Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Ausgehend von dem hier beschriebenen Desiderat macht der vorliegende Beitrag einen methodologischen Vorschlag für die Untersuchung der Kommunikation von Ur­teilen im Geschichtsunterricht. Vor dem Hintergrund der Anforderungen an die empi­rische Unterrichtsforschung wird Unterricht allgemein und in Bezug auf die besondere Zielsetzung „Urteilsbildung“ bestimmt. Sodann wird das methodische Verfahren der Untersuchung vorgestellt, um es schließlich an einem Fallbeispiel aus dem Geschichts­unterricht einer 10. Gymnasialschulklasse zu dem Thema „Hitlers Expansionspolitik in den Osten“ zur Anwendung zu bringen. Die sequenzanalytische Interpretation dieses Unterrichtsausschnittes kann zeigen, wie Werturteile mit Sachurteilen über das zu ler­nende Thema in eigentümlicher Weise amalgamieren und eine interaktionsimmanente Dynamik der Zuschreibung und Abwehr kaschierter moralischer und sozialer Positi­onszuweisungen erzeugen können. Abschließend wird die Leistungsfähigkeit dieses Forschungsansatzes für die Untersuchung der Kommunikation von Urteilen diskutiert.

(…)

Urteilsbildung zwischen Sachurteil, Werturteil und forcierter Selbstkorrektur – Empirische Erkundungen einer Unterrichtssequenz

Der folgende Trankriptausschnitt stammt aus dem Geschichtsunterricht einer zehnten Gymnasialschulklasse. Im Zentrum des Unterrichtsgesprächs steht Hitlers Expansionspolitik in den Osten’, die anhand verschiedener Quellentexte bearbeitet wird. Die dokumentierte Passage ist Teil eines Gespräches, in dem die Ergebnisse der Quellenarbeit zusammengetragen und an der Tafel festgehalten werden sollen. [1]

Die Lehrerin möchte von ihren Schülern wissen, welche „Regionen der Welt“ (2) Adolf Hitler in den Blick nimmt. [2] Die Frage der Lehrerin etabliert ein für den Unterricht typisches Interaktionsmuster, das die Bedingungen für die Bestimmung von Lernen her­stellt. Die Schüler werden aktiviert, ihre „inneren“ Aneignungsweisen des Gegenstan­des sichtbar zu machen. Wissen, das unbeobachtbar im Bewusstsein der Schüler vor­handen ist, soll zur Sprache gebracht, d.h. auf die „sichtbare Seite“ der Kommunikation gezogen und für mögliche Korrekturen und damit verbundene Lernprozesse zugänglich gemacht werden. Den Schülern werden „Äußerungen“ abverlangt, die in diesem Fall auf die Aktivierung von Faktenwissen gerichtet sind. Die Frage hebt nicht auf ein sach- oder ein wertbezogenes Urteil ab. Mit der Aufforderung, die „Regionen“ zu nennen, auf die sich die nationalsozialistische Expansionspolitik richtete, zielt sie ausschließlich auf die Wiedergabe von als vermittelt vorausgesetzten Wissensbeständen, ohne das Reflexi­ons- und Einordnungsvermögen der Schüler in Anspruch zu nehmen.

Clara gibt mit der Nennung einiger Länder („Tschechien, Polen“, 7-8) eine sach­bezogene Antwort, deren Vollständigkeit und Richtigkeit jedoch durch verschiedene Selbstrelativierungen wieder in Zweifel gezogen wird („würd’ sagen“/,,vielleicht“, 7).

An der nächsten Sequenzstelle, die im Rahmen des aktivierten schulischen Interak­tionsmusters als Bewertungsoperation behandelt werden kann, wird sichtbar, dass die Reaktion der Lehrerin nicht auf den sachlichen Gehalt des Beitrages eingeht. Claras Bei­trag wird nicht weiter spezifiziert oder korrigiert, sondern zum Anlass genommen, eine Frage mit geänderter inhaltlicher Stoßrichtung zu stellen. Gefragt sind nun nicht mehr geographische Fakten, sondern die Gründe, „Warum“ (9) Tschechien und Polen zum Ziel von Hitlers Expansionspolitik wurden. Die Änderung der inhaltlichen Perspektive, die in Anknüpfung an Claras Antwort vollzogen wird, relativiert zugleich die Bedeutung der zuerst gestellten Frage. Claras Antwort erhält den Status eines Stichworts, an dem nun „wichtigere“ Fragen zum Thema behandelt werden können. Das Faktenwissen wird zu einer vernachlässigbaren Größe, bedarf keiner weiteren Präzisierung, ist offensicht­lich nur ein Anknüpfungspunkt für eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema, die nun mit der Warum-Frage eingeleitet wird und die Kompetenz anspricht, Begründungszusammenhänge argumentativ darzulegen.

Betrachtet man nun Claras Erwiderung (10), dann fällt auf, dass sie nicht mit einem Sachurteil an die Frage anschließt. Sie liefert keine Gründe für Hitlers Expansionspo­litik und versteht die Frage offensichtlich nicht als Aufforderung, von der Wiedergabe von Faktenwissen zur Begründung der mitgeteilten Fakten zu wechseln. Ihre Beiträ­ge orientieren sich weiterhin an der ersten Lehrerfrage. Sie weitet den geographischen Raum von den zuvor genannten Ländern auf „die Länder, die Deutschland so umgeben“ (10) und schließlich auf „ganz Europa“ (13) aus. Auch die zwischenzeitliche Spezifizie­rung der Frage der Lehrerin, ob dies Hitlers „Hauptziel“ (12) sei, ändert nichts an der Ausrichtung der Beiträge der Schüler.

