Hinweis des Fallarchivs:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

(…)

Wir wollen im Folgenden am Beispiel des Schülerhilfeprojekts „Bildungsförderung im Grundschulalter“ einen Merkmalskomplex in den Mittelpunkt unserer Ausführungen stellen, der hochschuldidaktisch ebenfalls sehr bedeutsam ist: Die handlungsleitenden Motive, Interessen und Zielsetzungen, die Studierende zur Teilnahme an einer Lehrveranstaltung veranlassen bzw. die sich in deren Verlauf – im Kontext der Bewältigung der Anforderungen – entwickeln. Neben den kognitiven Voraussetzungen führen diese motivationalen Voraussetzungen dazu, „dass sich Lerner, die sich in einer gleichen oder sehr ähnlichen Lernumwelt (wie eine Lehrveranstaltung) befinden, mit dem Lernangebot auf unterschiedliche Weise konfrontieren und damit zu abweichenden Lernleistungen gelangen“ (Viebahn 2008, S. 32). Ausschnitte aus narrativen Interviews mit den Lehramtsanwärterinnen Eva Kuhn und Susanne Hinze – beide belegten das Praxisseminar als fakultatives Angebot ihres Lehramtsstudiums an der Universität Halle – spiegeln dies wider:

Eva Kuhn

Eva Kuhn ist eine der wenigen Teilnehmerinnen im Schülerhilfeprojekt, die das Lehramt an Grundschulen studiert. Der Entschluss zu diesem Beruf ist ursprünglich mit vielen Zweifeln besetzt, allerdings sei es für sie schon vor der Berufswahl wichtig gewesen, mit Kindern zu singen und zu spielen. Den Lehrerberuf verbindet sie mit einer sehr großen Verantwortung für die Kinder, bei der sie sich nicht sicher ist, ob sie dieser gerecht werden kann. Zum Entschluss, Lehramt zu studieren, kommt sie nach verschiedenen Praktika und dem im zweiten Bildungsweg abgeschlossenen Abitur und verfolgt schließlich sehr motiviert ihr Berufsziel. Eine große Bedeutung nehmen für sie die Praxiserfahrungen während des Studiums ein. Darunter kennzeichnet sie das Schülerhilfeprojekt, an dem sie über ein Schuljahr hinweg teilnimmt, als wichtigste Erfahrung für ihre professionelle Entwicklung:

 „(.) ja und nach meinem Praktikum dann (.) bin ick eben in die (.) Lerngruppe gekommen also in dieset Projekt von Frau Lessing und det gab mir noch mal so (.) den richtigen Auf- (.) trieb also eh das war det Beste was ich eigentlich in meinem ganzen Studium erlebt habe (.) weil eh (..) na ja die Erfahrungen die ick da gemacht habe mit solchen schwierigen Kindern (.) und ehm mit diesen schwierigen Situationen die die Kindern haben ehm zum Teil (.) also det war für mich (.) lebensnotwendig um (.) det Kind völlig anders noch mal zu sehen (.) also sich ooch wirklich eh (.) diese ganze (.) Umwelt um dieses Kind herum sich bewusst zu machen und darauf einzugehen (.) und immer wieder zu sagen okay det kann nischt dafür (.) det is aus völlig andern (.) Zusammenhängen so wie ’s is (.) und det war eben noch mal ’n total (.) wichtiger Schritt für mich und det hat meine ganze (.) pädagogische Denkweise noch mal vollkommen verändert und dafür war ick sehr sehr dankbar=das war ’n sehr hartes Ding weil ick war ja danach völlig- (.) fix und fertig und wollt die eigentlich gar nich mehr loslassen die Kinder (.) und musste det dann doch weil’s mich einfach so (.) emotional berührt hat das ick dachte nee (.) kriegste jetz nich weiter hin (.)“

