Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Bei der folgenden Darstellung gehen wir zunächst kontextfrei vor (1). Wir haben uns für eine etwas ausführlichere Darstellung entschieden, weil daran die Frage der Anwendbarkeit der Objektiven Hermeneutik für die Rekonstruktion päda­gogischer Generationsbeziehungen illustriert werden soll. Der Fall stammt aus der Studie „Jugend und Raum“ (Hummrich 2011). Betrachten wir nun die erste Sequenz eines Protokolls, das als gültige Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis verstanden werden kann:

S1: is this town fantasy or reality

Im kontextfreien Entwurf von stimmigen Fallgeschichten kann festgehalten werden: Ein Sprecher stellt eine englische Frage zum Realitätsgehalt einer be­stimmten Stadt. Mit dem Verweis auf die englische Sprache ist für die objektiv- hermeneutische Analyse hier bereits zu Beginn das oben genannte methodologi­sche Problem der unterstellten Gültigkeit der intuitiven Angemessenheitsurtei­le der Interpreten zu reflektieren. Handelt es sich bei dem Protokoll um einen englischsprachigen Kulturkreis, kann diese Gültigkeit der Angemessenheitsur­teile nur soweit gelten, wie sich diese auf eine Erfahrungsbasis der Kenntnis dieser Kulturkreise oder auf kulturübergreifende historisch bestimmte Erfah­rungszusammenhänge beziehen. Weniger problematisch ist dieser Sachverhalt für den Fall, dass es sich um eine englische Sprachverwendung in einem ver­trauten Kulturkreis handelt (z.B. eine unterrichtliche oder unterrichtsähnliche Fremdsprachlernsituation). Für diesen Fall wäre in der Fallstrukturanalyse zu berücksichtigen, dass es sich um eine grundlegend mit einer Absicht versehene Situation handelt (z.B. die Festigung oder Erweiterung einer Fremdsprachenkompetenz).

Eine naheliegende Interpretation (und erste Fallgeschichte) wäre nun z.B., den Satz als Frage nach dem eigenen Erleben zu interpretieren: „Wach ich oder träum ich?“ Jemand kommt beispielsweise zum ersten Mal nach New York, nachdem er sich das lange Zeit gewünscht hat. Eine Aussage im Sinne: „Kann das wahr sein, was ich gerade erlebe?“ würde in diesem Zusammenhang auf die Bedeutsamkeit hinweisen, die die wahrgenommene Stadt für den Sprecher hat. Dabei geht es jedoch weniger darum, in der Stadt zu sein – sonst müsste ja die eigene Verortung thematisiert werden: also etwa „is being in this town fantasy or reality?“ oder „is this fantasy or reality“ – wobei „this“ nicht nur die Stadt, sondern die eigene Verortung in der Stadt umfassen würde. Mit der Benennung der Stadt wird jedoch Distanz zwischen die eigene Person, die nicht Teil der Stadt ist, und die Stadt gebracht. Der Zweifel an der Realität bezieht sich nicht darauf, dass ein lang gehegter Wunsch endlich in Erfüllung gegangen ist, son­dern auf die Frage, ob die erlebte Stadt auch wirklich vorhanden ist.

Die Frage nach dem Realitätsgehalt könnte sich aber in einer zweiten (hypo­thetisch konstruierten) Fallgeschichte auch auf die Wahrnehmung eines Ge­mäldes beziehen, das ein Kind einem Erwachsenen zeigt. Reagiert der Erwach­sene auf das Bild mit der Frage, verbirgt sich dahinter zunächst der Wunsch nach einer Information, ob es sich um das Abbild einer realen Stadt handelt oder um den Ausdruck eines Phantasiegebildes. Hinter dieser Informationsfrage verbirgt sich jedoch eine latente Entwertung des kindlichen Gemäldes, sie lässt sich lesen als Spielart einer typischen Erwachsenenfrage bei der Bildbetrach­tung: „Was soll das sein?“ Damit unterstellt sie, dass das Gemälde nicht Aus­druck einer sinnhaften Lebenspraxis ist. Ähnlich verhält es sich zum Beispiel, wenn zwei Personen vor dem Computer sitzen, von denen eine Person eine Stadtsimulation programmiert hat (Variante 2b). Auch hier erklärt sich die wahrgenommene Stadt nicht von selbst. Man erkennt nicht von vorne herein, ob es sich um Berlin, Göttingen oder aber um eine eigene (virtuelle) Schöpfung handelt.

Eine dritte mögliche Fallgeschichte wäre die, dass der Sprecher (S1) die Rea­litätsnähe eines anderen testet und die Frage somit den Stellenwert einer the­rapeutischen Intervention hätte: Er hält dem anderen beispielsweise ein Bild vor und fragt danach, ob das, was der andere Sprecher sieht, Phantasie oder Realität ist. Hier müsste man annehmen, dass es um weit mehr als um die Fä­higkeit ginge, etwas Reales realitätsgetreu darzustellen. Vielmehr geht es um die Zurechnungsfähigkeit und damit die Teilhabemöglichkeit an Sozialität überhaupt. Dies wäre vor allem unter der Annahme vorstellbar, wenn S1 eine Art Expertenstatus innehätte, der die Realitätsfähigkeit von einem Gegenüber feststellt.

