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Einleitende Bemerkungen

Unter dem Motto „Monsterumzug – ästhetische Rezeption und Produktion regiona­ler und überregionaler Karnevalsbräuche“ wurde unter meiner Leitung in Kooperati­on mit Lehramtsstudentinnen der Kunstakademie Münster an einer Grundschule im Münsterland in der 2. Klasse ein kunstpädagogischer Projekttag durchgeführt. The­ma dieses Projektes war die ästhetische Rezeption und Produktion regionaler und überregionaler Fastnachtsbräuche. Auf der Grundlage einer „Mindmap“ wurde das Projekt in vier Unterthemen (Maskenbau, Kostümbau, Tanz und Musikinstrumente) gegliedert. Die entsprechenden Schülergruppen wurden von jeweils zwei Studentin­nen betreut. Das Geschehen am Projekttag konnte von mir sowohl detailliert beo­bachtet als auch fotografisch dokumentiert werden.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Hier beispielhaft ein Ausschnitt der bearbeiteten Feldprotokolle:

 

Protokoll Kodierungen Theoretische Memos
In der Kostümgruppe expe­rimentieren die Kinder mit unterschiedlichen Material­verbindungen. Ausgehend von einem vorgegebenen Gerüst (Zuschnitt des Kostüms) entwickeln die Kinder eine bedeutungstragende Materialverbindung. Künstlerische Feldforschung führt nicht nur zu einem ganzheitlichen Feldverständnis, sondern stellt auch einen persönlichen Bezug her.
Stefan bringt versonnen Fellreste, die er in einem Regal fand, an seinem Kostüm an. Stefan erweitert seine Produktion, indem er nicht nur das vorgegebene Material verwendet, sondern auch Fundstücke sinnstiftend einbezieht. Die Produktion ästhetischer Produkte beinhaltet zum einen eine sinnstiftende Kombination vorgegebener Materialien, zum anderen auch die Einbeziehung von als passend und bereichernd empfundenen Fundstücken.
Ein Kunstraum, welcher auf ästhetische Auseinandersetzung ausgerichtet ist, muss nicht nur standardisierte Materialien enthalten (Aquarellkasten, Abtönfarben, Linolwerkzeuge), sondern auch eine möglichst umfangreiche Sammlung der verschiedensten Materialien, die ständig vom pädagogischen Personal und der Lerngruppe ergänzt werden muss.

Aus der Durchsicht der Kodierungen und theoretischen Memos ergaben sich Theo­rieelemente, die dann ausgearbeitet wurden. Exemplarisch möchte ich die Ausarbeitung des zweiten Theorieelementes (II) vorstellen; zunächst die Zusammenführung von Kodierungen und Memos.

II. Die Kinder entwickeln ästhetische Handlungsstrategien, die Aspekten der künstlerischen Feldforschung zugerechnet werden können. Diese können auf die ästhetische Aneignung anderer bedeutsamer Felder übertragen werden.

Hieran zeigt sich, dass das pädagogische Setting ästhetische Handlungsstrategien hervorruft, die vom Lernenden auf die unterschiedlichsten natürlichen und kulturellen Felder übertragen werden können. Dies bedeutet, dass eine pädagogische Aktion exemplarischen Charakter annehmen kann. Auch wenn hier nur ein festgelegtes Feld ästhetisch erschlossen wird, zeichnen sich Tendenzen ab, die eine Autonomisierung des Individuums erwarten lassen; d.h. die erprobten Handlungsstrategien können unabhängig vom schulischen Kontext selbstständig angewendet werden. Das Kind erfährt, dass es selbst für seine Bildung verantwortlich ist.

Unterricht kann den Kindern nur dienlich sein, wenn auf ihre Fähigkeiten und Interessen bereits in der Planungsphase eingegangen wird.

„Der Projektgruppe .Kostüme‘ ist es noch nicht gelungen, die Kinder zu Eigenaktivitäten anzuregen. Als Grund vermute ich die Attraktivität der parallel arbeitenden Maskengruppe‘.“ (Kodierung, Nr. 48)

Das bedeutet, dass die Projektleiterinnen den Kindern noch nicht vermitteln konnten, dass das Projekt allein ihren Interessen dienen soll. Sie haben also die Möglichkeit, ein Feld selbstständig zu erschließen, ohne dass spezielle kleinschrittige Unterrichts- und Handlungsziele des pädagogischen Personals berücksichtigt werden müssen.

„(…) Effektive Unterrichtsorganisation muss den Interessen und Fähigkeiten der Kinder Rechnung tragen.“ (Memo, Nr. 48)

Der Maskengruppe ist dies offensichtlich gelungen.

„Eine Arbeitsgruppe arbeitet konzentriert. Die Initiation des Arbeitsprozesses ist ge­glückt.“ (Kodierung, Nr. 45)

Die Kinder erarbeiten sich eine Unterrichtsmethode, die ihren Interessen dient. Dies bedeutet, dass sich die Kinder den Unterrichtsgegenstand nur selbst erarbeiten können. Der Lehrer liefert lediglich bestimmte Informationen. Eine Lerngruppe, die so arbeitet, ist für äußere Störungen nicht anfällig.

