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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der vorliegende Artikel richtet den Blick auf die Aneignungsprozesse und rückblicken­den Deutungen von Lehramtsanwärtern im Vorbereitungsdienst zum Studienelement des Schulpraktikums. Anhand eines exemplarischen Einzelfalles sollen Einblicke in die bio­graphische Relationierung von Schulpraktika und Praxiserfahrungen dargestellt werden. Es wird betrachtet, wie eine Lehramtsanwärterin ihr Schulpraktikum aus der Perspektive des Vorbereitungsdienstes biographisch verarbeitet und reflektiert. Daraus sollen Schlussfolgerungen für die universitäre Lehrerbildung gezogen werden. (…) Anhand konkreter Fallmaterialien aus zwei berufsbiographischen Interviews mit Lehramtsanwär­tern des Grund- und Sonderschullehramtes wird anschließend rekonstruiert, auf welche dominanten Erfahrungen sich die Lehramtsanwärter im Rückblick beziehen und welche Erkenntnisse hieraus über das Studienelement „Schulpraktikum“ gezogen werden kön­nen. (…)
Es ist anzunehmen, dass das Praktikum als strukturelle An­forderung auch signifikanten Einfluss auf solche globalen biographischen Prozesse haben kann. Wie sich die strukturellen Bedingungen der Praktika in welcher Form auf die bio­graphische Entwicklung von Studierenden auswirken, ist daher eine noch offene For­schungsperspektive.

Der Fall Andreas Heinzel: „Motivation ist das A und O“

Im Unterschied zu Eva Kuhn verweist Andreas Heinzel gleich zu Beginn des Interviews darauf, dass er schon als Kind von diesem Beruf fasziniert gewesen sei. Von diesem Interesse ausgehend erzählt er seine Berufslaufbahn, die ihre Begründung vor allen Din­gen in seiner eigenen Schulzeit findet. Von enormer Bedeutung sei dabei die Motivie­rung durch die Direktorin seiner Schule gewesen. Dies wird besonders anhand einer sehr detailreichen szenischen Darstellung deutlich, in der er erzählt, wie sie das Thema „Be­rufswunsch“ offen in den Raum stellt und ihm ermöglicht, sein Interesse für den Lehrer­beruf zu äußern. Es zeigt sich hierbei eine besondere Figur der Nutzung von signifikan­ten Anderen für die Unterstützung und Motivation eigener handlungsschematischer Ent­würfe. So gelingt es Andreas Heinzel die positive und offene Reaktion der Direktorin als Antriebskraft zu nutzen, seinen Berufswunsch zu verfolgen und eigenaktiv in Angriff zu nehmen.[1] Die Unterstützung und Zustimmung nicht nur dieser einen Lehrperson, sondern auch die folgende Motivation durch die anderen Lehrer, nehmen in Andreas Erzählung eine auffallende Bedeutung ein.
Es zeigt sich, dass die Bekräftigung, Motivierung aber auch kritisch reflektierende Unter­stützung durch signifikante Andere für Andreas Heinzel ein enormer Stützpfeiler für die Durchführung seines biographischen Handlungsschemas „Lehrer werden“ darstellt. In der Art der Darstellung und auch in der Art der Kritik an anderen Praxiserfahrungen kristallisiert sich heraus, dass vor allem die Unterstützung und Begleitung durch Mento­ren für ihn als Gradmesser der Qualität von Praktika gelten. Dies wird vor allem anhand der Kontrastierung mit den Erfahrungen des Referendariats deutlich, welche er als wich­tigsten Schritt in seiner Entwicklung einschätzt. Die Darstellung der Unterstützung und des „Coachings“ durch seine Mentoren, die ihm klare Handlungsanweisungen geben, ihn als Experten in die Lehrerrolle einführen (sei es in der Anleitung der „Lehrersprache“ oder des körperlichen Auftretens in der Klasse), nehmen in seiner Darstellung einen weiten und detailreichen Raum ein.[2]
Deutlich wird, dass die Inhalte des Studiums im Vergleich zur Anleitung und Einweisung durch die Experten in ihrer Bedeutung von Andreas wesentlich abgewertet werden. Erst im Nachfrageteil des Interviews thematisiert der Informant, dass ihm jetzt deutlicher geworden sei, warum es wichtig wäre, sich bestimmte „Gedanken“ zu machen. Andreas Heinzel setzt sich in seiner Darstellung auch argumentativ mit dem Thema der Verknüp­fung von Theorie und Praxis im Studium auseinander, dies erfolgt in Form einer eher negativen Bilanz seines Studiums:

„was jetz so eh die Lehrer- (.) Entwicklung für ’n Lehrerberuf (.) angeht (.) denk ich mal is‘s Studium immer sehr schwierig zu sehen weil Studium sehr viel Theorie is und (.) für mich meiner Meinung nach viel zu wenig mit Praxis geknüpft is (.) schulpraktische Übungen sind zwar schön und gut angedacht aber meiner Meinung nach sehr sinnlos in einer Klasse einmal in der Woche ’ne Stunde reinzugehen (..) ehm (.) is zwar schön das mer mal die ersten Möglichkeiten hat da zu unterrichten aber wenn mer jetz- wenn ich jetz zurückblicke seh ich das als sehr sinnlos ich könnte (.) nich in eine Klasse ’ne Stunde nur reingehen (.) und dann sagen ich mach ’nen or­dentlichen Unterricht oder so (.) und wenn man dann kritisiert wird oder so meine erste Stunde war dann sehr gegen ’n Baum die ich jemals gehalten hab (.) ich wurde dann so was von runter gemacht dass sogar die Dozentin von der Uni gemeint hat (.) alle Achtung dass du trotzdem wei­termachst (.) weil (.) es war wirklich (.) total (.) daneben (.) aber (.) ich find halt wirklich SPÜ (.) ziemlich sinnlos“

Andreas Heinzel reklamiert argumentativ die Überlast von Theorie sowie den Mangel an Praxiserfahrungen und der Verknüpfung der beiden Elemente im Lehramtsstudium. Die Versuche diese Verknüpfung herzustellen, wie zum Beispiel in Form der SPÜ, bewertet er im Rückblick, aufgrund der geringen zeitlichen Einbindung als nicht sinnvoll. Guter Unterricht sei in dieser kurzen Zeit nicht zu leisten. In seiner weiteren Darstellung wird deutlich, dass er ebenso wie Eva Kuhn in den SPÜ eine verletzende Erfahrung gemacht hat. Hierbei erlebt er seine erste Unterrichtsstunde als Misserfolg und erfährt im Nach­hinein eine massive Kritik.[3] Diese Kritik wird durch die betreuende Dozentin der Univer­sität implizit bekräftigt, in dem sie ihm staunend anerkennt, trotz der Kritikerfahrung an seinem Berufswunsch festzuhalten.
Die Interaktionssituation der Unterrichtsstunde stellt Andreas Heinzel ähnlich wie Eva Kuhn nicht dar. Dominant bleibt die Erfahrung der Kritik und das Erlebnis, in seinem beruflichen und biographischen Entwurf in Frage gestellt zu werden. Bezogen auf Andreas Heinzeis biographisch geprägtes Bedürfnis nach Motivation und Stärkung durch Andere, ist dieses Erlebnis umso gravierender. Dies belegt die argumen­tative Einbettung dieser Praxiserfahrung. Das Spannungsfeld von Theorie und Praxis ist dabei ein Ventil, mit dem Andreas Heinzel die Erfahrung der Kritik von seinem Selbst­bild abgrenzen kann. In dem er seiner Darstellung aus einer impliziten Expertenposition voranstellt, dass das Studium als ganzes Konstrukt kritisierbar ist, weil die normativ vorausgesetzte Verknüpfung von Theorie und Praxis nur ungenügend erfolgt, entlastet er die Tiefe seiner eigentlichen Scheiternserfahrung.
Fazit aus dieser Sequenz bleibt, dass Andreas Heinzel vor allem den Akt der Bewertung seines ersten Versuches im Lehrerhandeln vor Augen bleibt. Eine Deutung dieser Bege­benheit gelingt ihm nur über die Abwertung des Studiums [4] und die Erklärung, dass dies in der mangelnden Verknüpfung von Theorie und Praxis begründet liege.