Bezieht man nun die Problematisierung am Anfang der Interpretation ein, die sich in der Frage von Fremd-/Mehrsprachigkeit zuspitzen und danach fokussieren lässt, ob es sich um eine natürliche oder eine Vermittlungssituation han­delt, so muss dies nun auf die hier extrapolierten Geschichten angewendet wer­den. In dem Fall, in dem die Sprache Englisch bleibt, sind die Varianten prob­lemlos anschlussfähig. In dem Fall, dass es sich etwa um eine Situation der Fremdsprachigkeit (also z.B. den Englischunterricht handelt), würden die erste und die dritte Geschichte unwahrscheinlich werden. Die zweite Variante wäre aufrecht zu erhalten, wobei erklärungsbedürftig wäre, weshalb etwas, was ein anderer in den Interaktionszusammenhang einbringt (das Abbild einer Stadt), hier in einen Zweck-Mittel-Zusammenhang (i. e. die Vermittlung) eingebunden wird.

Betrachtet man die bisherigen hypothetischen Fallgeschichten vergleichend und versucht deren strukturelle Implikationen zu abstrahieren, können diese Fallgeschichten zu Lesarten verdichtet werden. In diesen Lesarten wird deut­lich, dass S1 keinen unmittelbaren Bezug zu der hier thematisierten Stadt hat. Für den Kontext des Fremdsprachenlernens wäre dann als Lesart davon auszu­gehen, dass entweder die Fremdheit künstlich simuliert wird, um einen Impuls zum Sprechen zu setzen. Oder aber es ginge tatsächlich um eine Differenz und Fremdheit in Bezug auf das Thema der Stadt, die dann zusätzlich zur Logik des Fremdsprachenlernens dazu käme.

Dem Herausarbeiten von Lesarten folgt dann als Arbeitsschritt die Ablei­tung sinnhaft möglicher Anschlüsse (vgl. Abschnitt 2.). Im Fall der ersten Vari­ante (der Selbstbefragung) müsste eine Kommunikation der Unglaublichkeit des Erlebens folgen, in der der Sprecher begründet, warum er seinem Erleben nicht trauen kann, und die individuell herausgehobene Bedeutung zum Aus­druck bringt. In der zweiten Variante, in der ein Sprecher den anderen nach dem Realitätsgehalt eines Kunstwerkes fragt, wäre vorstellbar, dass das, was abgebildet sein soll, artikuliert ist („Das soll Wien sein.“) und damit der Entwer­tung stattgegeben wird. Dabei wäre besonders im Kontext einer Fremdspra­chenvermittlung die Entwertung erklärungsbedürftig, da hier der Sachbezug (Englischlernen) verlassen und auf etwas anderes Bezug genommen wird, von dem sich S1 distanziert und zu dem ein zweiter Sprecher einen Bezug herstellen soll. In der dritten Variante, in der es grundsätzlich um das Anzweifeln der Rea­litätsfähigkeit geht, bleibt dem zweiten Sprecher kaum eine andere Wahl, als auf den Realitätsgehalt einer von ihm gezeigten Stadt zu verweisen und damit seine Zurechnungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, will er nicht Gefahr laufen, dass seine lebenspraktische Autonomie angezweifelt wird. Erst nach Explikati­on dieser Anschlussüberlegungen können wir die nächste Sequenz in unsere Analyse einbeziehen.

S2: das ist cyber, 

Ein zweiter Sprecher tritt nun in die Interaktion ein und verwendet die deut­sche Sprache (unter Bezugnahme auf einen Anglizismus). Damit können wir al­le Fallgeschichten und Kontextvariationen ausschließen, in denen es sich um einen muttersprachlich englischen Kontext handelt. Die zur ersten Sequenz ge­bildeten Fallgeschichten und Lesarten lassen sich nunmehr nur insofern fort­schreiben, als man davon ausgeht, dass die Interaktionsteilnehmer entweder verschiedene Sprachen sprechen (damit auch differente Herkunftskulturen rep­räsentieren) oder eine Situation des Fremdsprachenlernens vorliegt. Was ist al­so noch haltbar? Die Variante der Selbstbefragung kann ausgeschlossen (falsifi­ziert) werden, da weder das eigene Erleben noch die individuelle Bedeutsamkeit der „Stadt“ verdeutlicht werden und zudem ein Sprecherwechsel stattfindet. Für die zweite Variante gilt die oben eingeführte Einschränkung, dass die Hal­tung zum Kunstobjekt Gegenstand der Vermittlung wird und mit der Antwort „das ist cyber“ genau auf ein Erklärungsmodell verwiesen wird, das an die von S1 gestellte Frage anschließt. In diesem Fall wäre eine Fortsetzung mit einer Begründung zu erwarten, im Sinne von: „Das ist cyber, deshalb habe ich die Farben surreal gestaltet.“ Die Variante der Prüfung der Zurechnungsfähigkeit ist ebenfalls schwierig weiter zu führen, weil nun unterstellt werden kann, dass die Relation der angezweifelten Realitätsbezogenheit zusätzlich auf die Grund­lage einer kulturellen Differenz gestellt wäre. Eventuell handelt es sich um ei­nen ausländischen Therapeuten, der als Spezialist für Fragen der verschobenen Realitätswahrnehmung angefragt wird. Inwieweit dabei die kulturelle Differenz hinderlich ist, müsste weiter verfolgt werden.