Claras Beitrag wird nicht qualifiziert, ihm wird keine kommunikative Bedeutung zugewiesen. Stattdessen erteilt die Lehrerin mit der der Frage „Was meinst du?“ (15) Monika das Wort. Monikas Antwort zielt ebenfalls – unterstützt durch Jennys Einwurf

17(„Österreich“, 19) – auf die geographischen Ziele von Hitlers Expansionspolitik. Sie greift dann durch das Wort „Begründung“ (20-21) die Warum-Frage der Lehrerin auf, gibt sogleich aber zu erkennen, dass sie nicht im Besitz des geforderten Wissens ist. Schließlich setzt sie neu an, deutet andere Kenntnisse zum Thema an, präzisiert aber auch diese nicht weiter („.Also, ich weiß aber noch, dass es halt die besonders da (    )) (21-22)“.

Wieder geht die Lehrerin nicht auf den Schülerbeitrag ein. Weder greift sie die Län­derangaben, die Monika und Jenny einbringen, auf, noch geht sie auf das von Monika artikulierte Wissensdefizit oder ihren unvollständigen Nachsatz ein. Stattdessen erteilt die Lehrerin Olaf das Rederecht. Sie wendet sich an einen weiteren Schüler der Klasse, der nun seinen Wissensstand öffentlich machen soll.

Zieht man an dieser Stelle eine erste Zwischenbetrachtung ein, so scheint es, als setze die Unterrichtskommunikation mit ihrem Verzicht auf die Bewertung individuel­ler Aneignungsleistungen auf den Vollzug eines auf längere Sicht angelegten und sich kumulierenden kollektiven Erkenntnisprozesses, der durch das schrittweise Sichtbar­machen der Wissensbestände und Aneignungsweisen der Lerngruppenmitglieder ange­stoßen und im Gang gehalten wird. Dabei verschiebt sich der thematische Fokus suk­zessive von der Reproduktion von Faktenwissen zur sachbezogenen Urteilsbildung, die mit Monikas Hinweis auf den Aspekt der „Begründung“ nun auch seitens der Schüler kommunikativ konfirmiert wird. Olaf schließt nun wie folgt an das Gespräch an:

Olaf ist der erste Schüler, der einen Grund für die Expansionspolitik Hitlers nennt. Ihm zu­folge sind Hitlers Erwägungen durch den „Platz“ (22) motiviert, der östlich des damaligen Deutschen Reiches zur Verfügung stand. Sein Beitrag wird durch den Abtönungspartikel „halt“ (22) plausibilisiert und gewinnt dadurch den Status einer Selbstverständlichkeit. Olaf positioniert sich als wissender Schüler und verstärkt diesen Eindruck im weiteren Verlauf des Satzes durch eine ähnliche Wortwahl („halt auch“, 22), die offenbar sein zwei­tes Argument vorbereiten soll. „Platz“ wird zu einem Argument für die Expansionspolitik Hitlers, das selbst keiner Begründung mehr bedarf. Bevor Olaf sein zweites Argument vervollständigen kann, wird er von der Lehrerin durch drei Fragen unterbrochen. Bei die­sen Fragen handelt es sich offensichtlich nicht um Verständnisfragen, mit denen Olaf ge­beten wird, seine Äußerung genauer zu erklären. Vielmehr erwecken sie in ihrer Abfolge den Eindruck eines Einwandes. Die erste Frage der Lehrerin („Wieso gab=s da Platz?“, 24) kann für sich genommen noch als eine überraschte Nachfrage gedeutet werden. Die Wiederholung dieser Frage, die mit einer „Entschuldigung“ (24) eingeleitet wird, zeigt durch das vorangstellte „Aber“ (24) dagegen einen Widerspruch gegen Olafs Behaup­tung an. Schließlich ergänzt die Lehrerin nach der Unterbrechung durch das Lachen eines Schülers (25) ihre vorangegangenen Fragen durch eine dritte Frage: „Wohnen da keine Menschen?“ (26). Während die ersten beiden Fragen das von Olaf vorgebrachte Argument „Platz“ lediglich formal in seinem Geltungsanspruch in Frage stellen, führt die dritte Frage implizit ein Gegenargument zu Olafs Behauptung ein, dessen Inhalt sich wie folgt paraphrasieren lässt: ,Wenn behauptet wird, in den Gebieten östlich des Deutschen Reiches gäbe es Platz, dann hat man damit auch behauptet, dass es dort keine Menschen gibt.’

Bei einer genaueren Betrachtung des Einwandes wird deutlich, dass er der Form nach auch Elemente eines Vorwurfes enthält. Die Unterbrechung beginnt mit zwei Wieso-Fragen, die besonders häufig im Zusammenhang mit Vorwurfshandlungen auftre­ten (Günthner 1999: 216). Wieso-Äußerungen erfragen den Grund für eine bestimmte Handlung oder inhaltliche Position des Gegenübers und bringen ihn in die Situation, sich für die eigene Aussage zu rechtfertigen. Auch die Fragen der Lehrerin lassen sich in diese Richtung deuten. Die kurz hintereinander geschalteten, als Unterbrechung auftre­tenden Fragen weisen prototypische Merkmale von Vorwurfskommunikation auf, deren konfliktäres Potential durch den Einschub einer „Entschuldigung“ für das „ins-Wort- Fallen“ keineswegs abgefedert, sondern verstärkt wird. Die „Entschuldigung“ gewinnt hier eine entrüstungsrhetorische Funktion, durch die Olaf auf die Nichteinhaltung be­stimmter Verhaltenserwartungen hingewiesen und zur Räson gebracht werden soll.

