragswünsche, ohne Zwischenfragen zu stellen.

Im anschließenden Gespräch jedoch werden Rahmungsdifferenzen zwischen Lehrerin und SchülerInnen, aber auch zwischen den SchülerInnen sichtbar. Nachdem Jessica das Ge­spräch eröffnet hat, erteilt die Lehrerin Vanessa das Wort. (Aus Platzgründen kann hier nur ein – im Hinblick auf die Fragestellung relevanter – Ausschnitt der Gesprächsphase betrachtet werden.)

 

 

Die Lehrerin lässt die SchülerInnen der Reihe nach über ihre Einschätzungen bezüglich Hannas Entscheidung und ihre Leseprozesse berichten, bewertet dabei nicht, sondern lässt unterschiedliche Einstellungen und deren jeweilige Entwicklung nebeneinander stehen. Hierbei ergibt sich ein ausgesprochen heterogenes Bild: Zum einen gibt es Schü­lerInnen wie Vanessa, die keine eindeutige Einschätzung haben: „ich denk es gibt nicht wirklich richtig oder falsch“ (9f.). Andere wie Isolde und Karolina erzählen von einer Veränderung ihrer Einstellung durch die Diskussion. Interessant dabei ist, dass sowohl die Einstellung bei der Lektüre jeweils eine andere war, als auch die Richtung, in der sie sich (nach demselben Unterrichtsgespräch) entwickelt hat, von schuldig zu unschul­dig und von unschuldig zu schuldig: Isolde: „nach dem buch, (-) hab ich sie für ganz klar schuldig gefunden,“ (12), „aber nachdem wir eben so diskutiert haben und diese argumente rausgearbeitet haben FÜR die verteidigung, (-) bin ich jetzt doch eher auf der seite dass sie- (-) unschuldig ist“ (17ff.). Karolina: „also ich hab sie eher als- (–) em nichtschuldig empfunden, dann aber meine meinung- (–) em- (-) geändert,“ (25ff.). Wiederum andere wie Kamil positionieren sich erst durch die unterrichtliche Auffor­derung: „also ich hab mir ers::t gestern so richtig überlegt ob sie jetzt schuldig oder unschuldig ist, (-) und da war meine entscheidung gleich klar dass sie: schuldig ist.“ (54ff.). Die Vielfalt der Deutungen zeigt auf, wie individuell der Roman gelesen und die Entscheidungssituation der Mutterfigur beurteilt wird.

Obwohl die Lehrerin in ihrer Gesprächsinitiierung die Schuldfrage nicht explizit anspricht, sondern allgemeiner nach der Einstellung Hanna gegenüber fragt: „überlegt euch mal bitte; wie eure- (-) einstellung haltung, (-) reaktion UNmittelbar beim lesen war?“ (3f.), bringen die SchülerInnen den Schuldbegriff in das Gespräch ein und ge­stalten ihre Beiträge rund um die Frage, ob Hanna schuldig sei oder nicht. Dies könnte zum einen auf die vorherige Abstimmung zurückzuführen sein, in der sie sich eindeutig zur Schuldfrage positionieren mussten. Insofern würde nun das Gespräch über die Deu­tungsentwicklungen von den SchülerInnen als narrative Begründung ihrer vorherigen Positionierung gerahmt. Darauf würde auch die argumentative Einbettung der narrativen Beiträge hindeuten. Zum anderen könnte die Rahmung als Schulddiskurs aber auch auf das Bedürfnis der SchülerInnen hinweisen, die Schuldfrage für sich zu klären. Ersichtlich wird in jedem Fall, dass sie den Rahmungswechsel der Lehrerin nicht mit­vollzogen haben – die Lehrerin dies aber auch nicht einfordert.

