Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Feinanalyse bezieht sich auf die Zeilen 309-346.

Was bisher geschah … (Zusammenfassung): Die Situation von Ritter- und Bauernkindern (hierzu liegt ein Arbeitsblatt vor) soll mit der heutigen Situation von Mädchen und Jungen verglichen werden. Die Ritterkinder sind: Anna, die im Haushalt zu helfen hatte und Otto, der seine Eltern früh verlassen musste, um zu einem anderen Ritter in die Lehre zu gehen. Jungen und Mädchen wuchsen getrennt auf, Otto lebte darüber hinaus auch getrennt von den Eltern. Die Lehrerin möchte auf die Vorteile hinaus, die das getrennte Aufwachsen haben kann. Den Schülerinnen und Schülern ist die Trennung vom Elternhaus als Thema wichtiger.

Die Bauernkinder Bodo und Maria mussten beide im Haushalt und auf dem Hof helfen und konnten kaum zur Schule gehen. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit den spezifischen Anforderungen auseinander, die an die Bauernkinder gestellt waren. Der Zeitsprung ist in ihren Beiträgen entfaltet. Dass die Bauernkinder nicht zu Schule gehen konnten, finden die Schülerinnen und Schüler nicht gut.

Auf einer Folie für den Overhead-Projektor werden Paul und Laura präsentiert. Die beiden sind befreundet, machen gemeinsam eine Fahrradtour, sitzen zusammen im Kinderzimmer usf. Die Lehrerin fragt nach Vergleichsmöglichkeiten zu den Ritterkindern. Paul und Laura können gemeinsame Unternehmungen durchführen und sie können im Unterschied zu den Bauernkindern lesen. Auf einer weiteren Abbildung sind zwei Jungen (einer davon ist Paul) und Laura zu sehen; jeweils mit Skateboard. In einer Sprechblase des unbekannten Jungen kann man lesen: „Das ist nichts für Mädchen“. In Lauras Sprechblase ist ein Fragezeichen. Es geht dämm herauszufinden, was Jungen und was Mädchen gängigerweise (von Eltern, Großeltern) zugeschrieben wird. Die Schülerinnen und Schüler schildern Gegenbeispiele: z.B. eine Schwester, die Fußball spielt; Jungen, die sich Armbänder machen usw. sowie Reaktionen von Erwachsenen: das ist doch nichts für …

Nichts für Mädchen, nichts für Jungs: die Lehrerin möchte gerne wissen, wo das herkommt. Sie verweist auf die Ritterkinder und stellt die Frage danach, wie es passieren konnte, dass heute Mädchen Fußball und Jungen mit Barbiepuppen spielen. Die Lehrerin meint, dass bei dem Jungen mit der Sprechblase

(„Das ist doch nichts für Mädchen“) „so’n ganz bisschen was von ganz, ganz früher sitzen“ könnte und dass wir heute sagen können, es ist egal, ob man Junge oder Mädchen ist. Die Lehrerin fragt nach, wie es passieren kann, dass sie z.B. in der Bundesliga spielen kann. Zunächst gehen Schülerinnen und Schüler nicht auf ihre Frage ein. Josephine erzählt, dass ihre Mutter früher gehäkelt und gestrickt hat.

Die Lehrerin wiederholt noch einmal ihre Frage:

Lotta interpretiert die Frage nicht auf der Ebene der Geschlechterzugehörigkeit, sondern auf der Grundlage von Arbeitsaufwand und Zeitökonomie. Lotta könnte mit „(man)“ die Kinder gemeint haben. Dann ließe sich ihr Beitrag folgendermaßen paraphrasieren: Im Unterschied zu z.B. den Bauernkindern müssen Kinder heute nicht so viel arbeiten, und weil sie mehr Zeit haben ist es möglich, dass sie miteinander spielen können. Das wäre sachlich richtig. Die Lehrerin wiederholt die unpersönliche Formulierung „Man muss“, setzt neu mit „die Eltern müssen“ an und fügt fragend hinzu: „und die Kinder?“. Möglicherweise reden Lotta und die Lehrerin aneinander vorbei, weil Lotta bereits die Kinder gemeint hatte.

Die Formulierung („Auf jeden Fall hat – hat es wahrscheinlich“) ist ambivalent: „auf jeden Fall“, also mit garantierter Sicherheit, wird durch das nachfolgende, betonte „wahrscheinlich“ relativiert. Der Hinweis „mit den Eltern zu tun“ deutet auf einen familiären Kontext (Modus der Paarkonstellation). Was nun genau mit den Eltern zu tun hat, wird an dieser Stelle nicht gesagt. Insofern äußert sich die Lehrerin einerseits offen, andererseits entwickelt sie den Inhalt weiter und geht zielgerichtet vor. Es entsteht der Eindruck widersprüchlichen Handelns. Sie schließt mit den Worten an „Wir haben ja nochmal hier unsere Auflistung.“ Mit „wir“ und „unser“ ist etwas Gemeinsames angesprochen, ,ja nochmal“ ist eine zweifache Vergewisserung von etwas Bekanntem und „hier“ ist ein aktueller Bezug (räumlich und zeitlich). Sie deutet dabei auf eine Wandzeitung, auf der eine Zeitleiste abgebildet ist, die sie als „Auflistung“ beschreibt und zitiert: „Vor langer Zeit, vor hundert Jahren und heute“. Damit ist ein Zeitbogen in einem Dreier-Schritt gespannt (Zeithorizont und Makrowelt). Die Betonung liegt auf: „heute“.