Noch nicht geklärt ist an dieser Stelle, wogegen sich der im Modus des Vorwurfes formulierte Einwand der Lehrerin richtet. Erhebt sie einen sachlichen Einwand gegen die Äußerung von Olaf, oder will sie durch ihre Unterbrechung auf eine ganz andere Problematik hinweisen? Ausgangspunkt von Olafs Beitrag war die Frage nach den poli­tischen Motiven für Hitlers Expansionsbemühungen in den Osten, also die Aufforderung zu einem Sachurteil, das Wissen um die hinter der nationalsozialistischen Eroberungspo­litik stehenden zweckrationalen und wertrationalen Motive in Anspruch nehmen müsste. Wenn die Schüler dieser Motiv-Frage nachgehen sollen, könnte man vor dem Hinter­grund des Wissens um die nationalsozialistische Ideologie eines „Volkes ohne Raum“ zu dem Ergebnis kommen, dass für Hitler und seinen militärischen Führungsstab die vergleichsweise gering besiedelten Gebiete östlich des Deutschen Reiches ein attraktives Ziel darstellten. Das Argument „Platz“ läge damit durchaus im Spektrum erwartbarer und legitimer Antworten, dem lediglich die systematisch-distanzierte Einordnung in den ideologischen Argumentationskontext der Nationalsozialisten fehlen würde. Hinzuge­fügt werden könnte aus dieser Sachurteilsperspektive des Weiteren, dass die militärische Schwäche von Polen, Österreich und Tschechien einen Angriff auf diese Länder erfolg­versprechender machte als beispielsweise einen Angriff auf Frankreich oder die Schweiz. Geht man davon aus, dass die Lehrerin ihre Intervention gegen die Äußerung von Olaf vor diesem Deutungshintergrund formuliert, dann würde die Erwartung etabliert, das Ar­gument „Platz“ unter Erläuterung der nationalsozialistischen Lebensraumideologie wei­ter auszuführen. Stellt man so in Rechnung, dass die Lehrerin mit ihren Einwänden die Erwartung geltend macht, dass die Schüler ein sachlich differenziertes Urteil in Kenntnis der historischen Quellen zu den Handlungsmotiven der Nationalsozialisten entwickeln, dann wäre die Frage „Wohnen da keine Menschen?“ nicht notwendig.

Passender erscheint der Einwand „Wohnen da keine Menschen?“ vor einer anderen Erwartung der Lehrerin. Derzufolge müssen sich Antworten auf die Frage nach den Gründen für die Expansionspolitik der Nationalsozialisten daran messen lassen, ob sie berücksichtigen, dass in den gewaltsam annektierten Gebieten Menschen gewohnt ha­ben oder nicht. Die Rückfrage gewinnt eine metakommunikative Funktion. Mit ihr wird ein Erwartungshorizont eingezogen, der deutlich macht, aus welcher Perspektive Bei­träge im Unterrichtsgespräch künftig bewertet und beobachtet werden. Kontur gewinnt dieses Bewertungskriterium durch die Kontrastierung der Argumente „Menschen“ und „Platz“. Sie delegitimiert die bloße Rekonstruktion von Gründen für die nationalsozia­listische Expansionspolitik und verschiebt den bis dahin geltenden Fokus von der Sachurteilsbildung auf die Formulierung von Werturteilen. Beiträge, die sich auf die Ausdeu­tung möglicher Expansionsgründe beschränken, sind damit nicht notwendig sachlich falsch, ihnen fehlt jedoch die Legitimitätsprüfung entlang des eingeführten Kriteriums „Wohnen da keine Menschen“, an der sie nun gemessen werden können.

Wenn man vom Nationalsozialismus als einer antihumanistische Ideologie ausgeht, die dem Menschen einen individuellen Eigenwert abspricht und ihn zum bloßen Mittel kollektiver, politischer Zwecke deklassiert, dann führt die Rückfrage „Wohnen da keine Menschen“ eine universalistische ethische Perspektive als Maßstab zur Beurteilung der nationalsozialistischen Expansionspolitik ein. Auf der Folie dieser Perspektive läuft ein nicht hinreichend auf seine historischen Informations- und Bezugsquellen ausgeleuch­tetes Sachurteil immer Gefahr, als Wertung und damit als Ausdruck einer ethischen Haltung verstanden zu werden. Betrachtet man die Äußerung der Lehrerin vor diesem zweiten Deutungshintergrund, dann stellt ihre Intervention keine sachliche Korrektur und Nachfrage dar, sondern richtet sich gegen eine in Olafs Beitrag möglicherweise zum Ausdruck kommende Werthaltung.

Die unterrichtliche Aufgabenstellung hätte sich folglich zum dritten Mal verscho­ben. Richtete sich die Aneignungserwartung zu Beginn der Sequenz noch auf die Repro­duktion von Faktenwissen, dann auf die Formulierung von Sachurteilen, wird sie nun in die Richtung einer wertbezogenen Positionierung modelliert.

Interessant ist vor allem die pädagogische Form des Einwands durch die Lehrerin. Indem sich die Intervention in ein Frageformat kleidet, das Anstöße für eine kritische Auseinandersetzung mit Olafs Argument liefert, wird auf das Selbstkorrekturpotential im sozialen System Unterricht gesetzt. Olaf wird mit den impliziten ethischen Dimen­sionen seiner Behauptung konfrontiert. Ihm wird die Möglichkeit eingeräumt, seine Aussage zu korrigieren, ohne dass der Werthorizont, vor dem der Einwand formuliert wird, offengelegt oder Olaf direkt zu seiner Haltung befragt würde. Die Rückfrage ver­meidet eine direkte moralische Adressierung. Sie überlässt es dem Vorwurfsempfänger, die eigene Position zu klären, um eine Zurechnung des Beitrages zur nationalsozialisti­schen Ideologie zu vermeiden.

Erziehungswissenschaftlich ist mit dieser indirekten Anschlussoption ein veritables Bezugsproblem bei dem „Bemühen um die Entfaltung der Urteilskraft in der Pädago­gik“ (Heitger 2007: 97) angesprochen. Die Befähigung zum Urteil setzt zwar Hilfe voraus, bleibt aber unter der Maxime, den Anderen als moralisches Subjekt anzuerkennen, auf den Akt der Selbsttätigkeit des Urteilenden angewiesen. Nicht durch Zwang oder die Paraphrase sozial erwünschter Antworten, sondern durch „Selbstdenken“ (ebd.: 95), soll das Urteil als eigenständige und wohlbegründete Stellungnahme entstehen.