In der Analyse der beiden Fälle (Biographische Relationierungsprozesse von Lehrern im Vorbereitungsdienst – Fall Eva Kuhn) werden ähnliche Erwartungen und Umgangsweisen mit dem Ausbildungselement „Praktikum“ sichtbar. Die Studierenden erhoffen sich eine Rückversicherung der persönlichen Eignung für einen klar anvisierten Beruf. Deutlich wird, dass die jeweiligen biographischen Konstellationen einen sehr wichtigen Anteil an der Bewertung und auch der jeweils eigenaktiven Nutzung der Praxiserfahrungen darstel­len. Besonders interessant ist hierbei, dass beide, trotz der sehr unterschiedlichen Basis­positionen mit dem Praxiselement SPÜ ungünstige Erfahrungen gemacht haben und diese kaum reflexiv greifen können. Gemeinsam ist ihnen das Erlebnis der misslungenen Stunde und der fehlende reflexive Zugang zu den Bedingungskonstellationen dieser Interaktionssituation. Dies weist auf ein strukturelles Problem hin.
Die Studierenden sind innerhalb der SPÜ nur kurzzeitig in der Klasse und stehen hier vor der Herausforderung, Unterricht vorzubereiten und zu halten. Dies geschieht unter Be­obachtung und Begleitung eines Mentors, der die Hauptverantwortung für das Unter­richtsgeschehen in der Klasse trägt. In ihrer Rolle sind die Studierenden Angehörige der Organisation Universität, die einen Exkurs in die Organisation Schule machen. Indem sie Unterricht halten, werden sie ein Teil dieser Organisation und versuchen, der Vermitt­lungsaufgabe gerecht zu werden. In den SPÜ ist damit ein Ziel grundgelegt, welches eine anschließende Bewertung nahe legt. Diese Bewertung kann durch alle in den Prozess involvierten Personen, aber auch durch den Studierenden selbst in Form einer Selbstbe­wertung erfolgen. Es konnte gezeigt werden, wie entscheidend es ist, in welcher Form diese Bewertung erfolgt. Als problematisch erweist sich, dass die Studierenden eine erfolgte Kritik zugleich als eine Infragestellung ihrer grundsätzlichen Eignung für den Lehrerberuf empfinden können. Zugleich impliziert dieses zielgerichtete Vorgehen eine Fokussierung auf die „Funktionsanforderungen des Lehrerberufs“, also die „Einsozialisation in ein Set von institutionell bereit gestellten Handlungsmustern“ (Wesemann 1983, 196). Die Studierenden lernen dabei einen wesentlichen Bereich des Lehrerhandelns kennen. Mit dieser Zielrichtung besteht allerdings die Gefahr, dass eine Betrachtung von Schule und Unterricht als Interaktionsraum, den Schülerinnen und Lehrerinnen auf der Grundlage ihrer individuell verschiedenen Lebenslagen gestalten, zu kurz kommt. Hier­bei wäre es Aufgabe der universitären Begleitung, Angebote zur Verfügung zu stellen, um die erfahrenen Erlebnisse zu reflektieren und vor allen Dingen biographisch aufzuar­beiten. Die Analyseperspektive der biographischen Relationierung hat gezeigt, dass Studierende Zusammenhänge auf der Grundlage ihrer Biographie bilden. Wie dargestellt, besteht dabei die Gefahr, dass individuelle Aneignungsschwierigkeiten eigentheoretisch aufgelöst werden. Das Konstrukt des Spannungsfeldes zwischen Theorie und Praxis ist hierbei eine nahe liegende Figur, um sich von Misserfolgserlebnissen oder Berührungs­ängsten in der universitären Ausbildung abzugrenzen. Gleichzeitig wird diese Figur auch institutionell zur Abgrenzung von Zuständigkeiten genutzt und reproduziert. Eine kriti­sche Reflexion und Relativierung der Konstrukte: wissenschaftliche Theorien, Alltags­theorien, schulische Praxis, universitäre Praxis könnte ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um Zugangsschwierigkeiten im Studium zu bearbeiten.

Fußnoten:

[1] „aber die Direktorin die fing dann Sozialkundeunterricht halt gehabt (.) erste Stunde fing dann an (.) Berufswunsch (.) was denkt ihr würdet ihr gerne machen träumt mal so was war Traumberuf und da hab ich halt so erzählt (.) und sie hat dann halt auch so bisschen beobachtet und hat dann halt ooch gemeint na warum (?)nich(?) (.) kann man doch versuchen (.) wenn du’s jetzt wirklich denkst das du’s schaff- eh nee das hat sie nich gesagt eh dann aber (.) ich denke du könntest es schaffen wenn du es wirklich willst guck mal deine Noten an und die hat dann wirklich so dran geglaubt und mir das so eingeredet das ich dann irgendwann ein Jahr später sogar so richtig fest dran geglaubt hab“

[2] Die Aussage „Motivation ist das A und O“ kann man daher zweifach deuten: einerseits kennzeichnet er damit sein eigenes professionelles Selbstverständnis, andererseits ist sie auch auf seinen eigenen Werdegang zu übertragen, den er in engen Zusammenhang zur kontinuierlichen Motivierung und Bekräftigung durch andere setzt.

[3] Hierbei wird nicht deutlich, durch wen er kritisiert wird. Es könnte sich um den Mentor, beteiligte Lehrer, Schüler oder hospitierende Studierende handeln.

[4] Wobei hierbei noch andere biographische Hintergründe eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Schwierigkeiten im Rahme des Studiums soziale Kontakte zu knüpfen.

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