Während die Lehrerin auf die Abbildung deutet, fährt sie mit der Konkretisierung fort: Mit dem Hinweis „Hier haben wir …“ lenkt sie die Blicke der Kinder auf die Wandzeitung. Das „wir“ kennzeichnet die geteilte Aufmerksamkeit, in die sie sprachlich und gedanklich die Schulkinder mit einbezieht. Sie deutet auf etwas Bestimmtes, das „wieder“ Gegenstand der Betrachtung ist: „Frauen und Männer heute“.

Die Lehrerin sieht in dem Kontext, der vorher besprochen wurde, einen Zusammenhang zu dem, was auf der Wandzeitung dokumentiert ist. Sie schließt damit an das an, was bereits vorher erarbeitet wurde und möchte die Aufmerksamkeit der Kinder darauf lenken. Sie versucht, das Vorwissen der Kinder zu aktivieren. Mit Bezug auf die Wandzeitung sollen sich die Kinder vergegenwärtigen, dass die Lösung der zuvor gestellten Frage mit ‘Frauen und Männern in drei zeitgeschichtlichen Abschnitten‘ zu tun hat.

Der konkrete inhaltliche Bezug ist nicht entfaltet. Noch sind Betrachtungen zu Männern und Frauen in unterschiedlichen Zusammenhängen möglich:

  • biologisch: Anatomie, Vererbung
  • gesellschaftlich: Rollenverhalten, Emanzipation
  • juristisch: Rechte, Gleichstellung
  • politisch: Macht, Durchsetzung von Interessen u.a.

Deutlich wird eine Art Grundmuster, das zunächst über den Hinweis „mit den Eltern zu tun“ (als Fortpflanzungsgemeinschaft) weiter ausdifferenziert wird und in einer Zweier-Konstellation von Frau und Mann besteht. Eine Art Gegenüberstellung, ein Modus der Verschiedenheit ist damit konstruiert, denn um die neutrale Kategorie ‘Mensch* soll es vermutlich nicht gehen.

Mit der Anschlussformulierung „Vielleicht“ wird vage in Aussicht gestellt: um was es jetzt auch immer gehen wird, es wird nicht mit dem Anspruch endgültiger Sicherheit vorgebracht: „Vielleicht hat das irgendwas mit uns Kindern“, die Lehrerin korrigiert „oder euch Kindern vielmehr“. Unter Umständen ist der Versprecher zustande gekommen, weil sie vorher im Modus der Gemeinsamkeit (wir, uns) war. Hinzu kommt, dass – biographisch betrachtet – jeder Mensch immer zugleich auch Kind von einer Frau und einem Mann ist. Darauf wollte die Lehrerin aber nicht hinaus, denn sie fügt ihrem Versprecher die Erläuterung hinzu: „ich bin ja kein Kind mehr“. Sie meint einen bestimmten Begriff von ‘Kind-sein‘, der einen Lebensabschnitt beschreibt, dem sie nicht mehr angehört. Die „wir“- Gruppe besteht aus verschiedenen Teilgruppen (Frau, Kinder). Die Lehrerin vervollständigt „euch Kindern zu tun“: Jetzt sind die Mädchen und Jungen als Expertinnen und Experten für ihre Rolle ‘Kind-sein‘ angesprochen. Sie werden nicht in ihren (öffentlichen) spezifischen Rollen als Schülerinnen und Schüler angesprochen, die sie ja im Moment des Schulbesuchs einnehmen, sondern als quasi ganze Person, als Privatperson.

Mit dem Hinweis „Wenn man sich das alles hier so ansieht“ bezieht sich die Lehrerin auf etwas, das visuell präsent ist (eine Wandzeitung oder ähnliches) und fährt fort: „könnte das wichtig sein für euch Kinder, dass sich da was verändert hat“. Die Formulierung „wichtig sein“ deutet an, dass sie auf etwas hinaus will, das sich in der Hierarchie und Wertigkeit aus einem Handlungsfluss abhebt. Sie zielt auf eine Veränderung, die ihr offensichtlich schon aufgefallen ist, die sie mit der vagen Andeutung „dass sich da was verändert hat“ zunächst aber nicht näher benennt. Insofern enthält die an sich weitreichende Äußerung zunächst auch Offenheit. Sie wiederholt noch einmal: „und dass da auch für euch wichtig- dass auch für wichtig ist“. Und nun legt sie selbst dar, auf was sie hinaus will und richtet sich gleichzeitig fragend an die „Kinder“: „dass ihr spielen könnt und die Sachen machen könnt?“ Mit dem Hinweis: „Lotta war auf dem richtigem Weg“ (abgeschlossene Vergangenheit) wird deutlich, dass die Lehrerin durch eine Schülerin zu ihrem Beitrag veranlasst wurde. Diese hatte sie offenbar darauf gebracht, für alle noch einmal die (im Grunde als bekannt vorausgesetzten) Hintergründe aufzuzeigen, zu aktualisieren.