Hinzu kommt außerdem, dass nicht nur eine andere Sprache gesprochen wird, sondern auch die dichotome Klassifikation („fantasy or reality“) mit dem Sprechakt zurückgewiesen wird. „Das ist Cyber“ thematisiert, dass es sich nicht um eine greifbare, anfassbare Stadt handelt. Der Begriff Cyber leitet sich aus dem englischen „Cybernetics“ ab und heißt eigentlich „lenken“. Er wurde als „cybernetics“ zur Rückkopplungskontrolle entwickelt. Gleichzeitig ist der Begriff „Cyber“ auch als Präfix gebräuchlich: Cyberspace, Cyborg, Cyberkultur, Cyber­punk, Cybernaut usw. Bei den meisten dieser Begriffe geht es um futuristische Entwürfe und Orientierungen mit utopischem oder dystopischem Gehalt, die unter anderem von Jugendkulturen wie den Gothics und den Punks aufgegrif­fen wurden und hierin eigene Stilbildungen hervorbrachten.

Der Sprecher hebt also die dichotomisierende Frage des ersten Sprechers auf. Cyber besitzt in der Cyberwelt eine eigene Realität. Er schafft einen dritten Raum (Bhabha 1990) oder eine dritte Möglichkeit (Baumann 2005), ohne zwi­schen Phantasie oder Realität zu unterscheiden. Damit wird „Cyber“ als Kate­gorie eingeführt, die nicht in die Ordnung von Phantasie und Realität passt, denn die Cyberwelt wird üblicherweise auch als „virtuelle Realität“ bezeichnet, ein maßstabsgetreuer und zeitgetreuer Nachbau oder Alternativentwurf der „echten Welt“. Dabei wird in affirmativen Bezugnahmen auf „Cyber“ die Simu­lationsfähigkeit hervorgehoben, mit der Bedingungsgefüge nachgestellt oder er­probt werden können. Skeptische Bezugnahmen auf „Cyber“ kritisieren, dass es sich nicht um tatsächliche Realität, sondern nur um eine Scheinwelt handelt.

Zusammenfassend lässt sich bis zu diesem Punkt der Sequenzanalyse Fol­gendes festhalten: Es handelt sich hier um eine protokollierte Lebenspraxis, für die alternative oder gar konkurrierende Ordnungsentwürfe zusammenkommen. Mit diesen differenten symbolischen Ordnungen, die in der Interaktion durch jeweils einen der beiden Sprecher repräsentiert werden, stellt sich damit die Frage der wechselseitigen Geltung und der hegemonialen Unterwerfung. Diese Konkurrenz der symbolischen Ordnungen verstärkt sich noch in der Differenz der verwendeten Sprachen, die ihrerseits auf unterschiedliche kulturelle Verortungen verweisen. Wir stoßen demnach auf das Protokoll eines symbolischen Kampfes. Dabei kann dieser symbolische Kampf für die einzelnen Sprecher durchaus bedrohlich sein, wenn es z.B. um die Akzeptanz und Anerkennung (bzw. Missachtung und Abwertung) des jeweils anderen geht. Das wird in der Variante der Prüfung des Realitätsgehalts einer subjektiven Wahrnehmung, z.B. im Kontext einer Therapie, besonders anschaulich. Hier kann hegemoniale Unterwerfung z.B. bedeuten, dass lebenspraktische Autonomie abgesprochen und die Person „aus dem Verkehr gezogen“ wird. Für die Vermittlung von Eng­lisch als Fremdsprache ist dagegen die Bedrohlichkeit weniger offensichtlich. Sie setzt voraus, dass zusätzlich zum Englischlernen auch die Ein- und Anpas­sung an die dichotome Ordnung Gegenstand der Vermittlung ist. Für diesen Fall würde der mit Cyper für S2 verknüpfte Gegenstand aus der Sicht der he­gemonialen symbolischen Ordnung dann abgewertet, wenn dieser im Moment der Ein- und Anpassung nicht dem Realitätsbereich zugeordnet werden kann. Der Verweis auf ein anderes – alternierendes – Ordnungssystem muss dann als Selbstbehauptung und verweigerte An- bzw. Einpassung verstanden werden. Das Moment der Subversion und des Widerstandes ist dabei umso größer, je bewusster in diesem Zusammenhang auf die Verwendung der anderen (eigenen) Sprache zurückgegriffen wird und unterstellt werden kann, dass die Äußerung „das ist cyber“ ohne Probleme auch in der englischen Sprache hätte formuliert werden können („this is cyber“). Im Fall einer therapeutischen Prüfung der Zu­rechnungsfähigkeit würde das implizieren, dass man prinzipiell dialog- und an­passungsbereit ist. Im Fall einer unterrichtlichen oder unterrichtsähnlichen Vermittlungssituation würde man so dem primären Vermittlungsaspekt nach­kommen, auch wenn man den zweiten beigeordneten Aspekt der Ordnungsein­passung zurückweist. Für den weiteren Fortgang der protokollierten Interak­tion (die Anschlussüberlegungen) ist deshalb zu erwarten, dass mit einer Reak­tion von Sl der symbolische Kampf weitergeführt wird – gewissermaßen in die nächste Runde geht – und dabei im Fall der Prüfung der Zurechnungsfähigkeit vor allem auf die Dominanz der dichotomen Ordnung von Realität und Phanta­sie bezogen wird, während im Fall einer Vermittlung der Fremdsprache Eng­lisch die Sprache im Vordergrund steht („answer in English please“), aber zu­sätzlich die Frage der differenten Ordnung mit betreffen kann. Besonders für diesen Fall, müsste S1 auf die doppelte Verweigerung und Zurückweisung rea­gieren, und die repräsentierte Ordnung verteidigen.