Auffällig ist, dass alle Mädchen Hannas Entscheidung in Bezug zu ihrer eigenen Person setzen. Sie tun dies aber auf unterschiedliche Weise. Vanessa stellt ihr potentiel­les eigenes Handeln „also ich persönlich hätte das wahrscheinlich nicht gemacht-“ (7) ihrer eher abstrakten Einstellung, dass es „nicht wirklich richtig oder falsch-“ gebe (9f.), antithetisch gegenüber. Diese antithetische Struktur deutet auf einen inneren Wider­spruch hin, der noch nicht aufgelöst zu sein scheint. Dahingegen führt Isolde ihre klare Aussage „ich hätt=s nicht so gemacht“ (14) eher als Begründung für ihre spontane und eindeutige Schuldsprechung an: „nach dem buch, (-) hab ich sie für ganz klar schuldig gefunden,“ (12). Im Gegensatz dazu imaginiert Karolina sich zunächst in die Situation Hannas: „wenn man jetzt in dieser situation ist dann denkt man vielleicht intenSIver darüber nach“ (48ff.). Ihre eigene Entscheidung markiert sie als Folge dieser – durch die Unterrichtsdiskussion forcierte – Perspektivenübernahme: „und dann würd ich nicht so handeln“ (5 ff.). Lediglich Kamil – der einzige Junge, der in dem Gespräch von seiner Rezeption berichtet – spricht distanziert von der Mutterfigur (54-56). Er begründet seine erst im Zuge der unterrichtlichen Aufgabenstellung entstandene Einstellung auch nicht. Eine Perspektivenübernahme vollzieht er nicht, sondern beurteilt vielmehr die Entschei­dung der Protagonistin aus der Außenperspektive eines nicht involvierten Beobachters: „da war meine entscheidung gleich klar dass sie: schuldig ist.“ (55f.)

Zwei der SchülerInnen führen (abstrakte) moralische Begründungen an, um ihre Position zu verdeutlichen. Vanessa begründet mit einer allgemeingültigen Norm „weil ich find als mutter hat man ne verantwortung, (-) der man auch nachgehen sollte.“ (7ff.) ihre eigene Handlungsweise und markiert sie dabei als ihre persönliche, für sie ver­bindliche Einstellung: „also ich persönlich hätte das wahrscheinlich nicht gemacht“ (7). Isolde greift explizit Vanessas Begründung auf – allerdings für die Anschuldigung Han­nas: „ich find im grunde genommen ist sie- (-) irgendwo schon schuldig, weil man als mutter diese verantwortung hat;“ (15fF.). Dadurch verallgemeinert sie den moralischen Anspruch und setzt ihn als für alle verbindlich voraus. Beide sehen sich vom litera­rischen Text zu einer moralischen Positionierung herausgefordert, lassen sich aber in ihren Vorstellungen hierdurch nicht erschüttern.

Interessant ist die interaktive Zwischensequenz, in der die Lehrerin sich zum er­sten Mal nachfragend einschaltet: „und du kannst dich nicht mehr an deine sponTAne reaktion erinnern?“ (58f.) – damit die bisherige Struktur des Nacheinander-Erzählens durchbricht – und mit Kamil und Jacek über die (Erinnerbarkeit von) Reaktionen zum literarischen Geschehen verhandelt: „man HAT ne spontane reaktion; also ob man sym­pathie oder antipathie- (-) empfindet“ (59ff.). Die Selbstverständlichkeit der Lehrerin, durch Lesen zu einer Reaktion herausgefordert zu werden, teilen die Jungen nicht, wie aus Jaceks als Frage formuliertem Einwand deutlich hervorgeht: „wenn man nicht darüber nachdenkt?“ (62). Dass sich Kamil nicht mehr an seine spontane Reaktion erinnert, bedeutet allerdings nicht zwingend, dass er keine unmittelbare Einstellung Hanna ge­genüber hatte; es ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass sie für ihn nicht von Bedeutung ist. Denn Erinnerungen sind Rekonstruktionen – sie können nicht einfach ‚abgerufen‘ werden, wie die Lehrerin es formuliert (64). Der Rekonstruktionsprozess vollzieht sich selektiv und vor dem Hintergrund aktueller Bedürfnisse. Die Verantwortlichkeit einer Mutter ihrer Tochter gegenüber scheint für Kamil also kein aktuelles Thema zu sein. Diese Rekonstruktivität des Gedächtnisses differenzieren aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Jan und Aleida Assmann (Assmann/Assmann 1994) vor dem Hintergrund der Theorie des Sozialen Gedächtnisses von Halbwachs (Halbwachs 1985). Auch hier spielt das Konzept des Rahmens eine bedeutende Rolle:

