Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Zur ersten These:

Das Unterrichtsgespräch dreht sich darum, ob bestimmte Tätigkeiten nichts für Mädchen bzw. nichts für Jungen seien; dazu lag eine Folie auf dem Overhead-projektor. Die Lehrerin fragt nach Erfahrungen der Schüler/innen. Clemens beginnt, indem er sich auf ein Armband bezieht, dass die Schüler/innen vor einigen Wochen im Unterricht gebastelt hatten; dann ist Sören aufgerufen:

Interpretation: Die Lehrerin ist hier offensichtlich so sehr darauf eingestellt, dass Sören – genauso wie Clemens zuvor – ein geschlechtsrollen-untypisches Beispiel erzählt, dass sie seine zaghaften und leisen Versuche, sie zu korrigieren, überhört. Sören verzichtet schließlich auf die Korrektur und sagt schlicht ja. Eine Folge seiner Schülerrolle? Er weiß, dass ein zu langer Dialog zwischen ihm und der Lehrerin im Prinzip unerwünscht ist und verzichtet daher auf eine Richtigstellung. Er weiß, dass es im Unterricht wichtiger ist, sich überhaupt am Gespräch zu beteiligen und im Sinne der Lehrerin das Richtige zu sagen als eine eigene Position zu vertreten? Vermutungen, die aber nicht unbegründet sind. Was Sören mit seiner Geschichte tatsächlich erzählen wollte, lässt sich nicht rekonstruieren. Vielleicht wollte er auf den Gegensatz hinweisen, dass sein Vater zwar einerseits bewundernd auf seine handwerkliche Fähigkeit eingeht, andererseits aber den (typisch weiblichen) Gegenstand für einen Jungen bzw. Mann nicht akzeptiert.

In dem Text über Ritterkinder werden Tätigkeiten der Mädchen und Jungen geschildert; sie wachsen getrennt auf, da sie unterschiedliche Tätigkeiten verrichten. Zugleich wird erzählt, dass der Junge mit sieben Jahren von den Eltern getrennt und zum Ritter ausgebildet wird. Aus der Diskussion:

Interpretation: Die Lehrerin möchte eine Stellungnahme von Konrad zu ihrer Frage nach dem Getrenntleben. Konrad geht zwar auf das Getrenntleben ein, seine Stellungnahme bezieht sich aber darauf, dass er nicht glaubt, dass sie zusammengelebt haben. Die Lehrerin wiederum geht hierauf nicht ein; eventuell hört sie es nicht, weil Konrad leise spricht. Sie wiederholt ihre eigene Aussage bestätigend. Dann legt sie ihm (suggestiv) eine Bewertung nahe und fragt nach deren Begründung. Konrad greift die Argumentationsfigur der Begründung mit „weil“ auf, wechselt aber im Verlauf seiner Äußerung das Thema; am Ende seiner Äußerung beschäftigt ihn das Lernen. Unklar ist, ob er zunächst beim Thema bleibt und mit dem Arbeiten, das unterschiedliche Tätigkeiten umfasste, die negative Bewertung begründen will oder ob er von Anfang an der Lehrerin nicht mit dem Thema folgt. Dazu lassen sich folgende Vermutungen anstellen: Er hält an dem vorherigen Aspekt fest, der mehrmals von der Lehrerin als wichtig gekennzeichnet wurde. Er interessiert sich nicht für das Getrenntleben und benutzt die Figur der Begründung, um auf das Thema eingehen zu können, das ihn interessiert. Oder ihm fällt während seiner Antwort ein, dass sie auch nicht lernen konnten und hängt es dran. Die Äußerungen der Schüler/innen werden nicht entfaltet; sie werden nicht reflektiert (vgl. These 3). Damit lernen die Schüler/innen eine Wertigkeit von Äußerungen: Die der Lehrerin erscheinen als maßgeblich, ihre eigenen werden für Ziele der Lehrerin herangezogen, nicht aber in ihrem Eigenwert anerkannt. Sie lernen die asymmetrischen Beziehungen zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen auf inhaltlicher Ebene kennen und sich entsprechend zu verhalten.