S2: fantasy und cyberpunk sollte man trennen, auch aliens sind was anderes

Entgegen der vorausgehenden Erwartung fährt der zweite Sprecher fort und verweist explizit auf ein allgemeines Regelwerk zur Unterscheidung von Fanta­sy, Cyberpunk und Aliens. Ihm geht es hier offenbar nicht um die Frage des Re­alitätsgehalts, sondern er bringt gegen die dichotome Ordnung ein alternatives Ordnungssystem zur Geltung, das nicht die Realitätswertigkeit von unter­schiedlichen Weltbezügen bemisst, sondern mit Fantasy, Cyberpunk und Aliens Genres jugendkultureller Orientierungen benennt. Der hier ins Zentrum ge­stellte Cyberpunk, der auch zuvor mit der Kurzformel „Cyber“ angesprochen wurde, unterscheidet sich von den anderen Genres darin, dass es hier um die Auseinandersetzung mit einer Dystopie – einer negativen Utopie – geht, die der von Mythologie geprägten Fantasy-Welt entgegengesetzt ist und auch nichts mit der Vorstellung von außerirdischem Leben zu tun hat. Vielmehr geht es bei „Cyber“ um einen Kampf von Gut und Böse auf der Erde bzw. um die Auseinan­dersetzung zwischen den herrschenden großen Konzernen und den Punks, die aus dem Untergrund das herrschende System bekämpfen.

Die Vermeidung und zum Teil Umwertung (Phantasie als das Genre „Fanta­sy“) von Kategorien, die S1 vorgegeben hat, bedeutet eine Wiederholung dessen, was sich bereits im Verweis auf „cyber“ andeutet. S2 verweigert sich dem Ord­nungsschema von S1 und untermauert gegen Hegemonialansprüche die Geltung eines widerstreitenden Ordnungssystems. Damit wird auch ein alternatives Wertesystem behauptet, dessen Geltung im Rahmen der durch S1 repräsentier­ten Ordnung fraglich oder gar negiert wäre. Die alternative symbolische Ord­nung, die damit verbundenen Erfahrungsräume und Werte sind demnach im Rahmen der Hegemonie beanspruchenden symbolischen Ordnung von S1 sub­versiv und bedrohlich. Für die Anschlussüberlegungen ist deshalb zentral, dass eine explizite Zurück- und Zurechtweisung zu erwarten ist. Gerade wenn die in der Dichotomie („fantasy or reality“) repräsentierte symbolische Ordnung qua Mandat und Auftrag legitim durch S1 vertreten werden darf. Für den Fall der Variante einer Prüfung des Realitätssinns von S2 – die noch immer mitgeführt werden muss – wäre das durch das therapeutische Setting gegeben. Auch für den Fall einer Vermittlungssituation müsste der Sprecher S1 auf die Einpas­sung in das von ihm repräsentierte Werte- und Ordnungssystem bestehen, wenn dies legitimer Weise zu den parallel zur Fremdsprache Englisch zu ver­mittelten Gegenständen gehört. Ist das nicht der Fall, könnte der Punkt ver­nachlässigt werden. Es bliebe aber die Notwendigkeit bestehen, dass es hier primär um die Verwendung der englischen Sprache geht.

S1: I’ m confused about cyberpunk

Statt auf die zuvor als stimmig entworfenen Anschlussüberlegungen stoßen wir auf eine Mischung zwischen Insistieren (in Bezug auf die verwendete englische Sprache) und Rückzug bzw. Abbruch in Bezug auf die Kritik und Zurückwei­sung der von S2 repräsentierten alternativen symbolischen Ordnung. Und an­statt auf die Gültigkeit der in der Dichotomie dokumentierten Ordnung zu beste­hen, wechselt der Sprecher S1 in einen informellen und subjektiv-selbstbezüglichen Modus. S1 artikuliert, verwirrt zu sein. Darin dokumentiert sich Irri­tation und eine mögliche Störung des eigenen Ordnungssystems. Zugleich scheint jedoch der symbolische Kampf privatisiert, die Verbreitung des Ordnungs- und Wertesystems gar nicht Bestandteil eines offiziellen Vermittlungs­auftrages. S1 bleibt mit dieser Aussage zwar auf dem Standpunkt, das alterna­tive Ordnungssystem sehr skeptisch zu betrachten. Aber wir finden kein Behar­ren auf eine An- bzw. Einpassung dieser Welt- und Wertbezüge in die durch S1 repräsentierte Ordnung. Diese wird vielmehr als diffus-private Angelegenheit deutlich.