„Erinnern bedeutet Sinngebung für Erfahrungen in einem Rahmen; Vergessen be­deutet Auflösung des Sinn-Rahmens, wobei bestimmte Erinnerungen beziehungslos und also vergessen werden, während andere in neue Rahmen (=Beziehungsmuster) einrükken und also erinnert werden.“ (Assmann/Assmann 1994: 118)

Der Kognitionspsychologe Jerome Bruner weist auf die Bedeutung der narrativen Strukturierung dieser Erfahrungen und Erinnerungen hin:

„Die Schaffung eines Rahmens (framing) dient dazu, eine Welt ‚zu konstruieren‘, ihr Fließen zu kennzeichnen, Ereignisse innerhalb dieser Welt zu segmentieren, usw. […] Die typische Form dieser Rahmung der Erfahrung (und unserer Erinnerung daran) ist die Form der Erzählung. Jean Mandler hat für uns die Belege dafür zusammengetragen, daß alles, was nicht narrativ strukturiert wird, dem Gedächtnis verloren geht.“ (Bruner 1997: 72)

Bezogen auf die Interaktion zwischen Kamil, Jacek und der Lehrerin bedeutet dies, dass der Lektüreprozess von Hannas Entscheidungsfrage für die Lehrerin eine (persönliche) Erfahrung ist, die erinnert werden kann: „hinterher kann man aber seine spontane reaktion noch mal- (-) abrufen in der regel-“ (63f.) Für die Jungen dagegen wird die (einsame) Lektüre dieser Textpassage hingegen nicht zu einer erinnerbaren Erfahrung. Erst im Un­terrichtsgespräch wird die Lektüre in einen für sie sinngebenden Rahmen gestellt – den der Verhandlung der Schuldfrage der erwachsenen Protagonistin in eher unpersönlicher, distanzierter Weise.

Diese semantischen Aspekte müssen vor dem Hintergrund ihrer formalen Gestal­tung betrachtet werden. Das Gespräch wird insgesamt von der Lehrerin initiiert und strukturiert und sie ist es auch, die den propositionalen Gehalt mit ihrer Frage prägt. Dennoch entspricht es nicht dem Konzept des fragend-entwickelnden Unterrichtsge­sprächs mit seiner typischen Struktur des Aufgaben-Stellen/Aufgaben-Lösen-Musters. Die SchülerInnen werden nicht kleinschrittig zu einer ‚angemessenen‘ Deutung hinge­führt. Vielmehr scheint es auf ein ‚offenes Ende‘ des Gesprächs mit gleichberechtigt nebeneinander stehenden unterschiedlichen Deutungen hinauszulaufen. Dabei bleibt die Komplexität des literarischen Textes mit seinen multiperspektivischen Sinnangeboten im Gespräch nicht nur vorhanden, sondern wird weiter ausgebaut. Die kommunikative Ordnung des Gesprächs ist eine lehrerzentrierte, die allerdings nach einem von der Lehrerin und den SchülerInnen initiierten Verfahren der turn-Ver­gabe – die SchülerInnen melden sich oder ergreifen eigenständig das Wort – organisiert ist (vgl. Becker-Mrotzek/Vogt 2001: 161 ff.). Letztendlich entscheidet aber die Lehrerin über die Verteilung des Rederechts. Dies hat zur Folge, dass die SchülerInnen sich in ihren Beiträgen vornehmlich an die Lehrerin richten, die ja auch diejenige ist, die die Frage gestellt und ihr Interesse an den Einstellungen der SchülerInnen bekundet hat. Trotzdem gehen die SchülerInnen in ihren Beiträgen aufeinander ein: Die Mädchen greifen explizit einzelne Aspekte voneinander auf: „wie vanessa gesagt hat wollte sie ja nur das richtige tun.“ (20f.), stellen sie in einen anderen Zusammenhang: „ich find im grunde genommen ist sie- (-) irgendwo schon schuldig; weil man als mutter diese [Her­vorhebung JH] verantwortung hat;“ (15ff.) oder stellen sich einander direkt gegenüber: „bei mir war das umgekehrt wie bei isi also ich hab sie eher als- (–) em nichtschuldig empfunden,“ (25f.); die Jungen bringen ihre Perspektiven interaktiv hervor. Es ist so­mit ein Interesse an den Deutungen der anderen und ihrer Entfaltung im Gespräch zu erkennen.