Reduziert man die Sequenz an dieser Stelle der Interpretation auf das Zwiegespräch zwischen Lehrerin und Olaf, dann müsste die Frage unter Kompetenzgesichtspunkten lauten: Was und wie lernt Olaf an dieser Intervention, wie bezieht er sich auf den im Vorwurfsformat vorgetragenen Einwand, welche Selbstkorrekturen nimmt er vor? Unter dem Aspekt, dass sich das Gespräch nicht im intimen Dialog zwischen Lehrperson und Schüler, sondern unter den Bedingungen von Unterricht in der Öffentlichkeit der Schul­klasse vollzieht, muss das Bezugsproblem der pädagogischen Erwirkung und Kommu­nikation von Urteilen jedoch weiter gefasst werden. Im Kontext der sozialen Situation der Schulklasse, d.h. unter Bedingungen kontinuierlicher gegenseitiger Wahrnehmung und gegenseitigen Wahrgenommenwerdens, die durch das Lachen eines Mitschülers in Zeile 25 bereits anklingen, wird Olafs Beitrag durch den Einwand der Lehrerin nun selbst zu einem exponierten Gegenstand klassenöffentlicher Beobachtung und Beur­teilung. Nach der bewertenden Rückfrage der Lehrerin ist erwartbar, dass Olaf sich in irgendeiner Weise zu dem Widerspruch seiner Lehrerin verhält. Er antwortet folgender­maßen:

Olaf schließt an den Redebeitrag der Lehrerin mit einer Rechtfertigung an, die anzeigt, dass er den Einwand als Vorwurf verstanden hat. Olaf beeilt sich, den drohenden Image­schaden zu entschärfen. Die Dringlichkeit des Anliegens lässt sich an dem kurzen, ab­gehackten Sprechrhythmus erkennen, der die personennahe moralische Aufladung der Situation anzeigt. Die Entschärfung erfolgt durch den Verweis auf ein Missverständnis („das hat sich jetzt falsch so angehört so“, 27-28). Olaf hebt hervor, dass er nicht meine, was ihm die Lehrerin mit ihrer Rückfrage unterstelle. Er signalisiert damit zudem, dass er den Werthorizont kennt, auf dem der Vorwurf der Lehrerin beruht. Mit der Formulie­rung, „das hat sich jetzt falsch so angehört so“ wird die Unterscheidung richtig/falsch eingeführt, durch die sich Olaf als Urteilender exponiert. Wer eine Aussage als falsch attribuiert, gibt zu erkennen, in Kenntnis der ‚eigentlich richtigen’ Antwort zu sein und das heißt hier, die Kriterien zu kennen, die die Lehrerin dazu veranlassen, das Argument „Platz“ als problematisch zu beurteilen.

Nachdem Olaf die Situation als bloßes Missverständnis markiert hat, formuliert er mit der Äußerung „vom Raum her, jetzt an sich“ (28) seinen ersten Beitrag noch einmal um, indem er einen synonymen Begriff für den von ihm erwähnten „Platz“ einsetzt. Im Anschluss fährt er dann mit der Aufzählung von Gründen für die nationalsozialistische Expansionspolitik fort. Genau genommen wird im Fortgang seines Beitrags die ange­zeigte Normverletzung nicht entkräftet, sondern verschärft. Dies gilt für den in diesem Kontext ideologisch belasteten Begriff „Raum“, („Lebensraum im Osten“), dann für die Formulierung „der hat ja die Menschen weggebracht“ (29), die gemessen an dem auf Vernichtung angelegten Feldzug im Osten eher euphemistisch erscheint und schließlich für den Begriff „Ressourcen“ (32), in dem sich die instrumentellen Interessen der natio­nalsozialistischen Expansionspolitik kristallisieren. Die Tatsache der Deportation („der hat ja die Menschen weggebracht“) wird von Olaf zwar als Argument eingeführt, vor dem sein Beitrag gelesen werden soll. Ob damit allerdings eine moralische Verurteilung des hiermit angesprochenen Vorgehens Hitlers gemeint ist, oder ob damit lediglich her­vorgehoben werden soll, dass dadurch erst die Voraussetzung für den erwähnten „Platz“ und „Raum“ geschaffen wurde, lässt sich an Olafs Beitrag nicht erkennen.

Aus der Perspektive der pädagogischen Intervention kennzeichnet Olafs Korrek­turversuch eine gewisse Ambivalenz. Einerseits weist er durch die Hervorhebung des Missverständnisses daraufhin, den Werthorizont, den die Lehrerin durch ihre Interven­tion gesetzt hat, zu kennen. Andererseits lassen seine folgenden Beiträge nicht erken­nen, dass er die ethischen Prinzipien dieses Werthorizontes zur Reflexion der eigenen Aussagen nutzt oder dass er die nationalsozialistische Expansionspolitik aus dieser Per­spektive beurteilt.

Vor dem Hintergrund, dass Lehren (im Sinne der Vermittlung des wertbezogenen Horizonts der Analyse der nationalsozialistischen Expansionspolitik im Osten) und Lernen (im Sinne einer eigenständigen Aneignung dieser Perspektive auf Seiten der Schüler) in dem hier betrachteten Unterrichtsausschnitt offensichtlich nicht zur Passung kommen, gewinnt das oben entfaltete Bezugsproblem der pädagogischen Kommunika­tion an Schärfe. Erwartbar ist, dass der Kommunikationsmodus lehrerseitig und klas­senöffentlich auf weitere Beurteilungen eingestellt wird, um die Aneignungsoptionen so einzuschränken, dass Lernen in der Form einer ethisch begründeten Werturteilsbildung wahrscheinlicher wird.