Die Lehrerin bemerkt offensichtlich, dass die Schülerinnen und Schüler ihr nicht ganz folgen können und fragt: „ist die Frage zu schwer?“. Worin könnten die Schwierigkeiten bestehen? Aus dem zuletzt Gesagten ist nicht genau ersichtlich, um was es gehen soll. Die „Frage“ hebt sich als solche nicht klar konturiert aus dem Wortfluss der Lehrerin ab, sie enthält auch Fragestellungen. Dies führt vermutlich auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu Irritationen, weil sie nicht genau wissen, auf was sie nun antworten sollen. Hinzu kommt, dass mittlerweile komplexe thematische Verflechtungen entfaltet sind: Neben einer abstrakten dreigliedrigen Zeitachse sind verschiedene zeitgeschichtliche Rollen von Eltern, Männern, Frauen, Bauernkindern, Ritterkindern und heutigen Kindern thematisiert. Wo sollen sich die Schulkinder gedanklich einordnen? Mit wem können sie sich identifizieren: Als Kinder mit Kindheit früher und heute? Oder mit ihren Eltern heute und als diese früher selbst Kinder waren? Oder sollen sich die Jungen mit den Männern und die Mädchen mit den Frauen früher und heute auseinander- setzen? Es gibt verschiedene Optionen, sich gedanklich einzuspulen.

Was die Lehrerin über viele Jahre hinweg in ihren Erfahrungs- und Wissenshorizont integriert hat (Entwicklungen in der Erwachsenenwelt und deren Aus-wirkungen auf Kinder bzw. Jungen und Mädchen heute), entzieht sich (noch) dem Kenntnisstand der Kinder. Die eigene Stellung innerhalb der Konstellation der Erwachsenenwelt ist diffus und stärker emotional geprägt. Mit den spezifischen gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen sind die Kinder im Unterschied zur Lehrerin noch nicht voll identifiziert. Sowohl die gedanklichen Verarbeitungen der Kinder als auch die Interaktionsbeziehung zwischen ihnen und der Lehrerin scheinen an „nicht-rollenförmigen Sozialbeziehungen“ (Oevermann 1996: 110) orientiert zu sein.

Dass Jungen und Mädchen zusammen spielen können, hatte Lotta mit einem ‘mehr1 an freier Zeit begründet. Die Lehrerin will aber auf die koedukative Entwicklung hinaus, die sich, zeitgeschichtlich gesehen, von den Erwachsenen ausgehend auch auf die Kinder ausgewirkt hat. Dieser kategoriale Unterschied erschließt sich den beteiligen Schülerinnen und Schülern nicht ohne weiteres und die Lehrerin macht ihn nicht explizit. Sie verfolgt ihr Ansinnen, verliert ihre Perspektive nicht aus dem Auge. Es ist davon auszugehen, dass die politisch-ökonomischen Entwicklungen von Arbeitszeit und freier Zeit (industrielle Revolution) mit der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen eng verwoben sind. Es zeichnet sich ab, dass die zugrunde liegenden Arbeitsblätter dies reduktionistisch ausklammem und damit auch Bezüge zu Gesellschaft und Politik aus dem Blick geraten. Hinzukommt, dass mit der Art und Weise, wie der Aspekt der Veränderung präsentiert ist, implizit ein Fortschritt(smythos) transportiert wird (im Sinne von: den Kindern ging es früher viel schlechter als euch heute).

Die Frage: „Ist die Frage zu schwer“ – beantwortet sich die Lehrerin offenbar in Anbetracht (ratloser) Gesichter selbst: „Ist auch schwer“. Aber: drei Kinder melden sich. Nun kommt Josephine dran.

Mit dem Hinweis: „da“ ist eine Aufmerksamkeitsrichtung gegeben. Josephine beschreibt: „Da kochen- kocht die Mutter, da kochen die – ähm Kuchen oder irgendwas hier“. Die Formulierungen – einmal im Singular, dann im Plural – können bedeuten, dass sich Josephine auf zwei Abbildungen bezieht oder dass sie sich selbst im Redefluss korrigiert. Außerdem passen Kochen und Kuchen nicht zusammen. Unklar bleibt auch, aufgrund welcher Merkmale eine Mutter zu erkennen ist. Vermutlich sind auf der Abbildung bzw. einer der Abbildungen auch andere Personen zu sehen.

Im Anschluss an die Äußerung von Josephine, die eine Mutter identifiziert hat, beschreibt die Lehrerin eine andere Abbildung konkreter: „Das ist der Vater, der mit den Kindern backt“. Die Lehrerin macht damit auch den Inhalt der zweiten Abbildung stark. Aus der Äußerung der Schülerin war dies so nicht deutlich hervorgegangen; man konnte zunächst sogar annehmen, dass sie eine Abbildung beschreibt. Es geht also einmal um die Tätigkeit einer Mutter und einmal um die Tätigkeit eines Vaters mit (seinen) Kindern. Zwei Menschen unterschiedlicher Geschlechterzugehörigkeit, die eine ähnliche häusliche Tätigkeit ausführen. Was ist daran das Besondere? Dies kann nur dann etwas Besonderes sein, wenn es nicht ohne weiteres (in den eigenen Horizont) integriert werden kann; wenn es nicht zu den gängigen Vorstellungen von Tätigkeiten gehört, die üblicherweise Männern bzw. Frauen zugeschrieben werden. Oder liegen Abbildungen vor, die unterschiedlichen historischen Zeiten zugeordnet werden können? So jedenfalls stellt die Lehrerin die Plausibilität her: „Da kann man nämlich auch schon sehen, das macht der Papa.“ Die Formulierung „auch schon“ ist eine zeitliche Verstärkung im Sinne von: das war nicht immer so (Modus der Entwicklung). Das Kosewort „Papa“ klingt verniedlichend, privat.