Allerdings geht es nicht darum, einen Konsens auszuhandeln, vielmehr können die subjektiven Deutungen in all ihrer inneren Widersprüchlichkeit und äußeren Gegen­sätzlichkeit nebeneinander gestellt werden. Hierfür ist maßgeblich der narrative Modus der Beitragsgestaltung verantwortlich. Die Unterrichtsforscherin Claudia Fuchs (Fuchs 2001) schreibt dem Erzählen von Kindern die Konstruktionsbedingungen des Erzählens in mündlichen Kulturen zu: Bedeutung wird aus der Erinnerung konstruiert und un­terliegt personalen Wahlheitsbeschränkungen: „Die Geschichten sind individuell, ihre Wahrheit ist eine Individuelle.“ (ebd.: 107). Diese Selbstreferenzialität zeichnet auch die Rekonstruktionen der jugendlichen Rezipientlnnen bezüglich ihres literarischen An­eignungsprozesses aus. Bruner spricht hier von der ‚inhärenten Aushandelbarkeit‘ von Erzählungen:

„Wir nehmen eine gewisse, unabdingbare Offenheit von Geschichten hin. Das ist es, was die Erzäh­lungen in kulturellen Aushandlungsprozessen so wertvoll macht. Du erzählst mir deine Version, ich dir meine, und nur selten müssen wir uns streiten, um die Differenz beizulegen.“ (ebd. 1998: 73)

Erzählungen stellen somit auch keine Forderungen an die Zuhörenden, die in ihnen dargestellten Einstellungen und moralischen Beurteilungen anzunehmen – ähnlich wie literarische Texte ihren Rezipientlnnen auch nur eine mögliche Perspektive auf die Welt anbieten. Darüber hinaus ermöglichen sie den Erzählenden, sich durch die zeit­liche Strukturierung im Erinnern von sich selber und eigenen Deutungen in der Ver­gangenheit abzugrenzen, ohne sich dabei verleugnen zu müssen; eine Kontinuität im Wandel (Benrath 2005) wird gewahrt. Karolina beispielsweise stellt in ihrer ausführli­chen Erzählung ihre durch die Unterrichtsgespräche reflektierte und problemorientierte Sichtweise ihrer anfänglichen ‚reibungslosen‘ Lesart gegenüber: „das war für mich so EINfach also sie BLEIBT da dann wird sie zu ihnen geholt, (-) und nachdem (hab ich-) (-) nach den diskusSIONen aber hat sich meine meinung geändert denn em- (-) für mich sind viele punkte dazugekommen wo ich nur gedacht hätte, (-) wenn man jetzt in dieser situation ist dann denkt man vielleicht intensiver darüber nach konzentriert sich wirk­lich nur auf diesen punkt weil das jetzt die situation ist- (-) und dann würd ich nicht so handeln“ (43ff.).

Literarische Anschlusskommunikation in einem narrativen Modus eröffnet also die Möglichkeit, Erfahrungen zu strukturieren und intersubjektiv weiterzuentwickeln, ohne einen Konsens anstreben zu müssen. Aus dem bisherigen Gesprächsverlauf ergeben sich folgende Antworten auf die Analysefragen:

Lesen als subjektive Bedeutungskonstruktion

Die Geschichte wird individuell und das bedeutet auch unterschiedlich von den Schü­lerInnen interpretiert. Allerdings verbleiben sie dabei weitestgehend auf der Ebene, mit ihren lebensweltlichen Erfahrungen den Text zu deuten – die Möglichkeit dagegen, mit dem Text eigene Erfahrungen zu machen und sich selbst imaginierend in Frage zu stel­len, nutzt nur Karolina ansatzweise. Alle Mädchen stellen sich explizit in die gleiche Entscheidungssituation, stellen also einen Bezug zu ihrem eigenen Leben her, um ihre Sicht auf die Romanfiguren zu schärfen. Dahingegen verbleiben die Jungen auf einer rationalen, distanzierten Ebene – sowohl bei der unmittelbaren Lektüre selbst als auch in dem Unterrichtsgespräch. Die Aufgabenstellung der Lehrerin, den eigenen Leseprozess zu rekonstruieren, lässt die SchülerInnen ihre Deutungen sprachlich hervorbringen, sich dieser bewusst(er) werden und sie auch in ihrer Veränderbarkeit erfahren. Der narrative Modus hilft dabei der Strukturierung der eigenen Rezeption.

 

Die Bedeutung von Anschlusskommunikation

Es lässt sich erkennen, dass die Unterrichtsgespräche im Sinne der Anschlusskommuni­kation nicht spurlos an den SchülerInnen vorbei gegangen sind, sondern sie zu einer In­terpretation herausgefordert, in dieser bestärkt oder aber auch irritiert haben und dass sie zu Deutungsänderungen in unterschiedliche Richtungen geführt haben. Dabei nehmen die Mädchen gegenseitig (implizit und explizit) Bezug auf ihre Beiträge und entwickeln ihre Deutungen dadurch weiter, die Jungen entfalten sie interaktiv. Der narrative Modus ermöglicht den SchülerInnen, ihre unterschiedlichen Perspektiven nebeneinander ste­hen zu lassen. Sie müssen keinen Konsens aushandeln, können aber trotzdem interaktiv Bedeutung konstruieren.

Rahmungen der Schülerinnen

Mit ihrer Frage nach der Einstellung gegenüber Hanna (und ihrer Entscheidung) un­mittelbar nach der Lektüre sowie der Einstellungsänderung durch die unterrichtliche Auseinandersetzung initiiert die Lehrerin einen Austausch über Rezeptionsprozesse – die SchülerInnen hingegen beginnen und beenden ihre Deutungen alle mit einer Bewertung der Mutterfigur im Sinne von schuldig oder unschuldig. Dabei werden auch allgemeine moralische Begründungen angeführt, die sich auf die Verantwortungsver­pflichtungen einer Mutter gegenüber ihrem Kind beziehen. Die SchülerInnen rahmen somit das Gespräch als argumentativ geführten moralischen Bewertungsdiskurs, wobei die Erzählungen über ihre Rezeptionsprozesse als narrative Begründungen dienen. Den Rahmenwechsel der Lehrerin (von der argumentativen Verhandlung der Schuldfrage zum narrativen Austausch über Rezeptionsprozessen) haben sie nicht mitvollzogen.

Die Differenz zu der Rahmung der Lehrerin soll nun differenzierter in Komparation mit dem Abschluss der Gesprächsphase herausgearbeitet werden, in dem sich die Leh­rerin – nach vier weiteren SchülerInnenbeiträgen – selbst als Leserin mit ihrem eigenen Rezeptionsprozess ins Gespräch bringt:

 

 

Die Lehrerin schließt ihren Beitrag an die der SchülerInnen an. Dabei rahmt sie ihn – anders als diese zuvor – als Leseerfahrung: „insofern- (-) äh möchte ich mal gern meine eigenen leseerfahrungen wiedergeben“ (1f.). Sie ordnet sich allerdings nicht übergangs­los ein, sondern setzt sich explizit den SchülerInnen entgegen, indem sie ihre spezifische Situation als Leserin – nicht als Lehrerin – hervorhebt: „weil ich ja in einer Situation bin in der ihr nicht seid ich bin mutter.“ (2f.) Diese dient ihr auch als Legitimierung ihres Beitrags: Da sie die Entscheidung Hannas aus einer anderen Position – der einer erwachsenen Frau, die selbst Kinder hat und somit in einer vergleichbaren Rolle wie Hanna ist – betrachten kann, kommt nun eine neue Perspektive in das Gespräch. Interes­sant hierbei ist, dass sie ihre Rezeption nicht vor dem Hintergrund ihrer Fachkompetenz als Deutschlehrerin, sondern ihrer persönlichen Lebenserfahrung darstellt.