Mit der Frage „Wo?“ (33) stellt die Lehrerin den thematischen Fokus der Unterrichtskommunikation zunächst jedoch wieder auf die Abfrage von geographischem Wissen um und setzt die in Etappen eingeführte Erwartung an ein Sach- und dann an ein Werturteil außer Geltung. Die sachliche „Wo-Nachfrage“ enthält – anders als die „Wieso-Frage“ – keinen Einwand und keinen Vorwurf mehr. Sie thematisiert weder Olafs Versuch, den gegen ihn erhobenen Vorwurf als Missverständnis zu entkräften noch die weiteren Gründe, die er für die Expansionspolitik der Nationalsozialisten einführt und die nicht erkennen lassen, dass er den von der Lehrerin eingeführten Werthorizont in das eigene Urteilen integriert hätte. Mit dieser Umstellung wird das konfliktäre Potential der Si­tuation entschärft. Olaf wird nicht weiter darauf festgelegt, sich für seine Aussagen zu rechtfertigen. Gefordert ist nun geographisches Faktenwissen. Olaf reagiert auf diese Nachfrage mit einer pauschalen, aber sachbezogenen Antwort und fügt den zuvor schon genannten Ländern die „Ukraine“ (35) hinzu. Olaf schwenkt auf den von der Lehrerin gewählten Fokus ein und lässt den Duktus der Rechtfertigung fallen. Die konfliktären Elemente der Kommunikation scheinen sich für einen Moment verflüchtigt zu haben; sie flammen aber im nächsten Beitrag, den Uta beisteuert, sogleich wieder auf.

Uta ergreift ohne explizite Aufforderung das Wort und nennt einen weiteren mögli­chen Grund für die Expansionspolitik der Nationalsozialisten, der den von der Lehrerin eingezogenen Werthorizont ebenfalls unberücksichtigt lässt. Im Gegensatz zu Olaf, der sich bislang auf geopolitische Sachverhalte konzentriert hatte, führt Uta nun ein ethni­sches Argument ein („Die Sudeten waren ja eigentlich deutsch“, 36). Es muss hier of­fenbleiben – ähnlich wie bei Olafs Beitrag -, ob Uta – die Quelle quasi paraphrasierend – nur ein mögliches politisches Motiv von Adolf Hitler in den Unterricht einbringen möchte oder ob in ihrem Argument auch ein eigenes Werturteil mitschwingt. Jeden­falls präsentiert Uta mit ihrem Beitrag ein Wissen, das Merkmale eines revanchistischen Denkmusters enthält und eine gewisse Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie auf­weist.

Die nun zu beobachtende ‚Zurückhaltung’ der Lehrerin in der Besetzung der Be­wertungsposition macht auf die Verstetigung der Veränderung des kommunikativen Formats aufmerksam. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Lehrerin nach dem Beitrag von Olaf („Ukraine und die ganzen Ostländer“, 35), die folgende Sequenzstelle zwar besetzen wollte, Uta ihr aber zuvorkam, so wäre spätestens nach dem Beitrag von Uta zu erwarten, dass die Lehrerin nun das Wort ergreift, um Stellung zu den beiden vor­angegangenen Beiträgen von Olaf und Uta zu nehmen. Stattdessen lässt sie auch diese Korrekturoption verstreichen. Im Transkript ist stattdessen das Gemurmel der Schüler verzeichnet (37), dessen Referenz inhaltlich nicht genauer bestimmt werden kann.

Der nächste Beitrag Utas besteht nur aus den beiden Worten „sauber gemacht“ (38), die im Kontext der hier verhandelten Thematik an den von der nationalsozialistischen Ideologie gebrauchten Begriff der „Säuberung“ erinnern. Erst jetzt greift die Lehrerin wieder ins Gespräch ein, besetzt die Stelle der Bewertung und kommentiert den Bei­trag Utas durch eine Wiederholung ihrer letzten beiden Worte. In modifizierter Form aktualisiert sie die zuvor mit der Wieso-Frage etablierte Vorwurfskommunikation. Die wortwörtliche Wiederholung einer Äußerung hat gemeinhin entweder die Funktion, den Beitrag eines Gegenübers als wichtig und bemerkenswert hervorzuheben oder sie dient als Einleitung einer empörenden Zurückweisung.

Der Kommentar der Lehrerin schließt objektiv an das oben herausgearbeitete Mu­ster einer pädagogischen Beurteilung an, die den eigenen Werthorizont nicht expliziert, auf eine direkte moralische Beurteilung der Beiträge und Personen verzichtet und statt­dessen auf die Selbstkorrekturoption im sozialen System Unterricht setzt. Durch die klassenöffentliche Markierung von Utas Aussage als bemerkenswerter, potentiell an­stößiger Beitrag wird auf Adressatenseite erneut Raum für Selbst- und Fremdkorrek­turen eröffnet. Welche Wertung die Lehrerin mit ihrer Wiederholung des Beitrags von Uta subjektiv verbindet, kann allein an ihren Worten nicht abgelesen werden. Was aber anhand des vorliegenden Transkripts erschlossen werden kann, ist die Bedeutung, die Uta der Wiederholung ihres Beitrags zuschreibt. Uta nennt nicht weitere Motive, die für die Expansionspolitik Hitlers entscheidend gewesen sein könnten, sondern sie wechselt die Strategie: die den Schülern vorliegende Textquelle wird nun zum Argument. Utas Anschlussäußerung zeigt an, dass die Wortwiederholung wenn nicht als moralischer Vorwurf, so doch mindestens als sachlicher Einwand verstanden wird. Auch sie rea­giert – ähnlich wie Olaf – mit einer Rechtfertigung. Mit ihrer Formulierung „Ja so sagt der das ja“ (41) macht sie deutlich, wem der Inhalt ihrer vorangegangenen Beiträge zugerechnet werden muss. Nicht sie ist für den Inhalt ihrer Aussage zur Rechenschaft zu ziehen, sondern es ist Adolf Hitler, der für die von ihr gebrauchten Formulierungen verantwortlich zu machen ist. Mit der darauf folgenden Einordnung ihrer Beiträge als Textreferat („Das steht hier drinne!“, 43) komplettiert sie ihre Rechtfertigung.