„Wenn ein Unterrichtsgegenstand den Bedürfnissen und Interessen der Kinder ent­spricht, ist die Arbeitsgruppe gegen äußere Störungen resistent.“ (Memo, Nr. 78)

Die Kinder waren eine solche Unterrichtsform bisher nicht gewöhnt.

„Der alltägliche Unterricht verläuft nach vertrauten Schemata. Das Experiment ist die Sondersituation.“ (Memo, Nr. 15)

Daher kommt es zu vielen Konflikten, die z.T. daher rühren, dass die Präferenzen der Kinder unberücksichtigt bleiben. Es ist nicht der Unterricht der Kinder. Dies belegt das Beispiel von Stefan, der zunächst die Mitarbeit verweigerte. Als er erkannte, dass er in dieser Unterrichtsform seinen Interessen nachgehen konnte, änderte sich sein Verhalten zugunsten einer intensiven Materialauseinandersetzung.

„Stefan bringt versonnen Fellreste, die er in einem Regal fand, an seinem Kostüm an.“ (Protokoll, Nr. 85)

„Stefan hat bemerkt, dass die Projektorganisation seinen persönlichen Präferenzen Raum lässt. Seine zuvor geäußerten Vorbehalte gegen den Projektgegenstand sind möglicherweise auf negative Vorerfahrungen mit Kunstunterricht zurückzuführen. Er hatte eine Unterrichtskonzeption kennen gelernt, welche in einer kleinschrittigen Stufenfolge ohne Zieltransparenz homogene Produkte erarbeitet. Seine Präferenzen und Fähigkeiten wurden in diesem Unterrichtskonzept nicht berücksichtigt.“ (Kodierung, Nr. 86)

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die ästhetische Aktivität während des Projekttages den Kindern Einsicht in die Notwendigkeit und Effizienz einer selbst­bestimmten Bildung vermittelt hat.

Analog zur Verdichtung der Kodierungen und den theoretischen Memos wurden nun die Fotografien im Hinblick auf die in der Auswertung der Protokolle ermittelten Theoreme untersucht. Im Sinne der Methodentriangulation sollte dadurch eine Validität der Forschungsergebnisse erreicht werden. Die Interpretation von Fotografien dient als Korrektiv der bisherigen Ergebnisse. Zu jedem Theorem wurde exemplarisch eine passend erscheinende Abbildung ausgewählt.

Bildbeschreibung:

Abb.: Stefan

Im Vordergrund des Bildes ist Stefan in der Seitenansicht wiedergegeben, wobei seine Beine nicht zu sehen sind. Er ist mit einem Überwurf aus Krepppapier bekleidet und befindet sich vor einer Fensterfront, an deren Unterseite eine Reihe von Tischen zu sehen sind. Auf ihr befinden sich Kartons und nicht zu identifizierendes Material. Stefan hat seinen rechten Arm auf einen Karton gelegt, als wolle er hi­neingreifen. Mit seiner linken Hand rafft er seinen Überwurf zusammen. Sein Blick ist auf den Karton gerichtet, wobei sein Mund leicht offen steht.

Interpretation:

Stefan wendet sich versonnen den Materialauslagen im Projektraum zu. Seine Mi­mik spiegelt eine Mischung aus in sich gekehrter Betrachtung (auf den Karton gesenkter Blick) und angeregtem Erstaunen (geöffneter Mund) wider. Er scheint Material für die Ausgestaltung seines bisher noch unbearbeiteten Überwurfs zu suchen. Es fällt auf, dass er den Überwurf, obwohl noch unvollständig, bereits trägt. Offenbar ist er an Wirkung und Funktion dieser Kleidung interessiert. Obwohl ihn das Tragen der neuen Bekleidung bei der Materialsuche behindert (er rafft den Überwurf mit der linken Hand zusammen), macht er nicht den Eindruck, sich dessen entledigen zu wollen. Hier wird deutlich, dass Stefan die Bedingungen des ästhetischen Prozesses selber bestimmt, denn die Projektleiterinnen hätten ihm vorgeschlagen, das Trägermaterial zunächst ruhen zu lassen, um es dann mit dem ausgewählten Material zu bestücken. Stefan greift den ästhetischen Impuls der Betreuerinnen auf, um ihn dann in einen Prozess der Selbstbildung zu überführen, in dem er selbst sowohl die zeitlich-räumliche Organisation der Arbeitsschritte als auch die Materi­alauswahl bestimmt. Er geht dabei konzentriert und empathisch vor, wobei er vom Prozess unabhängige äußere Einflüsse unbeachtet lässt.