Während inhaltlich und zeitgeschichtlich ein Bogen zur Makrowelt gespannt ist, wird durch die Lehrerin auf der sprachlichen Ebene die Mikrowelt entfaltet. Die Schülerinnen und Schüler müssen ihrerseits von der ihnen geläufigen häuslichen Mikrowelt in Bezug auf die zeitgeschichtlich entfaltete Makrowelt abstrahieren – und umgekehrt; darin liegt eine Chance für die Initiierung von Lernprozessen (Gagel 1983: 61ff.). Denn erst wenn Zusammenhänge erkannt und nachvollzogen werden, können sie auch beurteilt werden. Erschwerend kommt für die Schülerinnen und Schüler hinzu, dass sich neben abstrakten und konkreten Zusammenhängen Inhalts- und Beziehungsebene zu vermischen beginnen.

Deutlich wird, dass Begrifflichkeiten (Kind, Männer, Frauen, Mutter, Vater, Papa), die im Alltag arglos gebraucht werden, im Verlauf des Unterrichtsgeschehens auslegungsbedürftig werden (Bedeutungszuwachs). Gleichzeitig scheint – obschon insbesondere die Koseworte subjektiv unterschiedliche Bedeutung haben können – eine Verständigung über das Gemeinte vorausgesetzt. Warum die Lehrerin aus eigener Initiative das Kosewort „Papa“ verwendet, kann mehrere Gründe haben:

  • Sie versucht sich sprachlich in der Nähe der Kinder zu positionieren, sich in die Lebenswelt der Kinder hineinzuversetzen (Perspektivenwechsel). Sie möchte die Fremdheit zwischen sich und den Kindern abbauen.
  • Sie ist als Frau (und potentielle Mutter) emotional involviert.
  • Sie geht davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler das Kosewort (es gibt ja auch noch andere) nicht nur zu Hause, sondern auch in (halb)öffentlichen Situationen verwenden und setzt deren Einverständnis voraus.

Mehr oder weniger bewusst inszeniert sie eine quasi familiäre Atmosphäre über die Aktualisierung von Alltagserfahrungen, nach dem Motto: das kennt ihr alle, wir sind hier eigentlich gar nicht in der Schule. Damit leistet sie (unbeabsichtigt) der Diffusität Vorschub. Letzteres bedient, was Thomas Ziehe bezogen auf mehrperspektivische Deutungen der Schülerinnen und Schüler mit den Worten beschreibt: „Einerseits soll Schule bloß Schule bleiben, andererseits wollen sie auch vergessen können, in der Schule zu sein“ (Ziehe 1996a: 99). Hier scheint die Lehrerin vergessen zu wollen, dass sie sich in der Schule befindet.

Die Lehrerin stellt einen historischen Bezug dar: „In der Ritterzeit wäre das nicht möglich gewesen, dass der Vater mit den Kindern Kuchen backt, ne? Das wär gar nicht gegangen.“ Indem sie darauf abhebt, dass in der Ritterzeit ein Vater nicht mit seinen Kindern gebacken hätte (Warum eigentlich? Gab es nicht auch männliche Köche? – Kennen nicht viele Kinder das Märchen von Dornröschen? Meisterköche gibt es vermutlich schon sehr lange, oder?), legt sie die Pointe dar und sichert das Ergebnis selbst. Man hat den Eindruck, dass die Lehrerin an dieser Stelle ein Interesse daran hat, den Inhalt zügig voranzubringen; ansonsten hätte sie warten können, was die anderen Schülerinnen und Schüler dazu zu sagen haben. Mit dem Hinweis: „Da haben wir ja schon etwas ganz Wichtiges, was Josephine herausgefunden hat, was sich verändert hat.“ wird deutlich, dass Josephine durchaus im Sinne der Lehrerfrage die Abbildungen richtig beschrieben hatte. Sie war der von der Lehrerin aufgeworfenen Konkretisierung von „Frauen und Männer heute“ nachgekommen. Dadurch veranlasst hatte die Lehrerin den Faden wieder aufgenommen. Sie entwickelte inhaltlich weiter, auf was die Schülerin ihrer Ansicht nach hinaus wollte. Josephines Aussage wird in diese gedankliche Entwicklung der Lehrerin hineingedeutet. Gemeinsam haben sie einen Sachverhalt geklärt. Mit einem fragenden „Ja?“ endet der Beitrag der Lehrerin. Ob dies eine Frage an Josephine ist im Sinne von: Ja, war es das, worauf du hinaus wolltest, oder ob dies die Aufforderung für das nächste Kind zum Sprechen ist, kann hier nicht geklärt werden.

In der Folge kommt es zu mehreren assoziativ aneinandergereihten Schülerbeiträgen, deren Sinn sich auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erschließt. Für Außenstehende klingt das, was die Kinder sagen, wie eine Art Geheimsprache (Insider-talk). Merkmale sind z.B. Wortkreationen wie „Lebenssachen“, die nur versteht, wer sich in die Sprache und die gedanklichen Verarbeitungen von Kindern hineinversetzen kann. Die Lehrerin muss intuitiv (stellvertretend) deuten, was die Kinder gemeint haben könnten (hermeneutische Kompetenz), um das Unterrichtsgespräch im Fluss zu halten.