Uta setzt sich also gegen den Vorwurf der Lehrerin mit dem Verweis auf einen Text zur Wehr. Im Unterschied zu Olaf, der auf die sachliche Richtigkeit seines Beitrages insistiert hatte, führt Uta die Unterscheidung zwischen der Position des Textes und ihrer eigenen Haltung ein. Utas Rechtfertigung ist für Olaf offensichtlich Anlass, ihr mit ei­nem „Ja“ (44) zuzustimmen und sich wieder in die Diskussion einzuschalten. Er schließt mit seiner Bemerkung „Ressourcen der Erde und so was“ (44) zwar nicht direkt an den Inhalt von Utas Beitrag an, konfirmiert ihn aber und setzt sich – im Verbund mit Uta – in Opposition zur Lehrerin.

Betrachtet man den Verlauf des Unterrichtsgesprächs bis zu dieser Stelle im Zusam­menhang, dann ist festzustellen, dass sich der Fokus auf den Gegenstand des Unterrichts in einer bestimmten Weise verfestigt. Die Beiträge von Uta und Olaf beschränken sich auf die Ausdeutung der Quellen und Darlegung der Motive Hitlers, sind also auf die Formulierung eines Sachurteils konzentriert. Werturteile, wie sie von der Lehrerin über ihre Einwände indirekt eingeführt werden, bleiben dagegen aus.

Von der sich an Olafs Beitrag anschließenden Äußerung Utas ist nur noch das un­deutlich gesprochene Wort „Nazi“ (44) hörbar. In ihm deutet sich der weitere Verlauf der Kommunikation bereits an:

Nachdem sich Uta und Olaf in ihren Deutungen gegenseitig bestätigt und dabei die Be­wertungsoperation zeitweilig besetzt gehalten haben, schaltet sich die Lehrerin wieder ein. Ihr bislang latent gebliebener Vorwurf kommt nun zum Ausdruck. Sie fordert ihre Schüler auf, im Umgang mit einem so brisanten Thema (48) den „Konjunktiv“ (50) zu benutzen, weil man, so fährt sie nach einer kurzen Schülerunterbrechung fort, sonst nicht genau wisse, ob der Sprechende eine mit der nationalsozialistischen Ideologie übereinstimmende Auffassung vertrete. Die Lehrerin greift damit die von Uta einge­führte Unterscheidung zwischen der Position des Textes und der eigenen Haltung auf. Sie verdeutlicht, dass Uta bei nicht hinreichend markierter Distanz zum referierten Text in den Verdacht geraten könnte, selbst der NS-Ideologie anzuhängen („sonst, ähm, wird das ein bisschen problematisch, da weiß man nicht so genau, vertrittst du jetzt auch die Position oder“).

Ihr Appell stellt eine Art ‚Klugheitsregel‘ dar, die man folgendermaßen übersetzen könnte: ‚Wenn du nicht als Nazi erscheinen willst, dann solltest du den Konjunktiv verwenden‘. Damit ist ein weiterer thematischer Fokus auf den Gegenstand eingeführt: Die Einübung in die sozial gültigen Formen der öffentlichen Rede über das Thema Na­tionalsozialismus, mithin also die Heranführung an Erwartungen, mit denen die Schüler jenseits des pädagogischen „Schonraums“ Unterricht in der öffentlichen Sphäre der Er­wachsenen konfrontiert werden.

Gleicht man diesen Fokus mit den anderen drei thematischen Foki ab, die im Un­terrichtsgespräch bislang aktualisiert wurden – (1) Abfrage von Faktenwissen, (2) For­mulierung eines Sachurteils und (3) Bildung eines Werturteils – dann wird deutlich, dass die vorangegangene implizite Aufforderung zu einem Werturteil von Seiten der Lehrerin nun mit dieser Klugheitsregel in den Hintergrund rückt. Die Lehrerin kritisiert die mangelnde Beherrschung einer methodisch verankerten sprachlichen Kompetenz (beim Referieren von historischen Quellen ist der Konjunktiv zu benutzen), sie hebt nicht auf eine klar konturierte moralische Haltung ab, sondern ruft zu einer .lebensprak­tisch’ orientierten Vorsicht auf. Das moralische Urteil wird so aus dem pädagogischen Verhältnis zwischen Lehrerin und Schülerin ausgelagert in eine generalisierte Vorstel­lung öffentlicher Erwartungen des Redens über den Nationalsozialismus, an denen die Beiträge der Schüler nun gemessen werden. Das als semantischer Platzhalter für diese Vorstellung fungierende „man“ (Z: 119) erweist sich dabei als ein inklusive Formel, die angefangen von der Person der Lehrerin über die an der Kommunikation partizipieren­den Mitschüler bis hin zu möglichen Kommunikationspartnern außerhalb der pädago­gischen Provinz Schule jeden umschließen kann. Damit setzt auch dieser Anschluss der pädagogischen Kommunikation auf forcierte Selbstkorrektur, hier durch gedankliche Konfrontation mit den möglichen sozialen Konsequenzen eines undistanzierten Sprach­gebrauchs. Das Streben der Schüler nach sozialer Konformität und Anerkennung wird dabei zur Gelingensbedingung dieser pädagogischen Erwartung.