Nun können wir diese Überlegungen wieder auf unsere beiden Fallgeschich­ten und (bisher noch) gültigen Lesarten beziehen. Im Falle der therapeutischen Prüfung der Zurechnungsfähigkeit müsste auf die Gültigkeit der Dichotomie zwischen hypothetischer Welt bzw. Fiktion und realer Welt bestanden werden. Die fehlende Eindeutigkeit der Reaktion macht nun auch diese Variante un­wahrscheinlich. Im Falle einer unterrichtlichen oder unterrichtsähnlichen Ver­mittlungssituation wäre diese Wendung des Geschehens denkbar, allerdings nur mit der Annahme gültig, dass die Diskussion über Realität oder Fiktion be­reits außerhalb des legitimierten Vermittlungsauftrages gelegen hat. Sl würde sich darin als pädagogischer Akteur zeigen, der umfassend in die Weltbezüge und Wertsysteme der Schüler eingreift, hier aber bei S2 auf deutlichen Wider­stand stößt und schließlich diese eher individuell-privaten pädagogischen (oder missionarischen) Ansprüche aufgibt.

Damit können wir nun folgende Strukturhypothese formulieren. Die beiden Sprecher sprechen nicht nur in der Ordnung der Welt unterschiedliche Spra­chen, sondern bringen ihre Haltungen auch in jeweils unterschiedlichen Spra­chen zum Ausdruck. Die Unterschiedlichkeit der Sprachen unterstreicht eher noch die Unterschiedlichkeit der standortgebundenen Haltungen. Auch wenn sie sich aufeinander beziehen können, verweigern sie doch die Einordnung des jeweils anderen in das ihnen eigene Symbolsystem. Neben dem symbolischen Kampf um die dominante Interpretation von Phantasie, Realität und Cyber äu­ßert S1 massive Zweifel an der Realitätsfähigkeit von S2. Unter der Hand un­terstellt er S2 Realitätsverlust aufgrund seiner Affirmation des Cyberpunk.

An dieser Stelle ist nun – wie im 2. Abschnitt ausgeführt – der tatsächliche Kontext einzuführen. Es handelt sich hier um eine Unterrichtsinteraktion im Fach Englisch. Die Schüler sind aufgefordert worden, Referate zu einem selbst­gewählten Thema zu halten. So gibt es beispielsweise einen Vortrag zur Schäd­lichkeit von Ritalin, einen zu der verstorbenen Sängerin Eva Cassidy usw. Erik, der hier mit S2 anonymisiert wurde, in seinen Vorlieben und Orientierungen stark medial orientiert ist und sich selbst als Cyberpunk- und Manga-Fan be­zeichnet, hält einen Vortrag zu jenem ersten Thema. Er ist dazu umständlich aufgestanden und hat einigen Aufwand betrieben, um seinen Vortrag zu insze­nieren. So gestaltet er die Tafel mit Computerausdrucken zum Thema „Cyber“ und „Punk“ und führt beides in seiner Argumentation zusammen und zeigt als Beleg Ausschnitte aus dem Film Blade Runner. Dieser Film spielt meistens in einer verfallenen dunklen Stadt und Erik präsentiert nun eine Verfolgungsjagd im Regen. Diese Präsentation bildet den Abschluss des Referats und so schließt sich daran auch die eben geschilderte Diskussion an, die von der Lehrerin (S1) geleitet wird.

Vor diesem Hintergrund wird nun allerdings deutlich, dass Erik sich tat­sächlich in eine Opposition begibt, in der es um einen symbolischen Kampf um Dominanz (sprachlich und inhaltlich) geht. Dabei kann das Alternativangebot eines „dritten Raumes“ nur Makulatur sein. Erik unterliegt als Schüler, der die Sprache der Lehrerin nicht spricht: Er verweigert die Leistung und benutzt ein alternatives Ordnungssystem, das die Zweifel der Lehrerin an seiner Realitäts­fähigkeit nicht entkräften kann. So kann man mit einer riskanten Struktur­hypothese schließen: Die Lehrerin fordert Erik auf, sein Wissen einem von ihr als dominant gesetzten Ordnungssystem unterzuordnen. Er soll auf Englisch kommunizieren und sich durch die Einordnung seines Referatsthemas an das binär konstituierte Kategoriensystem „Realität oder Phantasie“ an die Welt der Schule anpassen. Jedoch verweigert er diese Anpassungsleistung eines rational organisierten, sich auf eine material vorfindbare Wirklichkeit beziehenden Schülers. Diese Verweigerung geschieht nicht offen, sondern in der Schaffung eines alternativen Kategoriensystems, das versucht, sich der dichotomen Kon­struktion der Lehrerin zu entziehen. Doch dies bedeutet, dass Erik als Fremder identifiziert wird. Damit könnte er sich im Simmel’schen Sinne zwar objekti­viert gegenüber dem sozialen Gefüge des Klassenzimmers und der Schule ver­halten. Die Fremdheit, die hier deutlich gemacht wird, bedeutet jedoch auch, dass die Zugehörigkeit von Erik in Zweifel gezogen wird. In dem Maße, wie Erik abhängig davon ist, ob er als zugehörig anerkannt wird, bedeutet damit seine Nicht-Unterordnung auch ein Unterliegen im Bewertungsschema des Englisch­unterrichts. Zu diesem Bewertungsschema kann hier riskant behauptet werden, dass es zunehmend lebensweltlich und nicht sachlich orientiert ist. Darauf ver­weist unter anderem die rein selbstbezügliche Artikulation von Konfusion. Nicht mehr die Leistung des Referates steht hier im Vordergrund, sondern die Fähigkeit, die Beziehung mit der Lehrerin so auszugestalten, dass sie die Leis­tung, die mit dem Referat erbracht wurde, würdigt.