Zur zweiten These:

Torben greift das Getrenntleben zwar wieder auf, bezieht es aber nicht auf die Beziehungen zwischen den Kindern, sondern auf die zwischen den Eltern und den Kindern (Zeile 146f). Das Thema wird von ihm dahingehend weiterentwickelt, dass er zaghaft gegen das Getrenntleben ist, „bis man so alt ist“. Clemens greift nur noch die Bewertung auf, findet die Situation für die Ritterkinder „auch nicht so schön“ und begründet: „weil se nicht zur Schule gehen konnten“ (Zeile 150). Damit wird das Thema des Getrenntlebens erneut verlassen; die folgenden Äußerungen beziehen sich auf das Lernen und die Schule (bis zur Zeile 157). Die Schüler greifen verschiedene Aspekte auf, aber die Lehrerin bekommt auf ihre Frage auch weiterhin keine Antwort.

Interpretation: Joshua deutet die Frage nach dem „getrennt sein“ als eine Trennung von Eltern und Kinder, was in der Geschichte ebenfalls angelegt ist. Dieser Aspekt ist ihm anscheinend wichtiger als die Frage nach Mädchen- und Jungenrollen. Die Lehrerin bestätigt seine Antwort, die sich nicht auf ihre Frage bezieht, indem sie nach Vorteilen der Trennung fragt. Sie geht auf Joshua ein; was aber ergibt sich hieraus für die Schüler/innen, die die Frage der Lehrerin so verstanden haben, wie sie gemeint war? Unterrichten heißt – zumindest in Frontalsituationen -, eine Gruppe zu unterrichten, nicht Einzelne; und dies ist nicht nur ein organisatorischer Aspekt. Die Lehrerin isoliert insofern auf der inhaltlichen Ebene die Klasse in einzelne Schüler/innen; sie kann nicht über Inhalte integrieren, indem sie z.B. das Gemeinsame, das Allgemeine bzw. Öffentliche der ‘privaten1 Geschichten herausarbeitete. Da sie stattdessen diese von ihr nicht intendierte Gesprächsentwicklung mitmacht, d.h. auf die Geschichten der einzelnen Schüler/innen als einzelne, besondere Geschichten entgeht und keine Geschichte zurückweist, verliert sie im Verlauf der Stunde immer wieder ihre Führung hinsichtlich der Themenentwicklung. Dies ist der Lehrerin bewusst, wie ihre Reflexionen zur Stunde zeigen. Die Schüler/innen aber werden in die Themenvariationen nicht eingeweiht; für Betrachtende des Unterrichts – und wahrscheinlich für die Schüler/innen – verliert sich der rote Faden des Unterrichtsgesprächs. Zudem wird weder aktiv noch passivbetrachtend gelernt, sich aufeinander zu beziehen. Unterricht wird zu einer Pseudokommunikation, in der sich Ratephasen, Missverständnisse und Beziehungslosigkeiten aneinanderreihen. Schule sollte stattdessen Gelegenheit bieten, interaktive Fähigkeiten bezogen auf inhaltlichen Austausch zu üben.

Andererseits fordert die Lehrerin mit ihrem Stil der , Achtung – Wärme – Rücksichtnahme“ (Tausch/Tausch 1977) zwischenmenschliche Beziehungen, die besonders heute in Grundschulklassen wichtig sind. Liegt hier ein Dilemma zwischen der inhaltlichen und der Beziehungsebene vor?