Ein/e Schüler/in X beginnt: „Die müssen auch arbeiten, dass sie halt Geld für hat (.) die Lebenssachen“. Die Geschlechter- und Altersdifferenzierung ist aufgehoben. X zielt auf den allgemeinen Sachverhalt ab, dass Arbeiten und Geld verdienen eine Notwendigkeit ist, für „Lebenssachen“. Gemeint sind vermutlich die Sachen, die man zum Leben braucht. Die Lehrerin vergewissert sich zwischendurch: „Die Eltern“ (als Kategorie von ihr weiter oben bereits ins Spiel gebracht) – X bestätigt: „Hmm“ – und sie macht noch einmal die andere Perspektive stark und fragt: Und die Kinder? X vervollständigt die Aussage von vorher und schließt gleichzeitig an die Nachfrage der Lehrerin an: „dass die auch etwas zum Essen kriegen“. Die Lehrerin hakt konkreter nach (Suggestion): „Müssen die auch noch arbeiten, die Kinder?“ Vermutlich verweist sie dabei auf die Materialien/Abbildungen – sonst hätte sie die Kinder der Schulklasse direkt fragen können: Müsst ihr auch noch arbeiten? Die zeitliche Bestimmung „noch“ zielt implizit darauf ab, dass Kinder früher arbeiten mussten. Die Frage der Lehrerin kann mit Ja oder Nein beantwortet werden; sie fordert nicht zu einer näheren Erörterung auf. X antwortet mit „Nein“ und die Lehrerin bestätigt und hebt noch einmal hervor: „Auch ganz schön wichtig. Ja?“: Sie hierarchisiert und strukturiert das Gesagte. Das anschließende „Ja?“ ist vermutlich die indirekte Aufforderung an Roger sich zu äußern.

Roger erklärt: „Ich spiele auch öfter mit Wladimir“. Irgendwie fällt die Aussage aus dem Rahmen. Roger legt motiviert eine Erfahrung dar, von der er annimmt, dass sie bedeutungsvoll ist. Im Unterschied zu den anderen Aussagen liegt eine Selbstthematisierung vor – bezogen auf sich und den Mitschüler Wladimir. Die Thematisierung in der Ich-Form führt zu einem Wechsel der Gesprächs(ebene). War vorher noch von unbekannten Dritten die Rede, man hangelte sich am Unterrichtsmaterial entlang, so bringt sich nun ein Junge selbst im doppelten Sinne des Wortes „ins Spiel“. Möglicherweise weil vorher von Spielen die Rede war (als Anschluss z.B. an Zeile 319) bzw. von Zusammenspielen (als Anschluss an Zeile 309). Die Lehrerin wollte auf das Zusammenspielen von Jungen und Mädchen hinaus und Roger spielt mit Wladimir, das ist ihm persönlich wichtig.

Nun scheinen die Schülerinnen und Schüler zu vergessen, dass sie in der Schule sind. Sie bringen ihre Mikrowelt ein und bewegen sich dabei allerdings im Pulsschlag von Abstraktion und Rekonkretisierung (Hilligen 1985: 39), indem sie zwischen eigenen Erfahrungen und übergreifenden Thematisierungen pendeln.

Die Äußerung Rogers wird von der Lehrerin wiederholt: „Du spielst mit Wladimir“ und positiv gedeutet: „Schön, dass das geht, ne?“ Sie ist durchgehend freundlich zu den Schülerinnen und Schülern, nimmt deren Äußerungen ernst, richtet sich vergewissernd an sie, reagiert und kommentiert. Im Nachhinein wünschte man sich an der Stelle eine Erläuterung des Schülers Roger zu seiner Aussage. Als Reaktion auf die abschließende Feststellung der Lehrerin bleibt ihm bloß eine kurze Bestätigung: „Hmm“. Eventuell wollte er zur Geltung gebracht haben, dass neben der Möglichkeit, das Mädchen mit Jungen spielen, er auch gerne mit einem Jungen spielt.

Mit dem Bezug auf seinen Großvater, den er „Opa“ (Kosewort) nennt, stellt Paul einen Bezug zur eigenen Lebens- bzw. Familienwelt her. Sein Großvater hat „früher auch immer so Unterdecker [Wortkreation – vermutlich meint er Untersetzer] aus Stein gemacht. Hat er so immer so kleine Plättchen gesammelt“, die er näher beschreibt: „da sind ähm- Schiffe und so was drauf, die hat er dann zusammengeklebt.“ Man kann die Frage stellen, die vermutlich auch der Lehrerin in diesem Moment durch den Kopf schießt (ähnlich wie bei der Äußerung Rogers „Ich spiele auch öfter mit Wladimir“): Warum diese Äußerung? Pauls Äußerung ist auslegungsbedürftig. Weil sich der Zusammenhang nicht ohne weiteres erschließt, werden mögliche Lesarten entwickelt:

  • Paul hat eine Assoziation, ihm ist etwas Bestimmtes eingefallen. „Mein Opa hat früher“ kann den Zeitabschnitt meinen, als der Opa selbst noch ein Kind war. Es wäre dann ein indirekter Anschluss an die Lehrerfrage: „Müssen die auch noch arbeiten, die Kinder?“
  • Eventuell hat sich der Großvater mit den „Unterdeckern“ eine Art Zubrot/Geld verdient. Dann wäre die Schilderung außerdem ein Anschluss an die weiter oben thematisierten „Lebenssachen“.
  • Paul hat registriert, dass es hier um Tätigkeiten von Männern und Frauen geht bzw. gehen soll und da fallt ihm ein, dass sein Großvater eine Tätigkeit ausgeführt hat, eine Art häusliche Tätigkeit (Handarbeit), die ansonsten eher Frauen zugeschrieben wird.