Damit kann zusammenfassend festgehalten werden: Die Struktur der Lehrer-Schüler-Beziehung spannt sich auf zwischen widerstreitenden Ordnungs­schemata: dem von Phantasie und Realität einerseits, der Ordnung jugendkul­tureller Genres andererseits. Die Einforderung der Verortung von Erik im Spannungsfeld von Phantasie und Realität bedeutet auf der latenten Sinnebe­ne, dass die Realitätsfähigkeit des Schülers bezweifelt und auf die Probe gestellt wird. Unter der Hand wird nicht die Leistungsfähigkeit überprüft oder Wissen vermittelt – beides Kernbereiche einer idealtypischen Lehrer-Schüler-Bezie­hung -, sondern es geht um die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Schülers auf der Ebene lebensweltlicher und weltanschaulicher Orientierungen. Der zur Disposition stehenden jugendkulturellen Orientierung hat Erik zwar Vorschub geleistet, indem er das Thema wählte; er passt sich jedoch formal der Unter­richtsgestaltung an, indem er ein Referat hält, wie es gefordert wurde. Erst in der Frage der Lehrerin kommt es zu einer Entgrenzung: Nicht die fachliche Orientierung steht bei ihr im Vordergrund, sondern der missionarisch über­formte Lebensweltbezug.

Abschließende Reflexion zum Setzen und Finn aus der Perspektive der objektiv hermeneutischen Methodologie

Dieser Beitrag war dem Versuch gewidmet, der doppelten Problemstellung erziehungswissenschaftlicher Forschung zwischen theoretischer Voreingenommenheit und empirisch notwendiger Unvoreingenommenheit – gefasst in der Metapher vom „Setzen und Finden“ – näher zu kommen. Wir haben dies mit ei­ner „doppelten Engführung“ exemplarisch diskutiert, indem wir einerseits die Ambivalenz gegenstandsbezogener Heuristiken einer pädagogischen Ordnung in (schulischen) Generationsbeziehungen herausgearbeitet sowie andererseits nach den impliziten, methodologischen Vorwegnahmen am Beispiel der Objektiven Hermeneutik gefragt haben. Nun gilt es abschließend zu bilanzieren, welche thematischen Bestimmungen methodologisch notwendig (und hinreichend) waren, damit die doppelte Problemstellung nicht zu doppelten Verhinderung von Erkenntnisprozessen wird. In einer ersten Reflexion muss also danach gefragt werden, ob wir mehr finden, als bereits theoretisch gesetzt und gefunden wurde. Danach ist zu reflektieren, welche Möglichkeiten und Grenzen in diesem Zusammenhang die Bearbeitung von empirischen Material mit der Objektiven Hermeneutik geboten hat.