Die Lehramtsanwärterin Eva Kuhn kennzeichnet das Projekt, das sie als die „Lerngruppe“ benennt, als einen besonderen Motor und „beste“ Erfahrung in ihrem Studium. Die Erfahrungen mit einer bestimmten Kinderklientel, die nicht leicht zu handhaben und auch in „schwierige“ Lebenskontexte eingebunden ist, stellen für sie eine unabdingbare und bedeutsame Quelle für ihr ganzes Leben dar. Sie detailliert, dass es ein Anlass für sie bedeutete, sich mit den Lebenskontexten der Kinder auseinanderzusetzen, sich auf sie einzustellen und sich bewusst zu machen, dass die Kinder keine Verantwortung für ihre schwierige Lage tragen. Diese Bewusstheit für die Kontextgebundenheit der Kinder bilanziert sie als „wichtigen Schritt“ und bedeutsame Veränderung ihrer professionellen Einstellung. Sie nimmt diese Erfahrung als Geschenk an und verweist auf die Schwierigkeit, sich von diesem Projekt und den Kindern, zu denen sie eine solch intensive Beziehung aufgebaut hat, zu lösen. Dabei spielt vor allen Dingen ihre emotionale Verbindung zu den Schicksalen der Kinder eine große Rolle. In dieser Verbundenheit verortet sie einerseits die Schwierigkeit loszulassen und gleichzeitig auch die Ursache gehen zu müssen.

Susanne Hinze

Susanne Hinze studiert das Lehramt an Förderschulen und nimmt am Schülerhilfeprojekt über zwei Jahre hinweg teil. Sie ist sehr motiviert, Lehrerin an Förderschulen zu werden, da sie hier die Möglichkeit sieht, intensiver mit kleineren Klassenstärken zu arbeiten. Die Praxiserfahrungen sind für sie die wichtigsten Erfahrungsräume im Studium. Das Schülerhilfeprojekt charakterisiert sie hierbei als „fast Gold wert“. In einer Nachfrage zur Art und Weise der Arbeit im Praxisprojekt detailliert sie ihre Erfahrungen:

„Also erstmal (.) es war ’n sehr hoher Zeitaufwand auch / /hm/ / das muss ich ooch sagen also es war zwar immer nur ’ne Stunde aber wir saßen ja auch Vorbereitung dann haben wir gebastelt (.) und manchmal sind wir ooch wieder raus gegangen ((sehr schnell bis (+)) ham gesagt (+) och Mensch das haben wir uns jetz so überlegt und das hat gar nich geklappt oder die sind uns über die Tische und Bänke gegangen (.) da waren wir (.) manchmal schon sehr (.) unzufrieden (.) ehm (.) aber es war (.) sehr wertvoll eigentlich wenn man so erstmal so d- selber die Erfahrung machen wo liegt das eigentlich wo haben die Kinder die Probleme ja (.) wenn du liest zwar hier von Dyskalkulie und allem drum und dran aber da erlebst du ’s halt / /hm/ / (.) hautnah (.) was sich- falsch machen / /hm/ / (.) und (.) was für Zicken die mitbringen ja wenn sie da irgendwie nich gleich ehm (.) wenn ’s nich nach ihrer Nase geht oder (.) die haben jetz (.) auf was andres Lust es- ich mein es war ja ooch damals (.) das war (.) auf `ner freiwilligen Basis (.) aber irgendwo wolltest du ja ds die was (.) mitnehmen und dawar- (.) das haben die Kinder natürlich ooch mitbekommen ne so komm ich morgen nich oder nächste Woche nich (.) haben sie dann gemeint also das war dann auch da muss- (.) es muss sehr schmackhaft sein ne //hm// (.) also hoher Motivationsfaktor aber auf der andern Seite soll’s halt ooch was (.) soll’s den Kindern was bringen ne (.) / /hm/ / (.) und das beides zu (.) zu integrieren (.) das war schon anspruchsvoll (.) aber ooch schön (.) interessant / /hm/ / (..)“