Es bleibt unklar, auf was Paul hinaus wollte. Für ihn ist die Sache erledigt. Die

Lehrerin reagiert mit einem freundlich langgezogenen: „Jaaa“. Er fühlt sich offenbar verstanden und ruft Magnus auf.

Warum die Lehrerin nicht nachhakt, kann hier bloß spekuliert werden:

  • Sie hat Paul verstanden.
  • Sie kennt solche (sprunghaften) Schilderungen von Kindern, weiß, wie sie zu nehmen sind und sieht für den weiteren inhaltlichen Verlauf der Stunde keine Notwendigkeit, näher darauf einzugehen.
  • Andere Kinder sollen auch noch dran kommen.
  • Der Bogen ist schon zu weit gespannt und sie hofft, die Aufmerksamkeit der Kinder wieder bündeln, einfangen zu können.
  • Die Handarbeit des Großvaters passt nicht so recht in das Konzept von Männertätigkeit und Frauentätigkeit, die der historischen Betrachtung (Makrostruktur) und dem Verständnis der Lehrerin zugrunde liegt.

Auffallend ist, dass in den Aussagen vorher (der Lehrerin, X, Roger) mehrfach die Anschlussvokabel „auch“ vorkommt, an die jede folgende Schilderung wie die Perlen einer Kette aufgereiht sind.

Magnus erklärt: „Mein Vater, der kocht auch immer, wenn meine Mutter nicht zu Hause ist“. Hier ist wieder ein sprachlicher Anschluss durch „auch“ gegeben; an was konkret inhaltlich angeschlossen wird, ist unklar. Der familiäre, private Kontext ist voll entfaltet. Magnus spricht auf der Metaebene beschreibend von „Vater“ und „Mutter“. Er entwickelt einen Gegenhorizont zur Ritterzeit. Er will auf der Grundlage eigener Erfahrung zur Klärung der Sache beitragen. Sein Vater kocht, aber er tut das nur, wenn die Mutter nicht zu Hause ist. Warum das so ist, kann verschiedene Gründe haben. Während Magnus sich an die Sprachregeln des halböffentlichen Klassenzimmerdiskurses hält, eröffnet die Lehrerin ein eher privates Gespräch: aus Vater wird das Kosewort „Papa“. Dies kann der Auslöser für die nächste Äußerung von Magnus sein. Die Lehrerin verallgemeinert: „Dein Papa kocht auch“. Die Einschränkung von Magnus vorher: „auch immer, wenn …“ ist aufgehoben. Dann fragt die Lehrerin: „Würdest du das später auch machen?“ und Magnus antwortet: „NÖ“. Währenddessen spielt er mit seinem Armband und lächelt. Vielleicht hat ihn die Frage der Lehrerin in Verlegenheit gebracht.

Die Szene tritt aus dem Fluss des Gesprächs hervor und soll deshalb näher betrachtet werden: Die Kinder sind dabei, von sich aus eigene Erfahrungen zu schildern und das klappt gut. Nun aber insistiert die Lehrerin darauf, dass ein Kind eine Erfahrung antizipierend bearbeitet. Die Situation gerät zu einer Art (undramatischen) Inszenierung. Verschiedene Überlegungen können zur Klärung des Schlagabtausches zwischen der Lehrerin und Magnus angeführt werden:

Der inhaltliche Hintergrund ist in die Schwebe geraten: Was machen Frauen, was machen Männer? Was machen Kinder? Magnus weiß nicht genau, auf was die Lehrerin hinaus will. Er hat keinen konkreten Anhaltspunkt, keine klare Orientierung und reagiert daher eher intuitiv-spielerisch. Die „auch“-Kette ist unterbrochen. Insofern bearbeitet Magnus die Lehrerfrage individuell. Er weicht ab: Anstatt ‘ich auch1 signalisiert er: ich nicht!

Was an dieser Stelle besonders deutlich zu Tage tritt, kann für die gesamte Stunde als positiv reklamiert werden. Die Lehrerin lässt den Schülerinnen und Schülern Freiräume, reagiert spontan und freundlich auch dort, wo die Beiträge inhaltlich eine andere Richtung einschlagen. Magnus berichtet zunächst freimütig von seinem Vater, der immer dann kocht, wenn die Mutter nicht zu Hause ist. Als die Lehrerin danach fragt, ob er das später auch machen würde, bricht die thematische Aufgeschlossenheit abrupt ab. Zur Erklärung, warum das so ist, werden verschiedene Ansätze entwickelt:

Gleichaltrige (locker bleiben): Magnus stellt nicht (sozial erwünscht) in Aussicht, später selber zu kochen. Eventuell möchte er nichts mit der traditionell Frauen zugeschriebenen Hausarbeit zu tun haben. Vielleicht ist es aber auch das Kosewort, mit dem der Schüler nicht in der Klassenzimmeröffentlichkeit in Verbindung gebracht werden will. Magnus will besser mal locker distanziert (cool) reagieren, wo die Lehrerin hier verniedlichend (uncool) von „Papa“ spricht. Ein Kind X pflichtet ihm sofort bei: „Ich auch nicht“. Eventuell sind diese definitiven Absagen Indikatoren für Abgrenzungen gegenüber Erwachsenen, bei denen gleichsam die gegenseitige Anerkennung unter Gleichaltrigen an Bedeutung gewinnt. Sich vor Gleichaltrigen nicht erwachsenenkonform zu verhalten und eine Gegenposition zu der vermeintlichen Sicht der Lehrerin zu beziehen, wären insofern die Motive für die Reaktion von Magnus. Das „NÖ“ ist dann keine Antwort auf den Inhalt der Lehrerfrage, sondern eher eine Reaktion auf das Verhalten der Lehrerin. Magnus übt seine spezifische Rolle als Schulkind, indem er die formauflösende Intimisierung (s.u.) bzw. die Diffusität der Lehrerin zurückweist.