Trotz der einleitenden Kontrastierung knüpft die Lehrerin wie einige der Schülerin­nen zuvor ihre eigenen Gedanken an die der Schülerinnen an („mir ist es so gegangen wie karolina“ (7), „torben hat das heute- (-) eigentlich ganz ganz wundervoll ausge­drückt;“ (12f.), stellt sich also explizit in einen Zusammenhang mit der Gruppe. Aller­dings nimmt ihr Redebeitrag einen weitaus größeren Umfang ein. Nach anfänglichem Einverständnis mit der Figurenhandlung („spontan Verständnis, (1.0) spontan also sagen ja, (-) klar, also das kind ist ja umsorgt“ (7ff.)) kommt die Lehrerin im Laufe ihrer Lek­türe zu einem „NICHTFASsen einer solchen Situation dass sie WIRKlich ein SIEBEN- jähriges kind in einer solchen unsicherheit wieder- (-)zurücklässt-“ (10). Die Verände­rungen ihrer – bei der subjektiven Rezeption des Romans entworfenen – Deutungen im Verlauf der unterrichtlichen Anschlusskommunikation, von denen die Schülerinnen in diesem Unterrichtsgespräch erzählen, sind der Lehrerin bereits während ihres indivi­duellen Lektüreprozesses bewusst geworden. In ihrem Unterrichtsarrangement hat sie die Entscheidungsfrage Hannas ausgedehnt, somit den Leseprozess der Schülerinnen insbesondere an dieser Stelle verlangsamt.

Die Lehrerin spricht fast durchgehend von sich selbst in der ersten Person („meine eigenen leseerfahrungen“, „ich kann mir zwar auch DIEse situation nicht unbedingt vorstellen“, „mir ist es so gegangen“ …). Dadurch bleiben ihre Deutungen personenge­bunden, werden nicht verallgemeinerbar und erhalten keine Verbindlichkeit für andere. Sie geht nicht von moralischen Leitvorstellungen aus, vor deren Hintergrund entweder die eigene Entscheidung (wie bei Vanessa) oder die Romanfigur (wie bei Isolde) be­urteilt wird. Ihre Erfahrung ist vielmehr eine narrative: Die fiktive Lebensgeschichte einer Mutter mit ihren Kindern auf der Flucht bedeutet für sie eine Möglichkeit, eigene Handlungsentwürfe zu hinterfragen, sich selbst in eine neue Möglichkeit zu setzen, „ist mir wirklich aufgefallen noch mal in ganzer (-) tragweite auch meine eigenen- (-) äh wie soll ich sagen, (-) meine eigene beziehung zu meinen kindern noch mal zu prüfen- (-) ich GLAUbe; (-) was auch immer wir können das (-) wir wir können nur spekulieren nicht wahr, (-) aber ich glaube, (2.0) das hätte ich nicht gemacht-“ (14ff.). Und genau diese aus dem Leseprozess resultierende Hinterfragung der eigenen Person verallge­meinert sie: „ich glaube automatisch; (-) kommt man immer an den punkt dass man sich selber mit prüft und sagt was wäre jetzt mit dir in dieser situation.“ (33ff.) – nicht jedoch ihre persönliche Beantwortung dieser Frage: „für mich ist in solchen büchern als LEseerfahrung immer dass ich- (-) dass ich immer das gefühl habe- (-) was auch IMmer geschieht; (-) ich WÜRde versuchen mit denen die mir lieb sind nämlich mit meiner familie zuSAMmen zu bleiben; (-) ganz egal- (-) wohin es uns treibt oder was was geschieht“ (35ff.).