Susanne Hinze kommt zunächst auf einen zeitorganisatorischen Aspekt zu sprechen: das Projekt bedeutet für sie einen hohen Zeitaufwand. Sie muss für eine Stunde pädagogischer Arbeit viel Zeit einbringen, um diese Spiel- und Lernstunde gemeinsam mit ihrer Teampartnerin vorzubereiten und auch Materialien herzustellen. Dieser hohe Zeitaufwand steht im Gegensatz zum tatsächlichen Verlauf der Spiel- und Lernstunde, die häufig entgegen der mühevollen Planungsarbeit verläuft. Dass die Dinge nicht so funktionieren, wie sie geplant waren und die Kinder sich nicht auf die extra für sie vorbereiteten Dinge einlassen, wird als enttäuschend erlebt. Diese Enttäuschung beschwichtigt die Lehramtsanwärterin mit dem Aspekt, dass es „eigentlich sehr wertvoll eigentlich“ war, worin die Diffusität des besonderen Wertes der Erfahrungen zum Ausdruck kommt. Die wertvolle Erfahrung liegt nach ihrer Ansicht darin, in der praktischen Arbeit zu erfahren, in welchen Bereichen die Kinder Probleme haben und dadurch theoretische Konstrukte in der Praxis nachvollziehen zu können. Dabei erscheint zunächst nicht genau fassbar, was sie hier „hautnah“ erleben kann. Sie führt an, dass man erfahren kann: „was sich- falsch machen“. Die undeutliche Formulierung und der Abbruch dieses Satzes verdeutlichten, dass nicht genau fassbar ist, wer genau etwas falsch macht oder ob man dies so formulieren kann. Sie führt weiter aus, dass man die Eigenwilligkeiten der Kinder und ihre Ausdrucksformen erfahren kann. Die Freiwilligkeit des Projektes gibt den Kindern den Spielraum, auf ihre Wahlmöglichkeit der Teilnahme zu verweisen, wenn sie mit Dingen konfrontiert werden, zu denen sie nicht motiviert sind. Eine Aufgabe bestand deshalb darin, die Kinder durch ‚schmackhafte‘ Angebote zu motivieren und gleichzeitig aber auch dem Anspruch der Vermittlung von Lerninhalten gerecht zu werden. Diese Integrationsleistung bewertet die Studierende abschließend als eine große Herausforderung, die auch schöne Seiten hatte, die sie aber schlussendlich abgemildert als eine „interessante“ Erfahrung bilanziert. Im Fallvergleich spiegeln die kurzen Auszüge aus den biografischen Interviews mit Eva Kuhn und Susanne Hinze Gemeinsamkeiten und Kontraste wider. Gemeinsam ist ihnen die positive Bewertung der Erfahrungen, die ihnen das Projekt „Bildungsförderung im Grundschulalter“ ermöglichte: für Susanne Hinze sind sie wertvoll und interessant, für Eva Kuhn gar lebensnotwendig. Grundsätzliche Unterschiede zeigen sich in ihren individuellen handlungsleitenden Motiven und Zielsetzungen bezogen auf dieses Projekt, die sie eine für beide ähnliche Lernumwelt verschieden wahrnehmen, bewältigen und beurteilen lassen und unterschiedliche Lernfortschritte evozieren. Eva Kuhn nimmt im und durch das Projekt persönliche Lebenssituationen und Lernbedingungen der ihr anvertrauten Kinder wahr. Ihr Denken, Fühlen, Wollen und Handeln in dieser Praxissituation ist darauf gerichtet, den Kindern als Mensch Halt und Stütze sein zu wollen („ich wollt die eigentlich gar nicht mehr loslassen“), was sie selbst an ihre Grenzen der emotionalen Belastbarkeit führt und letztendlich eine Beendigung dieser Anforderungssituation zur Folge hat. Eva Kuhn erlebt diese Situation weniger als eine pädagogische denn eine zutiefst menschliche Herausforderung, die, indem sie ihr Menschenbild respektive ihr Bild vom Kind nachhaltig verändert, nicht ohne Einfluss auf ihr professionelles Denken und Handeln bleibt, denn das persönliche Menschenbild eines Lehrers oder einer Lehrerin gehört zu jenen schul- und unterrichtsrelevanten berufsethischen Orientierungen, die als Orientierungs- und Handlungsrahmen für die Beurteilung und Anwendung erzieherischer Maßnahmen im schulischen und unterrichtlichen Kontext wirksam werden (vgl. Standop 2007, S. 148.). Susanne Hinze erlebt das Praxisprojekt hingegen unmittelbar als fachdidaktische Handlungsanforderung, die die Verknüpfung theoretischen Wissens mit praktischen Erfahrungen ermöglicht, Hintergrundarbeit in Form von (zeitlich aufwändiger) Planung verlangt und deren Bewältigung die Anwendung professionellen Wissens und Könnens erforderlich macht und dieses zugleich weiterentwickelt: Probleme und Aufgaben wie die Motivation der Kindergruppe und die Bestimmung fachdidaktisch angemessener Ziele („es soll den Kindern was bringen“) setzen ihr didaktisches Wissen und Können voraus und erweitern es zugleich; das Erkennen von Lernschwächen einzelner Kinder erfordert diagnostisches Wissen und Können und verändert dieses gleichermaßen; die Bewältigung der Aufgabe, Kinder nicht über Tisch und Bänke gehen zu lassen, setzt ein gewisses Maß an Klassenmanagementkompetenz voraus und schult zugleich ihre Fähigkeiten effektiver Klassen- bzw. Gruppenführung.