Nicht wissen, was sein wird: Gleichzeitig kann in Betracht gezogen werden, dass Magnus jetzt noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob er später kochen mag, ob ihm das überhaupt Spaß machen wird. Außerdem kann er sich hier und jetzt nicht adhoc mit dem identifizieren, was seine Eltern machen, dazu bräuchte er Bedenkzeit. Die Polarisierung, auf die die Lehrerin hinaus will (Unterschiede zwischen Männern und Frauen früher und heute – oder besser: Jungen und Mädchen früher und heute), reflektieren die Schülerinnen und Schüler nicht in der von ihr gewünschten Form, weil sie mit Männern und Frauen ihre Eltern identifizieren, aber nicht sich selber als Junge und Mädchen. Die Frage der Lehrerin setzt Magnus situativ (eine Frau fragt einen Jungen, ob er eine traditionell Frauen zugeschriebene Tätigkeit ausführen würde) unter Handlungsdruck und darauf reagiert er. Was zur Disposition steht ist nicht, ob Magnus tatsächlich später kochen wird oder nicht, sondern ob er in der Lage ist, einen eigenen Standpunkt zu beziehen: ob er die prekäre Situation meistert. Er reagiert eher spielerisch und aus einem „ernstgemeinten“ Ansinnen der Lehrerin wird ein eher „witziger“ Schlagabtausch, auch wenn er die üblichen Klischees bedient oder gerade deshalb. Er hätte ja auch sagen können, dass er es noch nicht wisse.

Kochen ist Geschmackssache: Die Frage der Lehrerin ist keine übliche Schulfrage. Die Antwort von Magnus kann keine Sanktion nach sich ziehen. Letztlich ist es eine persönliche Angelegenheit, eine Geschmackssache, ob jemand gerne kocht oder nicht. Insofern greift das Beispiel (visuell präsent durch die zuvor beschriebenen Abbildungen) nicht richtig. Zur Verdeutlichung historisch gewachsener Rollen ist es nur mäßig brauchbar.

Zusammengefasst: Magnus schließt mit einer Beobachtung aus seinem Alltag an das an, was die Lehrerin vorher gesagt hat: „das ist der Vater, der mit den Kindern backt“. Er führt zur Untermauerung ein eigenes Beispiel an (Rekonkretisierung von Abstraktion), dass unbeabsichtigt darauf hindeutet, dass die Realität komplexer und uneindeutiger ist als das Unterrichtsbeispiel der Lehrerin. Der Vater von Magnus kocht nur in einer Ausnahmesituation, nämlich wenn die Mutter nicht da ist. Insofern handelt der Vater nicht durchgehend „modern“, wie es die Abbildung suggeriert,während für die Ritter unterstellt bleibt, selbst wenn sie gewollt hätten, „das wäre nicht gegangen“ und die Erklärung dafür steht aus.

Die Lehrerin wiederholt: „Du würdest es nicht machen“. Ein anderes Kind pflichtet Magnus bei: „Ich auch nicht“. Die Lehrerin wendet sich noch einmal an Magnus: „Aber du hast bei deinem Papa gesehen, dass er es macht, ne? Hmm“. Sie fragt, als wolle sie sich noch mal vergewissern, ob sie Magnus richtig verstanden habe. Ein anderes Kind X: „(Ich würde das machen)“ entfaltet eine andere Perspektive (Gegenhorizont). Hier würde schon interessieren, warum und wie die Schülerinnen und Schüler ihre jeweilige Sichtweise begründen, welche Argumentationen sie dazu heranziehen, damit der Schlagabtausch keine Privatsache bleibt. Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung könnte hier ansetzen, indem Transparenz von der Sache her über die jeweiligen Handlungsmotive hergestellt wird. Die Diskussion über das Kochen wäre dafür ein Aufhänger. Für die Thematisierung von Rollenverhalten sind weitere Beispiele (z.B. aus dem Bereich der Berufstätigkeit) notwendig.

Als Nächster berichtet Clemens: „Und da- ich hab auch zu Hause – da hat meine Mutter mich gefragt, ob du auch mal arbeiten willst im Haus? Und da hab ich gesagt: Ja. Und da verdien ich jetzt auch Geld im Haus.“ Die „auch“-Kette wird wieder aufgenommen, Clemens entwickelt einen Gegenhorizont zu Magnus in mehrfacher Hinsicht: schon heute und jetzt hilft er im Haushalt. Und er macht dies nicht umsonst. Damit ist implizit ein Gegenhorizont zu oben aufgeworfen: dass Kinder heute nicht arbeiten müssen. Die Lehrerin wendet sich Clemens zu und vermutet: „(Und da kriegst du jetzt ein paar) Groschen für Treppe fegen oder sowas? Oder wie?“. Clemens greift zunächst die Formulierung „Oder“ auf, bricht seinen Gedanken ab „Oder wenn ich jetzt – äh“, stockt kurz und stellt dann klar: „also für eine Stunde lang krieg ich immer fünf Mark“. Während die Lehrerin nostalgisch verniedlichend von „Groschen“ spricht, legt der Schüler ein anderes Preis-Leistungsverhältnis zu Grunde. Die Lehrerin, die auf ein modernes Rollenverständnis hinaus wollte, wird hier mit dem nüchternen Pragmatismus eines kühlen Rechners konfrontiert und selbst zur Trägerin überholter Sichtweisen. Die Situation ist witzig. Clemens hebt sich souverän von dem eher verlegenen „NÖ“ von Magnus ab. Er bietet Paroli und ist positiv identifiziert mit der in Misskredit geratenen Hausarbeit (zu der das Kochen gezählt werden kann).