Die dem Transkript zu entnehmenden Bemühungen Utas, sich von der potentiel­len Zuschreibung, eine Sympathisantin der nationalsozialistischen Ideologie zu sein, zu befreien (56-58), die bis zur Einforderung einer Bestätigung ihrer sozialen Rehabilita­tion reichen (58), sprechen dafür, dass diese Gelingensvoraussetzung, also das Streben der Schüler nach Anerkennung, in der betrachteten Unterrichtssituation erfolgreich in Rechnung gestellt werden kann. Noch bevor die Lehrerin ihren Beitrag beenden kann, wird sie durch ein langgezogenes „Neeein“ (56) von Uta unterbrochen, dem das aus­drückliche Bekenntnis folgt: „Ich bin kein Nazi, ich wollt=s nur sagen“ (58). Dieser klassenöffentlichen Bekundung einer moralisch korrekten Gesinnung durch Uta folgt die Äußerung eines namentlich nicht identifizierbaren Schülers. Mit einem „Wer weiß“ (60) bringt dieser einerseits den Charakter des Verdachts, der die ganze Kommunikation zu durchziehen scheint, ironisch auf den Punkt und verleiht andererseits der im Kommunikationsraum Schulklasse immer in Rechnung zu stellenden kollektiven sozialen Beobachtungs- und Bewertungssituation Geltung. Mit der Formel „Noch mal“ (61) lei­tet die Lehrerin wieder zu dem sachlichen Gehalt ihrer Eingangsfrage zurück und zeigt damit an, dass die Erarbeitung der Motive von Hitlers Expansionspolitik noch aussteht.

Die Bildung und die Beurteilung von Urteilen im Spannungsfeld von moralischer und pädagogischer Kommunikation

Ausgangspunkt des Beitrages war der Anspruch, Urteilsbildung im Geschichtsunter­richt unter den Bedingungen der Prozessdynamik der unterrichtlichen Interaktion zu untersuchen. Gegenstandstheoretisch wurde dabei eine doppelte Perspektive auf die un­terrichtliche Kommunikation von Urteilen eingenommen: Das pädagogische Bemühen um die Befähigung der Schüler zu einem eigenständigen Urteil schließt immer auch die Beurteilung dieser Urteile ein. Letzteres wiederum kann moralische Adressierungen mit Folgen für die Achtung und Anerkennung der Schüler als moralische Subjekte nach sich ziehen.

Betrachtet man die Befunde der Interpretation vor dem Hintergrund dieses Be­zugsproblems, dann lässt sich feststellen, dass in dem untersuchten Fall auf die ex­plizite Thematisierung politisch-moralischer Haltungen der Adressaten, aber auch auf die Einforderung von Werturteilen verzichtet wird. In den Bewertungssequenzen wird die Differenz von erwarteter ethischer Positionierung und tatsächlicher Aneignung zwar deutlich markiert. Der Werthorizont, vor dem die Schüler das Thema der nationalsozia­listischen „Expansionspolitik“ behandeln sollen, bleibt jedoch implizit. In den Entgeg­nungen der Lehrerin auf die Beiträge von Olaf („Wieso gab=s da Platz? Entschuldigung. Aber wieso gab=s da Platz? Wohnen da keine Menschen?“) und Uta („sauber gemacht“) lässt sich der kaschierte moralische Gehalt der Rückfragen zwar rekonstruieren. Wie die Schüler daran anschließen sollen, wird allerdings offengehalten und der Selbstkorrek­tur der Schüler überlassen. Dieser Modus der Umschiffung direkter moralischer Adres­sierung und Fremdkorrektur wiederholt sich an verschiedenen Stellen des Unterrichts. Als Olaf im Anschluss an die Bewertungssequenz seine Perspektive nicht ändert, am eingeschlagenen Kurs der Aufzählung möglicher Gründe für Hitlers Expansion in den Osten festhält („vom Raum her“/“nötigen Ressourcen“) und man mit einer Explikation und Vereindeutigung der Aneignungserwartung rechnen könnte, wechselt die Lehrerin den thematischen Fokus auf die Abfrage von Wissen („Wo?“). Auch die kommunikative Resonanz auf Utas „sauber gemacht“ zeichnet sich durch eine moralfreie Adressierung der Schülerin aus. Die Lehrerin kritisiert mit dem Verweis auf die Verwendung des Konjunktivs nicht Utas Haltung zum Nationalsozialismus, sondern lediglich eine feh­lende methodische Kompetenz. Der Werthorizont wird auch hier nur kaschiert ausge­wiesen, wenn vor dem Hintergrund generalisierter Erwartungen des Redens über den Nationalsozialismus auf die Gefahr hingewiesen wird, dass man bei unzureichender sprachlicher Distanzierung von Hitlers ideologischer Argumentation falsch verstanden werden könnte.

Die sequenzielle Rekonstruktion des dokumentierten Unterrichtsverlaufes zeigt, dass die pädagogische Kommunikation moralische Adressierungen und die explizite Einforderung von Werturteilen trittsicher umschifft und offenbar konsequent auf Kon­fliktvermeidung ausgerichtet ist. Wie ist dieser Befund zu deuten? Ordnet man ihn in die Befunde zu den Formen moralischer Kommunikation in anderen institutionalisierten Kontexten ein (Bergmann/Luckmann 1999), dann ist zu konstatieren, dass die Vermei­dung moralischer Kommunikation keine Ausnahme, sondern eher die Regel darstellt (Schneider 2004b). Ungeachtet aller kontextbezogenen Differenzen im Umgang mit und der Umschiffung von moralischen Konflikten gehört die Erfüllung von Achtungs­bedingungen gegenüber anwesenden Kommunikationsteilnehmern offensichtlich zu ei­ner generalisierbaren Erwartung in Interaktionssituationen, deren Geltungsgrad freilich variieren kann (Hügli 2007).