Alle hier genannten Kompetenzen entwickeln und verändern sich im Verlauf langjähriger praktischer Erfahrung; sie entstehen wie alle Lehrkompetenzen, so Terhart (2006, S. 240), „nicht in Form eines abrupten qualitativen Sprungs vom Nichts zum Vollbild“ sondern in einem in Qualität und Geschwindigkeit individuell verlaufenden Kompetenzaufbau, der bedingt, dass Studierende, Lehramtsanwärterinnen und -anwärter als auch berufserfahrene Lehrkräfte sehr unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen besitzen (vgl. ebd.). Die Diffusität und Ambivalenz Susanne Hinzes gegenüber dieser Praxiserfahrung ähnlich wie der Abbruch des Praxisprojektes durch Eva Kuhn deuten – bei aller Verschiedenheit in deren handlungsleitenden Motiven und Zielsetzungen sowie Lern Potentialen – auf eine Konfrontation mit einer komplexen Handlungssituation hin, der sich beide vor dem Hintergrund ihres aktuellen bereichsspezifischen Wissens und Könnens und ihres Selbstvertrauens in die Wirksamkeit des eigenen Handelns (berufsbezogenes Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit) zum gegenwärtigen Zeitpunkt kognitiv und affektiv nicht ausreichend gewachsen fühlen.

Wie können Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, die eine optimale Kompetenzentwicklung von Studierenden anstreben, deren individuelle kognitive und motivationale Lernvoraussetzungen erkennen und konstruktiv mit ihnen umgehen? Das folgende Kapitel skizziert einige Möglichkeiten.

Möglichkeiten des Umgangs mit heterogenen Lernvoraussetzungen an Hochschulen und Universitäten

Hochschullehrende stehen, wollen sie Studierende optimal fordern und fördern, vor der Aufgabe, Studentinnen und Studenten in ihrer Individualität bewusst wahrzunehmen und konstruktiv mit ihren heterogenen Lernvoraussetzungen umzugehen. In der Literatur finden sich dazu differenzierte Hinweise, die inhaltlich zwei Handlungsfeldern zugeordnet werden können (vgl. nachfolgend Schomaker & Tänzer 2011, S. 110ff.):

  • der Diagnose studienrelevanter Lernvoraussetzungen als Ausgangspunkt individueller Förderung von Studierenden vor dem Hintergrund definierter Leistungsprofile und Zielbestimmungen;
  • dem bewussten Wahrnehmen, Anerkennen und produktiven Umgehen mit der Verschiedenartigkeit der Studierenden, indem Lehrveranstaltungen …
  • … grundsätzlich durch einen respektvollen und wertschätzenden Umgang der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander gekennzeichnet sind.
  • … die Verschiedenartigkeit der Studierenden aufgreifen, um Prozesse individueller Erkenntnisgewinnung und sozialen Lernens anzuregen – u. a. durch Arbeit in gezielt zusammengesetzten Lerngruppen, durch Debatten oder offene Diskussionen, in denen Studierende mit Kenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Urteilen anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer konfrontiert werden oder durch ein anregendes Gesprächsklima, in dem sachbezogene Fragen, Kommentare, kritische Anmerkungen aller Beteiligten als selbstverständlich gelten.
  • … Freiräume zur Entfaltung fachbezogener individueller Stärken und Interessen lassen – u. a. durch offene Lernformen (z.B. projektorientierte Veranstaltungen), in denen Studierende Themenstellungen, Methoden und Organisationsformen wählen können oder durch die Mitbestimmung über Lerninhalte, Aufgabenstellungen und methodische Zugangsweisen zur Erschließung der ausgewählten Lerninhalte in thematisch orientierten Lehrveranstaltungen oder durch Prüfungssysteme, in denen Studierende über Prüfungsinhalte und/oder Prüfungsmodi selbst bestimmen bzw. mitbestimmen können.