Auswertung:

Die Anwendung ästhetischer Handlungsstrategien und Aneignungsformen auf unter­schiedliche Felder der Lebenswelt im Sinne einer Autonomisierung des eigenen Verhaltens scheint sich hier anzubahnen. Stefan bewegt sich zwar mit seinen Aktivitäten im Rahmen des vorgegebenen pädagogischen Szenarios, nutzt aber dieses, um seinen eigenen Interessen nachzugehen. Dieses Interesse, was ich hier nicht näher verifizieren kann, unterscheidet sich eventuell stark von den intendierten Vorgaben durch die Projektleiterinnen. Möglicherweise verwendet Stefan Strategien, die er sich bereits in anderen Zusammenhängen erarbeitet hat. Ebenso könnte es sich hier um die Initiierung eines neuartigen Handlungsmusters handeln, das in späteren Situationen zur Anwendung kommen kann. Die angebahnte Handlungsstrategie besteht in einer taktilen Untersuchung von unterschiedlichen Materialien, die einer qualitativen Bewertung unterzogen wird, um sie dann entsprechend persönlicher Präferen­zen in einen Gesamtzusammenhang zu integrieren.

Im Sinne einer Grounded Theory führte ich dann die Auswertungen der Protokolle, der Fotografien, der Expertenbefragungen (Interviews mit den das Projekt durchführenden Studierenden) und der Artefakte zu einer gegenstandbezogenen Theorie zusammen. Dabei wurden die zuvor ermittelten Theoreme unter Berücksichtigung der bisherigen Interpretationsschritte einer abschließenden Diskussion unterzogen.

Die Auswertung der Expertenbefragung sowie des fotografischen Materials ergaben Hinweise auf kindlich-ästhetische Handlungsstrategien, die sich unabhängig vom pädagogischen Vorhaben manifestierten. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass ästhetische Handlungsstrategien nicht nur durch die aktive Interaktion mit unbekanntem oder faszinierendem Material entstehen, sondern auch durch die Auseinandersetzung mit einem komplexen Phänomen der Lebenswelt. Um solch ein facettenreiches Feld in seiner Vielschichtigkeit umfassend zu bestimmen, ist die Nutzung von unterschiedlichen ästhetischen Handlungsstrategien notwendig.

Die ästhetische Begegnung mit den „Feldphänomenen“ wird begleitet von Assoziationen, die durch unterschiedliche Mittel ausgedrückt werden (z.B. Sprache, Zeichnung, Bewegung). Das Projekt hat gezeigt, dass Angebote ästhetischer Zugänge zwar von den Kindern angenommen werden, diese Annahme aber gemäß der individuellen Fähigkeiten und Interessen modifiziert werden bzw. ganz andere Aneignungs- und Ausdrucksformen von den Kindern bevorzugt werden können.

Die Analyse der Protokolle und der Expertenbefragung hat ebenfalls ergeben, dass die Erkundung von Material auch im Hinblick auf die Realisierung bestimmter Vor­haben von den Kindern durchgeführt werden kann. Diese Vorhaben können den vorgegeben Intentionen des Projektes entsprechen, aber wiederum durch den Aneignungsprozess und die dadurch ausgelösten Vorstellungen eine andere Ausrichtung bekommen. Im Fall der Kostümgruppe entwickelten einige Kinder tatsächlich hybride Monsterkostüme, andere hingegen ein bestimmtes Tierkostüm. Im letzteren Fall ging es dem Kind möglicherweise um die Identifizierung mit einer bevorzugten Tiergestalt. Dieses intentional geprägte ästhetische Verhalten ist in der künstlerischen Feldforschung in der Phase der Aufarbeitung des „erhobenen“ Materials zu rekonstruieren.

Nun ist zu klären, ob die Kinder die erprobten ästhetischen Strategien auf die Aneignung anderer ästhetischer Felder übertragen. Um die Übertragbarkeit von ästhetischen Strategien in einem singulären Projekt zumindest anzubahnen – so zeigt das Projekt – ist die Beachtung bestimmter Voraussetzungen zweckmäßig: Zunächst kann es sinnvoll sein, die Kinder bereits in der Planungsphase zu beteiligen. Die Kinder können hier schon vorab ihre Interessen artikulieren und erste Möglichkeiten benennen, wie der zu bestimmende Gegenstand erschlossen werden soll. Dieses Verfahren kann dann im Unterricht erprobt und modifiziert werden.

Ein weiteres Kriterium, das es Kindern ermöglicht, sich eine Arbeitstechnik der Welterschließung anzueignen, ist die prinzipielle Offenheit des Lehrers gegenüber den Interessen der Lerngruppe. Ein geschultes Beobachtungsvermögen kann diese Offenheit unterstützen. Am Beispiel von Stefan wird deutlich, wie sich ein Kind durch existentielles Interesse eine Arbeitsmethode aneignet (vgl. Kodierung, Nr. 86).

Die Auswertung der Fotografien hat am Beispiel von Stefan gezeigt, dass Kinder den Rahmen eines geplanten kunstpädagogischen Projektes nutzen, um eigene Interessen zu verfolgen bzw. eigene ästhetische Strategien zu entwickeln oder zu übertragen. Stefan wendet Methoden an, die er entweder bereits gelernt hat, oder es wurde ein neuartiges Verhalten initiiert, das auch in späteren Situationen zur Anwendung kommen kann.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.

http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1911

 

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