Auch in diesem Gesprächausschnitt sind es wieder die interaktiven Zwischense­quenzen, die für die Analyse aufschlussreich sind. Trotz der explizit subjektiv markier­ten Erfahrung der Lehrerin ist durch die Beteiligung der Schülerinnen zu erkennen, dass diese die Position nicht unwidersprochen stehen lassen wollen. Das kann zum einen auf die institutionelle Verortung des Gesprächs zurückzuführen sein. Aufgrund der dreigliedrigen Struktur von Unterrichtsgesprächen (Mehan 1979, s.o.) könnte dieser Gesprächsbeitrag der Lehrerin von den Schülerinnen als – bis dahin fehlender – Schritt der Evaluation aufgefasst werden. Die vehementen Einwände von Vanessa („aber an­dererseits hätte es ja auch sein können dass minna was passiert wäre“, (24f.)) und Jacek („aber ich plädiere für unschuldig weil- (-) man kann sie irgendwie- (-) ich bin nicht da­für dass man sie irgendwie verklagt“ (50f.)) und der Beteiligungswunsch weiterer Schü­lerinnen können als Einspruch gegen eine (aus ihrer Perspektive) abschließende, allge­meingültige Deutung (der Lehrerin) verstanden werden. Zum anderen kann aber auch gerade die Offenheit des Gesprächs mit seinen äußerst heterogenen Einschätzungen der Mutterfigur die SchülerInnen irritieren. Sie könnten nach den vielfältigen Erzählungen ihrer individuellen Leseerfahrungen nun die Moral von der Geschichte‘ erwarten im Sinne einer Erklärung der Mehrdeutigkeit oder einer Konsequenz aus dieser. Es könnte aber auch sein, dass sie ihre eigenen Standpunkte (die Hervorhebung der Dilemmasi­tuation bzw. die Nichtangemessenheit der Schuldsprechung) verteidigen, dass sie einen Konsens mit der Lehrerin aushandeln wollen. Festgehalten werden kann in jedem Fall, dass weiterer Gesprächsbedarf bei den SchülerInnen besteht.

Die Lehrerin bricht den Aushandlungsprozess schließlich ab, indem sie zunächst die Schuldfrage als eine „unentscheidbare frage“ (65) darstellt (sich damit Vanessas Deutung nähert) und schließlich sogar die Berechtigung der Frage bestreitet (sich hier explizit auf Jaceks Einwand bezieht): „ich- (1.0) stimme dir zu. (-) es geht nicht darum die mutter zu VERurteilen“ (67). Trotz der narrativen Anlage des Gesprächs zu Be­ginn und ihrer eigenen Rahmung als Austausch subjektiver Leseerfahrungen lässt sich die Lehrerin zum Schluss auf die von den Schülerinnen vollzogene Rahmung des Ge­sprächs als Aushandlung der Schuldfrage ein (sie spricht implizit von der „frage“ (65)). Eine als gemeinsam geteilt geltende Deutung wird von der Lehrerin selbst resümierend erbracht (von den SchülerInnen aber nicht mehr ratifiziert). Der Konsens bezieht sich dabei aber nicht auf die Bewertung der Figurenentscheidung, sondern vielmehr auf die Unentscheidbarkeit der Schuldfrage und die Unangemessenheit einer Verurteilung.

 

Rahmungsdifferenzen

Zusammenfassend ergeben sich Rahmungsdifferenzen zwischen Lehrerin und Schüle­rInnen auf verschiedenen Ebenen: Die Lehrerin rahmt ihre subjektive Rezeption als persönliche Auseinandersetzung mit einer fiktiven Wirklichkeit, als eine Erfahrung, mit der sie eigene Handlungsentwürfe bilden kann – die SchülerInnen rahmen ihre Lektüre insgesamt eher als Interpretation einer Geschichte vor dem Hintergrund ihrer bisherigen lebensweltlichen Erfahrungen oder moralischen Grundsätze, ein Denken in Entwürfen findet erst ansatzweise statt. Das literarische Gespräch rahmen die SchülerInnen als mo­ralischen Bewertungsdiskurs in einem argumentativen Modus – die Lehrerin rahmt das Gespräch als subjektiven Erfahrungsaustausch über potenzielle Rezeptionsveränderun­gen in einem narrativen Modus. Die SchülerInnen lassen sich nicht auf diese Rahmung als subjektiven Erfahrungsaustausch ein. So ist es die Lehrerin, die – innerhalb der Rah­mung der SchülerInnen als Schulddiskurs – den Konflikt löst und einen Konsens her­stellt, indem sie die Schuldfrage als nicht entscheidbar und unzulässig darstellt.