Das Praxisprojekt „Bildungsförderung im Grundschulalter“ eröffnet inhaltlich-intentionale Freiräume gerade dadurch, dass es zwei Leitaufgaben miteinander verknüpft, zwischen denen sich Studierende in ihren individuellen Zielsetzungen verorten: der sozialpädagogisch orientierten Aufgabe individueller emotionaler und sozialer Unterstützung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien einerseits, der grundschuldidaktischen Aufgabe andererseits, Schülerinnen und Schüler in der Aneignung bildungsrelevanten Wissens der Fächer Deutsch und Mathematik zu unterstützen. Eva Kuhn erzählt im Interview, dass sie diese Aufgabe bewusst zugunsten ihrer eigenen – sozialpädagogisch ausgerichteten – Zielsetzung hintenangestellt hat:

„und ick muss ooch dazu sagen also ick habe nachher ooch ehm (.) aufgegeben mit denen irgendwie Mathe oder Deutsch zu machen (.) jetzt aufm Blatt Papier ((klopft 2x auf Tisch)) / /hm/ / sondern (.) eh ick wollte eben versuchen dass die Kinder unternander in dieser Gruppe Halt bekommen=wir haben viel (.) viel eh so (..) draußen zum Beispiel na so (.) Kreisspiele gemacht wir sind eh (.) zum Springbrunnen gelaufen (unverständlich) =haben Eis gegessen=haben uns eigentlich über die Probleme der Kinder unterhalten haben versucht det irgendwie darüber (.) also ihnen darüber zu helfen und ihnen zu zeigen ((schnell bis +)) ey wir sind mal da für euch ’ne Stunde und hören euch zu“.

Soll dies erkannt und gezielt im Seminar auf diesen Entwicklungsverlauf Einfluss genommen werden, ist die Eingangsdiagnose studienrelevanter Lernvoraussetzungen und die begleitende Evaluation und Förderung individueller Lernprozesse von Studierenden vor dem Hintergrund definierter Studienziele notwendig. Ein Instrument zur Eingangsdiagnostik ist der von Regine Richter im Neuen Handbuch Hochschullehre vorgestellte „Semesterleitfaden“ zur Selbsteinschätzung und -organisation von Studierenden. Er veranlasst Studierende, vor Beginn einer Lehrveranstaltung und mit dem Wissen über deren Studienziele und -inhalte (wie sie beispielsweise Seminarpläne widerspiegeln) schriftlich folgende Fragen zu beantworten.

  • „Warum nehme ich an dieser Lehrveranstaltung teil?
  • Welche Inhalte bringe ich mit dem Thema der Veranstaltung in Beziehung und was interessiert mich besonders?
  • Was nehme ich mir für diese Veranstaltung vor?
  • Was will ich tun, damit ich das von mir gesetzte Ziel in dieser Veranstaltung erreiche?
  • Woran merke ich, dass ich mein persönliches Ziel erreicht habe?
  • Wie schätze ich meine Vorkenntnisse in Bezug auf das Thema der Veranstaltung ein?
  • Wie viel Zeit pro Woche kann/will ich für die Vor- und Nachbereitung erbringen?
  • Welche Unterstützung wünsche ich mir von den anderen Studierenden?
  • Was will ich dafür tun, um diese Unterstützung zu bekommen?
  • Welche Unterstützung wünsche ich mir von dem/von der Dozent/in?
  • Was will ich dafür tun?
  • Was ist mir sonst noch wichtig?“ (Richter 2005, S. 7)