Die unterschiedlichen Alltagserfahrungen der Kinder strukturieren den Unterichtsdiskurs. Der Unterricht selbst wird zur Bühne, auf der die Schülerinnen und Schüler ein Stück ihrer Herkunft und ihrer Milieus freilegen (Allert 1998). Langsam tut sich eine Art „verkehrte Welt“ auf. Im Verlauf der Unterrichtsstunde bilden sich plurale Optionen ab (vieles ist möglich). Eines der Kinder spielt nicht ausschließlich in der Freizeit, sondern verdient sogar durch Hausarbeit Geld. Darin, so scheint es, besteht ein Unterschied zu den Ritter- und Bauernkindern. Die Lehrerin ist erstaunt: „Oh, is ja gut.“ Ähnlich wie weiter oben greift sie die Äußerung nicht inhaltlich auf, sondern wertet in einer knappen Kommentierung positiv. Joshua kommt mit seiner Äußerung nicht durch: „Wenn ich Papa helfe“. Das Kosewort „Papa“ als private Perspektive wird auch von Schülerinnen und Schülern verwendet.

Die Lehrerin ruft Vanessa auf, die sich gemeldet hat. Vanessa legt dar: „Ähm, Mama hat mich auch gefragt nach, ähm- ob ich auch mal was im Haushalt machen kann, ne? Und da hab ich ja gesagt. Und Mama und Papa haben sich erst mal hingelegt. weil sie so müde waren. Da hab ich das ganze Haus saubergemacht und abgewaschen und gekocht.“ Vanessa trägt ein Erlebnis aus dem Familienalltag in Form einer Erzählung vor. Sie berichtet (ähnlich wie Clemens vorher) in Dialogform. So oder so ähnlich muss es wohl gewesen sein. Die subjektive Verarbeitung ist als eine Geschichte egozentrisch in kindlicher Übertreibung um die eigene Person aufgebaut (Beck/Scholz 1995). Vanessa erzählt nicht bloß von sich, sondern auch von ihren Eltern und legt ein Stück häusliches Privatleben frei. Sie scheint die Lehrerin geradewegs mit der Schilderung ihres Fleißes bedienen zu wollen. Es drängt sich das Bild des fleißigen Mädchens auf, das an die Arbeit des Ritterkindes Anna und die beiden Bauernkinder erinnert. Die „auch“-Kette ist wieder da. Vanessa scheint an Fleiß und Arbeitseinsatz den Jungen vorher zu übertreffen (Dominanz-Diskurs). Gehen deshalb die stereotypen Rollenvorstellungen wieder auf?

Die Lehrerin fasst ihren Eindruck abschließend zusammen: dass die Kinder im Haushalt „auch schon ganz schön viel“ helfen. Damit rücken sie in den Erfahrungshorizont des Ritterkindes Anna und der Bauernkinder. Eigentlich sollte es ja darum gehen, die Unterschiede zu deren Leben herauszustellen. Die Jungen und Mädchen scheinen weniger an einer Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen und deren historischer Entwicklung interessiert zu sein, vielmehr aktualisieren sie Tätigkeiten der Erwachsenenwelt und identifizieren sich auch teilweise damit. Sie berichten engagiert aus ihren Familien und Elternhäusern, greifen dabei auf eigene Erfahrungen zurück, wohl um sich zu vergegenwärtigen, um was es hier geht. Die Szene ist gleichzeitig ein Indikator dafür, dass im schulischen Unterricht verschiedene Milieus aufeinander treffen und sich thematisch auswirken. Die Lehrerin sieht sich dadurch mit vielschichtigen, nicht vorhersehbaren, teils assoziativ vorgebrachten Schilderungen konfrontiert, die nicht ohne weiteres in die geplante inhaltliche Struktur passen. Die bunte Vielfalt der Schülerbeiträge führt zu Brüchen, was den geplanten Unterrichtsverlauf anbelangt und ist gleichzeitig ein Garant für Lebendigkeit. Die Lehrerin meistert die Situation, indem sie Offenheit zulässt.

Literaturangaben:

Allert, Tilman 1998: Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, Berlin, New York.

Beck, Gertrud/Scholz, Gerold 1995: Soziales Lernen. Kinder in der Grundschule, Reinbek bei Hamburg.

Hilligen, Wolfgang 1985: Zur Didaktik des politischen Unterrichts, Opladen (4. Aufl.).

Oevermann, Ulrich 1996: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Combe/Helsper 1996, S. 70-182.

Ziehe, Thomas 1996a: Zeitvergleiche. Jugend in kulturellen Modernisierungen, Weinheim/München (2. Aufl.).

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