Diese Erwartung stellt sich im Unterricht, also dort, wo die Beurteilung von Urtei­len strukturnotwendiger Bestandteil der Kommunikation zwischen Lehrern und Schü­lern ist, besonders scharf. Beurteilung und Bewertung als unhintergehbarer Teil pädago­gischer Kommunikation werfen immer das Problem auf, wie sie von ihren Adressaten verstanden und zugerechnet werden: als eine rein „in der Sache“ begründete Beurtei­lung oder eben auch als Infragestellung mit personalen und möglicherweise sogar mo­ralischen Anteilen. Hier „schlägt“, wie Anton Hügli es treffend formuliert, „die Stunde des Takts“ (ebd.: 118), die sich im 18. Jahrhundert als eine Form der Moral im Umgang mit Beurteilungen herausgebildet hat. „Es ist eine Form der Kommunikation, die etwas zu verstehen gibt, ohne es zu sagen, und die es darum dem Urteil des andern überlässt, was er aus dieser Mitteilung machen will. Sie kommt dort zum Zuge, wo man unter­stellt, dass Alter sehr wohl weiß oder zumindest wissen müsste, was zu tun wäre, und auch den Willen haben müsste, es zu tun, aber in einer bestimmten Situation unsere Erwartungen enttäuscht oder zu enttäuschen im Begriffe ist“ (ebd.: 119).

Für den pädagogischen Takt indes scheint dieser Erwartungshorizont nur bedingt zu gelten. Während der von Hügli beschriebene taktvolle Umgang mit moralisch pro­blematischen Antworten in Anspruch nimmt, dass der Adressierte prinzipiell über die Kompetenz verfügt, ‚richtig’ zu urteilen, ist dieser Anspruch in pädagogischer Kom­munikation gerade nicht selbstverständlich. Im Unterricht besteht eine besondere nor­mative Erwartung an die Beurteilung von moralischen Urteilen, in der die Schüler nicht als Erwachsene adressiert werden müssen. Auf die fehlende Urteilsfähigkeit kann päd­agogisch reagiert werden, weil Kinder und Jugendliche per definitionem noch nicht voll sozialisierte, nicht voll kompetente Akteure sind. Die Adressierung, aber auch die Anerkennung der Schüler als mündige Bürger kann ausgesetzt und deren moralische Entwicklung mit Nachsicht bewertet werden.

Dennoch wird – wie der untersuchte Fall zeigt – das Aneignungsverhalten der Schüler keineswegs gleichgültig behandelt. Forciert wird die Selbstkorrektur, ohne dass Werturteile explizit eingefordert werden. Zudem wird im Verlauf der Kommunikation in der Form einer unterrichtstypischen Belehrung die methodische Kompetenz der Schü­ler adressiert, was unter Erwachsenen bereits taktlos erscheinen müsste. Im Unterricht, der qua Erwartung darauf zielt, die methodischen Kompetenzen und moralischen Wert­urteile von noch nicht voll sozialisierten Schülern zu fördern, gehören Bewertungen unter bestimmten professionsethischen Selbstbegrenzungen zu einem legitimen Mittel pädagogischer „Macht“. Für die Bewertung von methodischen Kompetenzen und Sach­urteilen gelten – das legt zumindest der Befund des untersuchten Falles nah – andere Selbstbegrenzungen als für die Bewertung von Werturteilen.

Dass diese Selbstbegrenzungen das polemogene Potential des Themas Nationalso­zialismus und den an seine Vermittlung geknüpften Erziehungsanspruch nicht gänzlich still stellen kann, zeigt die Sequenz mit Uta deutlich: Sie reagiert bereits auf die unausge­sprochenen thematisch begründeten moralischen Unterstellungen und Erwartungen der Lehrerin von sich aus im Modus moralischer Kommunikation. Ob die als pädagogischer Takt deutbare Interventionsstrategie der Lehrerin auch als solche verstanden oder doch als Belehrung bzw. Vorwurf aufgegriffen wird, entscheidet sich, wie die Sequenz sehr klar zeigt, erst im Vollzug der Kommunikation und nicht bereits durch die Absichten der Lehrerin.

Der Fall weist insofern darauf hin, dass die enge Verschränkung von Sach- und Werturteilen gerade im Umgang mit moralisch konnotierten Themen für die Unter­richtskommunikation das Risiko birgt, trotz Beschränkung der methodisch-didaktischen Absicht auf die Beurteilung und Förderung von sachlicher Urteils- und Methodenkom­petenz eine moralische Aufladung zu erfahren. Weil die Befähigung zur Urteilsfähigkeit unauflöslich mit dem Akt der Be-Urteilung von Urteilen verwoben und deshalb nah an moralischen Konflikten gebaut ist, scheint die kommunikationsbezogene Untersuchung der Handhabung von Urteilsbildung im Unterricht eine leistungsfähige Ergänzung der kompetenzzentrierten geschichtsdidaktischen Forschung.

Fußnoten:

1) Das Material ist im Rahmen des DFG-Projekts „Der Umgang mit den Paradoxien politisch-moralischer Erziehung“ (2005-2007) erhoben worden, das unter der Leitung von Frank-Olaf-Radtke und Matthias Proske sowie den weiteren Autoren und Verena Haug an der Goethe-Universität Frankfurt realisiert worden ist. Gegenstand der Untersuchung war der Geschichts- bzw. Ethikunterricht zu den beiden Themen Holocaust/ Nationalsozialismus und Rassismus/Multikulturalismus. Als Datenbasis dienten 38 Lehreinheiten, die in verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I und in settings der außerschulischen Jugendbildungsarbeit vor dem Hintergrund der oben vorgeschlagenen theoretischen und methodologischen Perspektive erhoben und ausgewertet wurden. Über die für die Politik- und Geschichtsdidaktik relevanten Befunde hinausweisend ( Proske 2007; 2009a; Meseth 2008; Meseth/Proske 2010; Radtke 2010) wurde an anderen Stellen der Akzent auf die Entwicklung einer Theorie des Unterrichts und die Methodologie der Unterrichtsforschung gelegt (Meseth/Proske/Radtke 2011; 2012; Proske/Radtke 2007; Proske 2006; Proske 2009b).

2) In dem vorausgegangenen Unterrichtsgespräch ging es immer wieder um die politischen Ab­sichten und Motive, die Adolf Hitler mit seiner Expansionspolitik verband. Insofern kann man für die von der Lehrerin mit „er“ (2) oder „ihm“ (3) bezeichnete Person den Namen Adolf Hitler einsetzen.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zisu/article/view/7244

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