Ergänzt um fach- bzw. themenrelevante persönliche Angaben (z.B. Studienrichtung, Fachsemester, vorangegangene berufliche Vorerfahrungen) wird eine Kopie dieses Semesterleitfadens an die Seminarleiterin oder den Seminarleiter weitergereicht, so dass sie bzw. er neben einer Selbsteinschätzung des bereichsspezifischen Vorwissens handlungsleitende Motive, Interessen, Zielsetzungen und Handlungsentwürfe der teilnehmenden Studierenden wahrnehmen und in das eigene Lehrhandeln – u. a. in Form differenzierter Lernbegleitung (z. B. Bereitstellung zusätzlicher Materialien, Unterstützung in der Bewältigung der Lernaufgaben) und individueller Beratung und Leistungsrückmeldung – einbeziehen kann. Da sich kognitive und motivationale Faktoren mit der Bewältigung praktischer Anforderungen dynamisch entwickeln und verändern, fällt der diagnostischen Urteilsbildung über individuelle Lernvoraussetzungen der Studierenden während des gesamten Seminarverlaufs – vermittelt über die unmittelbare Interaktion zwischen Hochschullehrenden und Studierenden und die in diesen Interaktionsprozess eingebundenen Evaluationsmaßnahmen (Beobachtungen, Gespräche, Dokumentenanalyse) – eine entscheidende Bedeutung zu. Im Schülerhilfeprojekt „Bildungsförderung im Grundschulalter“ treffen alle Studierenden und die Projektleiterin wöchentlich zur gemeinsamen Reflexion zusammen. Diese Treffen lassen sich u. a. auch nutzen, um in Anlehnung an das Konzept der POS (psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion) von Achim Würker (2007) (Im Fallarchiv einige Fälle vertreten Link einfügen) die Studierenden mit folgender Schreibaufgabe zu konfrontieren:

„Lassen Sie die Erinnerungen an Ihr Praktikum wie einen Film als Bilderstrom vor Ihrem inneren Auge vorüberziehen! Halten Sie diesen Film an der Szene an, die Ihnen besonders eindrücklich ist! Notieren Sie rasch einige Stichworte zu dieser Szene (quasi als Gedächtnisanker)! Schildern Sie diese Szene nun, ohne lange nachzudenken oder zu analysieren.“ (Würker 2007, S. 133)

Durch die Anfertigung solcher Texte und deren – durch Offenheit und Assoziativität gekennzeichnete – Analyse und Reflexion wird den Studierenden die eigene Praxis zugänglich und damit die Chance eröffnet, mit distanziertem Blick und im Diskurs mit anderen auf eine erlebte und vertraute Realität zu schauen und ein differenziertes Bewusstsein für das eigene Denken, Fühlen, Wollen und Handeln zu entwickeln. Achim Würker arbeitet dabei erfolgreich mit der tiefenhermeneutischen Methode des Textverstehens nach Alfred Lorenzer, um jene Erlebnisberichte zu interpretieren. Er macht deutlich, dass die Arbeit mit diesen Texten darauf zielt, sich selbst in den eigenen Handlungsweisen, Werthaltungen und Zielsetzungen kennen zu lernen (vgl. ebd., S.137), doch ist es durchaus vorstellbar, in Erweiterung seines Konzeptes in einem zweiten Schritt die Analyse der Erlebnisberichte stärker theoriegeleitet und fokussiert auf jene für die erfolgreiche Bewältigung der im Praxisprojekt „Bildungsförderung im Grundschulalter“ erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten durchzuführen. Zu Bedenken bleibt allerdings, dass auch solche Reflexionsangebote, mögen sie auch noch so offen und individualisiert zugeschnitten sein, unterschiedlich wahrgenommen und genutzt werden. Zudem bedingen strukturelle Zwänge und Paradoxien ebenso die Praxis der Hochschullehre wie die Schulpraxis. Auch wenn es wünschenswert wäre, besuchen nicht alle Studierenden die Lehrangebote aus völlig „freien Stücken“ sondern sind ebenso wie die Lehrenden eingebunden in ein Netz von organisatorischen Verpflichtungen. Die Spannung zwischen Eigenverantwortung, Selbst- und Fremdbestimmung sollte daher in solchen Reflexionsprozessen nicht außer Acht gelassen werden. Die Dynamik von Lern- und Entwicklungsprozessen bleibt kontingent und ungewiss, egal wie man sie methodisch und organisatorisch einzurahmen versucht.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.