Resümee

Die Analysen zeigen, dass eine erzählende Reflexion des eigenen Lektüreprozesses von besonderer Bedeutung ist, da hier Erfahrungen narrativ strukturiert und somit in sinn­gebende Rahmen gestellt werden können, in denen die Mehrdeutigkeit des literarischen Textes sowie die Vielfältigkeit subjektiver Bedeutungskonstruktionen aufscheinen. Auch in diesem Nebeneinander, bzw. Nacheinander der Deutungen bleiben die Schüle­rInnen nicht in ihren eigenen Perspektiven gefangen, sondern entfalten ihre Deutungen in gegenseitiger Bezugnahme. Es wird aber gleichzeitig deutlich, dass die interaktiven Zwischensequenzen zentral sind, da hier Rahmungsdifferenzen auf der Meta-Ebene erkennbar und somit Bedeutungen ausgehandelt werden können. Die Bedeutung der Anschlusskommunikation und die dabei nicht zu unterschätzende Rolle der Lehrerin können als wichtige Faktoren für die Literaturrezeption der SchülerInnen festgehalten werden. Diese in den Analysen gewonnen Erkenntnisse sind nur möglich aufgrund der methodischen Vorgehensweise einer sequentiellen Analyse, die semantische und struk­turelle Aspekte in ihrer wechselseitigen Konstituierung erfasst.

Allerdings müssen auch die Grenzen der hier dargestellten Analysen aufgezeigt wer­den, die erst durch Datentriangulation und -komparation überwunden werden können. Etwa die hier aufscheinende geschlechtsspezifische Rahmung von Leseprozessen (invol­viert – distanziert) bedarf einer erweiterten Datengrundlage, wie sie in der Anlage der Studie durch die Interviews zur subjektiven Rezeption der SchülerInnen gegeben ist. So stößt man beispielsweise bei der Triangulation mit den Daten aus den Schülerinterviews auf Divergenzen: Kamil erzählt hier von Empathieempfindungen der Figur Malka gegen­über und macht die emotionale Einbindung während des Lektüreprozesses zum Thema. Erst vor dem Hintergrund dieser Divergenzen können Erklärungsmöglichkeiten in geschlechts- oder kulturspezifischer Hinsicht ausdifferenziert werden (vgl. Hoffmann 2011).

Für den schulischen Literaturunterricht lässt sich anhand der hier exemplarisch dargestellten Analysen der Unterrichtsinteraktionen folgender Ausblick formulieren: SchülerInnen kennen narrative Begründungszusammenhänge innerhalb von Argumen­tationen im Unterricht (Krummheuer 1997) – diese Narrationen haben aber immer die Lösung eines Problems zum Ziel. In dem hier analysierten Gespräch wird die Geschich­te der unterschiedlichen Rezeptionserfahrungen zwar gemeinsam erzählt, doch die Dif­ferenz zwischen den Erfahrungen wird nur ansatzweise aufgelöst. An dieser Stelle ist die Lehrerin in besonderem Maße gefordert, mit den SchülerInnen nicht die Wider­sprüchlichkeiten zwischen den Deutungen in eine gemeinsame Deutung zu überführen, sondern die Differenz der ihnen zugrunde liegenden Rahmungen aufscheinen zu lassen. Auf der anderen Seite müssen die SchülerInnen lernen, mit ‚offenen Enden von Rezeptionsgeschichten umzugehen, die gerade nicht eine Auflösung zum Ziel haben. Für die Aushandlung eines Arbeitskonsenses können insbesondere produktiv irritierende Dissense genutzt werden. Insgesamt wird deutlich, dass nicht nur Literatur als fiktive Narration in der Rezeption für die Persönlichkeitsentwicklung von Bedeutung ist, son­dern insbesondere auch die narrative Konstruktion von Identität (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2002) im literarischen Gespräch.

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