  1. Die thematische Verengung auf die Frage nach der pädagogischen Ordnung in Generationsbeziehungen wurde theoretisch mit einer Auseinandersetzung mit eher normativen und mit eher normativen und mit eher strukturalistischen Modellen von Generationsbeziehungen eingeleitet. Diese Auseinandersetzung erscheint uns gerade vor dem Hintergrund der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um das Normativitätsproblem notwendig so gelingt es, über die Abgrenzung von normativen Modellen, ein Strukturmodell der Generationsbeziehungen herzuleiten, das durch zwei Achsen gekennzeichnet ist: die Differenz von Alt und Jung und die antinomische Strukturiertheit der Beziehungen. Hiermit haben wir eine hinreichende Grundlage der strukturellen Beschreibungen von Generationsbeziehungen. Diese wurden schließlich idealtypisch nach Feldern pädagogischer Generationsbeziehungen ausdifferenziert: beispielhaft haben wir dies für das Feld der Familie und für das Feld der Schule gemacht. Der uns vorliegende Fall stand jedoch „quer“ zu dem, was theoretisch „ge­setzt und gefunden“ wurde. So wurde zwar festgestellt, dass der Jugendliche Erik relational in ein Verhältnis zur erwachsenen Lehrerin gesetzt wird, in dem Differenz zwischen beiden herrscht (vgl. Hummrich 2011). Die Differenz vermittelt sich jedoch nicht – wie das idealtypisch zu Beginn bestimmt wurde – über Wissen, sondern die persönliche und lebensweltliche Orientierung der Lehrerin wird hier zum Ausgangspunkt der Bewertung. Anlass für die Prekarisierung des Schülers ist somit nicht die mangelnde Leistungsbe­reitschaft oder -fähigkeit, sondern die Passungsproblematik zur Ordnungsstruktur der Schule, die offen für derartige diffuse bzw. entgrenzende Aufladungen auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer ist. Die Abweichung von einer Idealtypik in Bezug auf die Schule kann nun – das geschieht hier nur ganz knapp (ausführlich vgl. Helsper u.a. 2009; Hummrich 2011) — zur schulkulturellen Rahmung vermittelt werden. Hier tritt die lebensweltliche Orientierung als dominant hervor und es zeigt sich, dass die Schule beansprucht, weit in die lebensweltlichen Belange der Schüler und ihrer Elternhäuser einzugreifen. Dies bedarf selbst unter den kulturellen Bedingungen der widersprüchlichen Organisation von Bildung – also der Annahme einer antinomischen Strukturiertheit schul-pädagogischen Han­delns – einer besonderen Legitimation. Diese finden wir in den institutionel­len Rahmungen der Schule, die sich im möglichen Spektrum von formal- bürokratisch-institutioneller und personal-lebensweltlicher Orientierung sehr stark in letzterer Perspektive verortet. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Schule mit ausgewiesen reformpädagogischem und alternativ-kritischem Anspruch. Hier treffen wir auf eine Ermöglichungsstruktur von gene­rationaler Ordnung, die nicht über die „Sache“ legitimiert wird, sondern über die persönlichen Orientierungen. Grenzt sich die Schule — und in diesem Bei­spiel auch die Lehrerin – nun mehr oder minder bewusst vom idealen Typus schulischen Handelns ab, so findet sich hier doch eine Typik, die der Reformpädagogik eingeschrieben zu sein scheint (dies zeigen etwa Helsper u.a. 2007 am Beispiel von Waldorfschulen). Wenn aber die gelingende Lehrer- Schüler-Beziehung erst die Grundlage für das Gelingen der Vermittlung ist – so lässt sich hier herausarbeiten und zuspitzen wird im Fall des Misslin­gens auch die Vermittlung preisgegeben. Dies können wir im Fall Erik nach­vollziehen: Die Feststellung, dass keine Beziehung zwischen den Welten von Lehrerin und Schüler zustande kommt, obwohl die Lehrerin es sich wünscht, bedeutet, dass Erik als Lernender preisgegeben wird.
    Die persönlichkeitsbedrohende Implikation dieses Falles zeigt sich dabei nicht darin, dass die Generationsdifferenz nicht zustande kommt. Im Gegen­teil ist die Generationsdifferenz hier ja gerade das Medium, mit dem das Un­terliegen von Erik „erzeugt“ wird. Die persönlichkeitsbedrohende Implika­tion liegt vielmehr in der personalen Ausrichtung des Handelns, das dazu genutzt wird, Fremdheit zu inszenieren, womit Bildungs- und Aneignungs­prozesse verhindert werden. Selbstverständlich lassen sich an der gleichen Schule auch Muster finden, in denen die Lehrer-Schüler-Beziehung als Ver­mittlungsbeziehung gelingt. Jedoch muss konstatiert werden, dass Vermitt­lung vor allem dann gelingt, wenn die gemeinsame Orientierung auf die Sa­che erfolgt. So finden sich im Spektrum der hier vorgestellten Schule auch Beziehungen, in denen die Schüler die personal-lebensweltliche Orientierung begrenzen oder in der die sachliche Vermittlung in den Vordergrund gestellt wird. Wir finden aber auch den Fall, dass der Vermittlungsauftrag um den Preis der gelingenden Lehrer-Schüler-Beziehung in den Hintergrund tritt. Dies wäre ein Fall, der von der Strukturlogik dem hier vorgestellten Fall von Erik ähnlich ist, da auch hier keine gemeinsame Orientierung an der Sache im Vordergrund steht, sondern eine diffus strukturierte Beziehung, die man im Bereich der emotionalen Anerkennung verorten kann. Während jedoch in dem hier nicht näher vorgestellten Fall die diffuse Strukturierung auf einen Erhalt der Integration in die Klassengemeinschaft hinausläuft, findet über die personal-lebensweltliche Orientierung im Fall Erik Ausgrenzung statt, weil diese vor allem der Feststellung mangelnder Passung dient. Schließen wir nun von der exemplarischen „Verengung“ durch die Bezug­nahme auf die Generationsbeziehungen auf die allgemeinen Bedingungen des Setzens und Findens, so deutet sich gerade in der Feststellung einer Dif­ferenz zwischen dem, was theoretisch gesetzt und gefunden wurde, und dem, was empirisch gesetzt und gefunden wurde, das Theoriepotenzial qualitativ- rekonstruktiver Forschung an. Denn das Ergebnis falsifiziert nun nicht prin­zipiell die Strukturlogik schulisch generationaler Beziehungen, sondern ver­weist vielmehr auf weitere Strukturlogiken, die schließlich auf der Grundlage der Kontrastierung mit weiteren Fällen generationaler Ordnungen in ein empirisch gesättigtes Modell überführt werden können (vgl. Helsper u.a. 2009).      Hier erhält man selbstverständlich eine neuerliche „Setzung“, die als künftige Reflexionsfolie weiterer Forschungen dienen kann – etwa, indem die Bedeutung des Milieus für den schulischen Erfolg untersucht (vgl. Busse 2009) oder die sozialräumliche Ordnung pädagogischer Generationsbezie­hungen herausgearbeitet wird (vgl. Hummrich 2011).
  2. In Bezug auf die methodologisch-methodischen Vorannahmen zeigt die ex­emplarische Fallrekonstruktion, wie die auf dieser Ebene vorliegenden Set­zungen insgesamt den Status formallogischer Bestimmungen haben, welche als Vehikel und Hilfsmittel dienen, die materiale Rationalität eines Falles überhaupt erst aufzuschließen, ohne diese vorab schon inhaltlich-konkret bestimmen zu können. Wir sehen also z.B., dass die Annahme der Sinnstrukturiertheit und der Sequenzialität gerade nicht fallspezifisch ist, sondern in Bezug auf den einzelnen zu analysierenden Fall in hohem Maße unspezifisch und undifferenziert. Schon deshalb kann darin keine Verhinderung des Fin­dens durch Setzungen gesehen werden, weil dies als Gefahr voraussetzt, dass fallspezifische und -spezifizierende Vorannahmen gemacht werden. Im Grunde hat die Objektive Hermeneutik trotz der ihr unbestreitbar einge­schriebenen sozialtheoretischen Annahmen in der Gegenüberstellung von Subsumtion und Rekonstruktion immer schon auf ihr Potenzial der Faller­schließung hingewiesen.
    Auch die Annahme der Gültigkeit eigener intuitiver Angemessenheitsurteile verhindert das Finden fallspezifischer Strukturlogiken nicht, sondern ermög­licht diese erst. Unabhängig vom Problem der eingeschränkten Gültigkeit dieser standortgebundenen Angemessenheitsurteile für den Fall, dass die In­terpreten gegenüber der im Protokoll gültig zum Ausdruck gebrachten Le­benspraxis in einer historischen oder kulturellen Differenz stehen, werden die Angemessenheitsurteile methodenarchitektonisch gerade nicht direkt zur Fallbestimmung verwendet, sondern sie dienen ja (wiederum nur) als Hilfs­mittel, um hypothetische Vergleichshorizonte aufzufächern, deren Geltung ja erst über ihre Passförmigkeit zum Protokoll und damit letztlich zur Lebens­praxis belegt werden kann. Die entscheidende methodische Operation, die dafür verantwortlich ist, dass ein Finden der fallspezifischen Strukturlogik ermöglich wird, liegt in dem der Objektiven Hermeneutik eingebauten Prin­zip des Wechsels von Abduktion und Verifizierung. Dieses Prinzip teilt die Objektive Hermeneutik im Übrigen mit anderen sequenziell-rekonstruktiv arbeitenden qualitativen Interpretationsmethoden. Besonders deutlich ist dieses Prinzip der Bewährung einer fallspezifischen Deutung, die sich auf la­tente und nicht sichtbare Fallcharakteristika bezieht, z.B. in der komparati­ven Sequenzanalyse der dokumentarischen Methode der Interpretation (vgl. Nohl 2006, S. 50ff.). Als methodisches Prinzip müssen diese Rekonstrukti­onsverfahren durch die Fokussierung auf Generierungsmodi als nicht unmit­telbar wahrnehmbare soziale Gebilde mit einer Kombination von kreativer Deutung und Bewährung dieser Deutung am weiteren Protokoll hantieren (ebenso Wernet 2006, S. 20f.). Diese Kombination aus abduktivem Schließen und permanentem Verifizierung und Falsifikation der Deutungshypothesen garantiert letztlich, dass Fallspezifiken trotz multipler Setzungen gefunden werden können.

