Dazugehörige Falldarstellungen:
- Verteilung des Rederechts im Unterricht – Aus Sicht der LehrerInnen
- Verteilung des Rederechts im Unterricht – Beiträge ohne Melden
- Verteilung des Rederechts im Unterricht – Fragen-Melden-Aufrufen
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
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In diesem Artikel geht es jedoch nicht um diese grundlegende Funktion des Rederechtes, sondern als Beitrag zu einer, Theorie des Unterrichts‘ verstanden vielmehr darum, unterschiedliche Modi seiner Handhabung zu analysieren, denn die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt was äußern darf, ist für eine praxeologische Analyse der Ordnung von Unterricht hoch interessant. Wenngleich dem Rederecht eine zentrale Bedeutung in der Herstellung und Ordnung des Unterrichts zukommt, sind im deutschsprachigen Raum empirische Studien zu diesem Punkt kaum vorhanden (vgl. Lipowsky u.a. 2007). Selbst in den weit verbreiteten populärwissenschaftlichen Ratgeber sucht man weitestgehend vergeblich, die wenigen diesbezüglichen Artikel versprechen, „Hilfe [n] für richtiges Aufrufen und Drannehmen“ (Knipper 1990, S. 24).
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Offen bleibt die praxeologische Handhabung des Rederechtes bei der Ordnung von Unterricht. Wie wird Unterricht durch die Verteilung des Rederechtes hergestellt? Welche Handhabungen durch die schulischen Akteurinnen lassen sich finden? Welche Routinen und welche Brüche werden deutlich, welche Praktiken erfüllen welche Funktionen? Welche Modi der Interaktionspraktiken werden sichtbar?
Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden Material aus einem ethnographischen Forschungsprojekt herangezogen werden, in dem u.A. die Handhabung der Verteilung des Rederechtes in den Blick genommen wurde. Anhand der empirischen Ausführungen lassen sich wiederum die eingangs angestellten Überlegungen zum Erkenntnispotential ethnographischer Beobachtungen weiter intensivieren.
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Rederecht aus Sicht der Lehrpersonen
Wenngleich die Frage des Rederechtes empirisch vernachlässigt wird, hat sie in der Unterrichtspraxis eine hohe Bedeutung. So lautete beispielsweise in zwei der von uns beobachteten Klassen eine zentrale Klassenregel: „Wir wollen im Unterricht immer aufzeigen“. Prominent spielen Gerechtigkeitsargumente eine wichtige Rolle.[1] Lipowsky u.a. (2007) formulieren in diesem Zusammenhang: „Die möglichst gleichmäßige Verteilung von Aufrufen auf alle Schülerinnen und Schüler kann als eine von Lehrpersonen anerkannte Norm betrachtet werden“ (ebd., S. 133). Wiederholt ist in diesem Zusammenhang jedoch beispielsweise von der feministischen Schulforschung auf die ungleiche Verteilung des Rederechtes zwischen Jungen und Mädchen hingewiesen worden. Auch am untersuchten Gymnasium Zimmerbreite wurden Gerechtigkeitsaspekte von mehreren Lehrpersonen eigeninitiiert thematisiert. In unseren Interviews klingt wiederholt die herausragende Bedeutung an, die der Steuerung der Verteilung des Rederechtes für den Anspruch zukommt, den Unterricht (gender-) gerecht zu gestalten. So meint beispielsweise Frau Huber:
„Äh, einfach nur, weil, weil Buben raumgreifender sind, einfach sich mehr Platz verschaffen und einfach sich Aufmerksamkeit verschaffen, deswegen muss ich das als Lehrerin versuchen auszugleichen und auch die Stillen drannehmen, die vielleicht ganz bescheiden im Hintergrund zaghaft aufzeigen äh oder sich vielleicht nicht einmal aufzuzeigen trauen. Und da versuchen bissel auszugleichen, zum Beispiel.“
Die Lehrerin Frau Huber argumentiert, dass „Buben raumgreifender sind“ und begreift einen Ausgleich der Aufmerksamkeit als eine wichtige Aufgabe, die sie dadurch realisiert, dass sie „auch die Stillen“ drannimmt, die „bescheiden im Hintergrund“ bleiben. Dieser Aspekt wird in unseren Interviews gleich von mehreren Lehrpersonen in ähnlicher Weise angesprochen. Gleichzeitig deutet sich hier etwas an, von dem später noch einmal die Rede sein wird, das Aufrufen derjenigen, „die sich nicht einmal aufzuzeigen trauen“. Der Lehrerin kommt somit das Recht zu, auszuwählen – und zwar nicht nur unter denjenigen, die sich melden, sondern prinzipiell unter allen Schülerinnen. Dies Recht resultiert nicht einfach daraus, dass sie die Lehrerin ist, sondern durch den Vollzug des Aufrufens entwirft und festigt sie ihre soziale Position im Kontrast zu denen der Schülerinnen – sie wird Lehrerin in dem Maße, wie sie über die Möglichkeit verfügt, statusdifferente Handhabungen des Rederechtes unhinterfragt anzuwenden. Auch andere von uns interviewte Lehrpersonen reklamieren das Recht (und bisweilen auch die Verpflichtung), ohne Melden aufzurufen. Herr Jason, ein Kollege von Frau Huber, gibt im Interview an, sich zu bemühen, die je spezifische Interaktionssequenz gerecht zu gestalten, indem er nicht immer denjenigen das Rederecht erteilt, „die dringlich aufzeigen“, wie er im Interview seine Strategie beschreibt.
Deutlich wird in den Interviewauszügen, dass in der scheinbaren Routinehandlung Frage-Melden-Aufrufen unterschiedlichen Kriterien der Handhabung zum Tragen kommen können. Damit steht die Verteilung des Rederechtes aber in einer ambivalenten Doppelstellung, denn einerseits soll eine „gerechte“ Steuerung des Unterrichtsgesprächs gewährleistet sein, andererseits kann dies in der Praxis zu scheinbar „ungerechten“ Handlungen führen. Zusätzlich entscheidet die Aktivität der Schülerinnen beim Melden und Drankommen wesentlich über die Note zur mündlichen Mitarbeit und ist insofern ein wichtiges Instrument, um Leistungsdifferenzen zu markieren. Wie wird die Verteilung des Rederechtes nun im Unterricht gehandhabt?
Fußnote
1) Wobei Sacher (1995, 1996, 1997b) zu Recht darauf aufmerksam macht, dass „gerechtes Aufrufen“ in sehr unterschiedlicher Weise verstanden werden kann.
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf/article/view/6100
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