Diese Interpretation der Pseudokommunikation lässt sich auch für andere Passagen belegen; so z.B. als Clemens von möglichen Drachen erzählt (Zeile 97). Mit ihrer Intention, möglichst alle Äußerungen der Schüler/innen positiv aufzunehmen, bestätigt die Lehrerin die fabulöse Geschichte mit den Drachen. Sie lächelt und blickt (suchend?) auf ihre Unterrichtsvorbereitungen: Sie scheint ein wenig unsicher, ob sie weiter darauf eingehen soll, da mit den Drachen ein ganz neuer Sinnbereich in das Unterrichtsgespräch einbezogen wird, der der Märchen, Sagen und Fabeln, der nicht zum geplanten Unterricht gehört. Sie entscheidet sich, nicht weiter darauf einzugehen und stellt die nächste Frage. Auf der denotativen Ebene bestätigt sie die Äußerung von Clemens, auf der konnotativen Ebene aber wird sie von ihr nicht positiv aufgenommen, da der neue Aspekt der Drachen nicht weiterverfolgt wird. Schüler/innen lernen diese subtilen Differenzierungen schnell. Die Intention der Lehrerin, auf alle Äußerungen positiv einzugehen, ist damit nicht wirklich durchführbar und beschränkt sich auf die denotative Ebene. Hier wird ein nicht zu realisierender Anspruch von Lehrenden zum Problem: Nicht alle Redebeiträge lassen sich per se als positiv bewerten. Lehrende scheinen sich des Öfteren davor zu scheuen, eine Äußerung auch deutlich als unpassend oder falsch zu kennzeichnen. Mit dieser „Strategie“ ist es Schüler/innen diesen Alters – und wahrscheinlich gilt dies auch für ältere – aber nicht möglich, ihre Beurteilung über ‘passend1 oder ‘unpassend* nachzuvollziehen und sich ggf. gegen die Bewertungen zu wehren. Andererseits kann es sein, dass die Lehrerin auch einiges aus akustischen Gründen überhört, was besonders in der allgemein unruhigen Grundatmosphäre von Grundschulklassen nicht zu vermeiden ist. So z.B. die Äußerung von Magnus, dass die früheren Bauernkinder auf die Kühe auf der Straße aufpassen mussten (Zeile 133); Straßen gab es in dem Sinne noch nicht und dies wäre leicht zu korrigieren gewesen. Aber: Ein ständiges korrigierendes Eingreifen in Schüleräußerungen würde jedoch auch unangenehm als ‘besserwisserische‘  Lehrerdominanz auffallen.

‘Erschwerend‘ kommen Besonderheiten kindlichen Denkens hinzu: Kindern fallt es schwer zu erkennen, was im Unterricht das Wichtige, das Relevante sein soll. Das gezielte Mustern von Alternativen zur Entscheidung darüber, welche Informationen für ein Thema wichtig sind, ist ihnen nach Bruner noch nicht vertraut (Bruner 1971: 117; 127); in den Merkmalen kindlicher Rationalität zeige sich „Polyvalenz, Transitivität, fehlende Zeugidentität, plastisches Ich-Bewußtsein, ‘Ubiquität* und ‘wilde‘ Spontaneität“ (Meyer-Drawe 1984: 234), die im Unterricht eine Vielfalt an thematischen Möglichkeiten eröffnen kann. Erst im Laufe der Sozialisation wird sie auf eine logische und begriffliche Rationalität verengt. So folgen die Schüler/innen oftmals anderen Relevanzen des Themas als von der Lehrkraft intendiert; der sog. rote Faden der Kommunikation geht sukzessive verloren, wenn die Korrekturversuche der Lehrkraft nicht glücken. Die Kommunikation wird von den Beteiligten als „Gelabere“ empfunden.

Ein gewähltes Prinzip wie die Erfahrungsorientierung erfordert zum einen für den Grundschulbereich methodische Eingriffe, in denen das Relevante deutlich hervorgehoben wird. Dies macht die Lehrerin durchaus an einigen Stellen. So gibt sie beispielsweise orientierend Interpretationsrichtungen vor: Bevor sie den Text verteilt, betont sie, dass Ritter- und Bauernkinder früher ganz anders gelebt haben (Zeile 35) und dass sie nicht so viel Zeit hatten, zur Schule zu gehen (Zeile 37), weil sie den Eltern helfen mussten (Zeile 38). Bevor die Schüler/innen den Text wiederholen, betont sie das hier Wesentliche (Zeile 116); die Schüler/innen geben den Text inhaltlich richtig wieder. Vor einem neuen Impuls fasst sie es zusammen mit „andere Pflichten“ (Zeilen 135, 136). Damit macht sie deutlich, dass ihr dieser Aspekt sehr wichtig ist. Eine gelungene Unterrichtspassage. Zum anderen erfordert das Prinzip besonders viel kommunikatives Geschick der Lehrkraft bzw. ein hohes Maß an Professionalität zum Führen von Unterrichtsgesprächen.