Insgesamt bilanzieren wir, dass die Arbeit an der „doppelten Problemstellung des Setzens und Findens“ durch die „doppelte Verengung“ (thematisch und me­thodisch) eine Möglichkeit darstellt, eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Theorie, Empirie und anschließender Theoretisierung vorzunehmen. Dabei zeigt unseres Erachtens gerade die exemplarische Rekonstruktion, dass die An­nahmen über die Verfasstheit der sozialen Wirklichkeit, etwa die Setzung ob­jektiver Fallstrukturen, und das methodische Hantieren mit den Urteilen der Interpreten über die angemessene Stimmigkeit bzw. Wohlgeformtheit kontext­spezifischer (sprachlicher) Handlungen die Rekonstruktion der Fallstruktur nicht behindern, solange sie nicht selbst als Vorwegnahmen des zu interpretie­renden Falls auftreten, argumentativ expliziert und permanent am Protokoll selbst überprüft bzw. korrigiert werden. Dass dabei methodisch der Umweg über scheinbar fallfremde Kontexte gegangen wird (z.B. die Fallgeschichte der Selbstbefragung), ist dann unter dem Strich geradezu ökonomisch, weil der Ausschluss all dessen, was den Fall nicht kennzeichnet und ausmacht, die Kon­struktion und Überprüfung fallspezifischer Hypothesen besonders unterstützt. Zugleich zeigen diese Konstruktionen immer auch, was der Fall unter bestimm­ten Bedingungen hätte sein können. Und darüber hinaus besteht in der Objek­tiven Hermeneutik ein zusätzliches Potenzial darin, weitere — den Einzelfall übergreifende — Strukturmomente durch die Fallrekonstruktion mit zu bergen.

Fußnote:

(1) Mit Wernet (2000) wäre an dieser Stelle zunächst eine „Fallbestimmung“ vorzuneh­men, mit der das konkrete Interesse am jeweiligen Protokoll sozialer Wirklichkeit deutlich gemacht wird. Wir verzichten dagegen in unserer Interpretationspraxis auf diese Fallbestimmung und radikalisieren dadurch den Anspruch der künstlichen Nai­vität. Im Kontrast der beiden Vorgehensweisen zeigt sich dann, dass wir in unserer Offenheit mit teilweise hohem Aufwand die Vielfalt verschieden möglicher Rahmun­gen des Protokolls gedanklich durchspielen müssen, damit aber besonders zu Beginn der Analyse eine große Öffnung der Interpretation realisieren können.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Barbara Budrich Verlags
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf/article/view/10808

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