Zur dritten These:

Es geht im Unterricht um Beispiele für Tätigkeiten, die zeigen sollen, dass alte Bilder über Geschlechterrollen nicht mehr gelten; dabei nennen die Schüler/innen vieles, das unbearbeitet bleibt:

  • Die Topflappen, die Josephine in ihrer Geschichte anspricht, bleiben unbeachtet, obwohl sie genau in das Unterrichtsthema zielen (Zeile 299).
  • Das Nicht-kochen-wollen von Magnus wird nicht aufgegriffen (Zeile 334ff); die Lehrerin erscheint an dieser Stelle „sprachlos“. Erschrickt sie vor den Vorurteilen, die sie mit einem Eingehen darauf „lostreten“ könnte?
  • Die Lehrerin greift nicht das Beispiel auf, dass die Kinder für das Helfen im Haushalt Geld bekommen: Joshua bekommt Geld, wenn er Papa hilft. Mütter bekommen nicht so ohne weiteres Geld für ihre Hausarbeit. Die Lehrerin bewertet dies sogar mit ‘gut1 (Zeile 341) und scheint die Perspektive des Jungen eingenommen zu haben; aus der Perspektive der Mütter bzw. vom Unterrichtsthema her gesehen ist diese Bewertung inkonsequent bzw. die ungleiche Behandlung der Geschlechter ließe sich hier gut diskutieren.

Bei Äußerungen der Schüler/innen, die (mehr oder weniger subtil) auf Geschlechterklischees hinweisen, reagiert die Lehrerin quasi kontraproduktiv, indem sie sie jedes Mal abbricht und so deren Bearbeitung verhindert; die nötige Offenheit für Äußerungen hat sie lediglich in unproblematischen Sequenzen, die keine Vorurteile erkennen lassen. Obwohl sich die Lehrerin im Thema gut auskennt (sie kennt Literatur zu Frauenthemen, zum koedukativen Unterricht usw.), gelingt es ihr nicht, auf die Lernangebote der Schüler/innen im Sinne ihrer eigenen Planungen und Lehrziele einzugehen und das Geschlechtstypische aus deren Geschichten zum Gegenstand eines gemeinsamen Diskurses zu machen.

An anderen Stellen bewertet die Lehrerin implizit; die Wertungen werden nicht als solche verdeutlicht:

  • Die Kinder, die auf der Overhead-Projektor-Folie dargestellt sind, machen „nette Sachen“; damals mussten die Ritterkinder arbeiten (Zeile 218).
  • Heute ist es besser als früher, doch es gibt noch Einflüsse von früher: „Da könnte noch so’n ganz bisschen was von ganz, ganz früher sitzen. Aber heute können wir sagen…“ (Zeile 284f.).

Werturteile, die als Vorurteile zu kennzeichnen sind; aber frei von jeglichen Vorurteilen ist niemand und in der Schnelligkeit von Unterricht wird es wohl kaum gelingen, sich ‘korrekt‘ zu verhalten.

Falls diese Interpretationen angemessen sind, was bedeutet das dann für Unterricht, in dem es um Prozesse der Aufklärung von Vorurteilen und Stereotype geht? Welches didaktisch-methodische Konzept wäre hier angebracht? Wie müsste Lehrerbildung und -fortbildung aussehen?

Quellenangaben:

Bruner, Jerome S. u.a. 1971: Studien zur kognitiven Entwicklung, Stuttgart. Combe, Amo/Helsper, Werner 1994: Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie, Weinheim.

Meyer-Drawe, Käte 1984: Leiblichkeit und Sozialität: Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München.

Tausch, Reinhard/Tausch, Anne-Marie 1977: Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person. 8. ergänzte Aufl., Göttingen.

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