Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Herr Schmidt – »dass jeder sein Lieblingsrezept aus seinem Heimatland mitbringen musste«“
- „Herr Ludwig [1] – »Hola« und »Salut«“
- „Frau Mütz – »da hatte ich auch mal ne Schülerin, die aus Griechenland kam auch da einfach mal zu erzählen«“
- „Schüler_innen: Motive für die Bejahung des Prinzips Interkulturelles Frühstück – Sechstklässler_innen eines Gymnasiums“
- „Schüler_innen: Motive für die Bejahung des Prinzips Interkulturelles Frühstück – Achtklässler_Innen einer Integrierten Gesamtschule“
- „Schüler_innen: Motive für die Bejahung des Prinzips Interkulturelles Frühstück – Masud“
- „Schüler_innen: Motive für die Bejahung des Prinzips Interkulturelles Frühstück – Resümee der Schüler_innenbefragung“
- „Interkulturelles Frühstück – Resümee der Lehrkräftebefragung“
Einleitende Bemerkungen
Wir möchten mit dem Fall der Lehrerin Frau Önal beginnen, die insbesondere von ihren eigenen Erfahrungen als Schülerin berichtet und aufgrund dieser Erfahrungen einen eigenen Umgang mit Veranstaltungen, die dem Prinzip Interkulturelles Frühstück zuzuordnen sind, entwickelt hat.
Frau Önal ist Lehrerin für Gesellschaftslehre – und damit auch für Geschichte – an einer niedersächsischen Gesamtschule. Sie hat einen türkischen Migrationshintergrund. Im gesamten Interview wird deutlich, dass sie sich bereits sehr intensiv mit der Thematik des interkulturellen Lernens auseinandergesetzt hat. Ihr Interesse an diesen Fragen führt sie selbst auf ihren Migrationshintergrund und damit verbundene Diskriminierungserfahrungen zurück.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Frau Önal: »Das ist ja komisch. Also z.B. als Kind, da wusste ich das nicht, also ich wusste nicht, dass ich jetzt irgendwie Migrationshintergrund habe, das war für mich ganz normal, weil ich auch die Sprache immer sprechen konnte, also ich hab nicht die Erfahrung gemacht, dass ich ne neue Sprache lerne.«
Interviewerin: »Ja.«
Frau Önal: »Ähm, und im Kindergarten ist mir das dann zuers- zum ersten Mal klar geworden, dass ich anders bin. Ich war auch die einzige [kurze Pause] mit Migrationshintergrund und da entwickelten sich die ersten Schwierigkeiten, das war auch ne schwierige Zeit, wo, glaub ich, keiner so richtig benennen konnte, woran das lag, auch die Erzieher nicht und meine Eltern, denk ich, auch nicht, und ich selbst schon gar nicht und dann war das gegessen, ich bin dann auch nicht mehr weiter in den Kindergarten, also es gab, es gab wirklich Probleme.«
Interviewerin: »Mmh.«
Frau Önal: »Und dann in meiner Schulzeit [Pause] hab ich immer nur die Erfahrung gemacht, deswegen hab ich glaub ich auch ein Problem damit, dass das etwas Besonderes ist, also es ist immer nett gemeint, aber wenn man dann so in bestimmten Situationen hervorgehoben wird und man da erzählen soll, das war ganz schlimm.«
Frau Önal war ihr Migrationshintergrund als Kind nicht bewusst. Erst mit Eintritt in pädagogische Institutionen, wie dem Kindergarten bzw. der Schule, spielte dieser eine Rolle. Den Kindergarten verließ sie dann aufgrund der damit assoziierten Schwierigkeiten, die sie aber im Interview nicht näher bezeichnet. Für die Schulzeit spielen Schwierigkeiten bzw. Probleme zwar keine so ausgeprägte Rolle in ihrer Erzählung wie für den Kindergarten, aber auch hier wurde ihr das »Besondere« ihres Migrationshintergrundes bewusst gemacht, wenn sie in bestimmten Situationen hervorgehoben wurde und erzählen sollte. Sie führt an dieser Stelle zwar weder aus, um welche Situationen es sich hierbei handelte, noch wovon sie erzählen sollte, aber ihr Migrationshintergrund dient in ihrer Erinnerung den Lehrkräften als Unterscheidungskriterium zu ihren Mitschüler_innen.[1] Letztere müssen, sollen, können oder dürfen nicht erzählen, da ihre Welt anscheinend allen anderen Schüler_innen vertraut ist. Frau Önal erscheint somit fremd in ihrer Klassengemeinschaft, sie ist anders als ihre Mitschüler_innen, nicht zugehörig. Dies sei zwar nicht die Absicht der Lehrkräfte, die das »immer nett« meinen, hatte aber für die Interviewte doch negative Konsequenzen. Daher lehnt sie Veranstaltungen wie das »Interkulturelle Frühstück« auch ab (s. weiter unten) und verweist auf Bedingungen, unter denen Hervorhebungen aufgrund des Migrationshintergrundes angebracht sein könnten:
Frau Önal: »Also man muss, glaub ich, als Pädagoge echt nen Feingefühl dafür haben, in welchen Momenten man das als positive Eigenschaft hervorhebt und wann lieber nicht, ich glaub, das kann man auch nicht, wenn man selber nicht so die Erfahrung gemacht hat.«
Lehrer_innen müssten ein »Feingefühl«[2] mitbringen, um sich angemessen auf den Migrationshintergrund ihrer Schüler_innen zu beziehen, um beurteilen zu können, wann der Migrationshintergrund als »positive Eigenschaft« hervorgehoben werden sollte und wann eher nicht. Ein solches Feingefühl könne man allerdings nur aufgrund eigener Erfahrungen erlangen. Demnach könnten lediglich Lehrkräfte mit eigenem Migrationshintergrund angemessen mit dem Migrationshintergrund ihrer Schüler_innen umgehen. Allerdings relativiert Frau Önal ihre Aussage an dieser Stelle selbst. Sie glaubt lediglich, dass das so sei, behauptet also nicht, es sicher zu wissen.
Diese Einstellung zeigt sich auch in der oft geäußerten bildungspolitischen Forderung, mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund einzustellen (s. z.B. – willkürlich herausgegriffen – die Artikel von Katharina Schuler und Birger Menke in der Zeit bzw. dem Spiegel; Schuler, 2010; Menke, 2010). Interessanterweise kann dieser Annahme zufolge ein Migrationshintergrund allgemein als Folie für mehr Feingefühl, Verständnis und Empathie dienen. Die Art der Migrationserfahrung scheint dabei geradezu nebensächlich – es macht also keinen Unterschied, ob man selbst migriert ist, die Eltern oder gar Großeltern, und auch das »Herkunftsland« sowie weitere spezifische Hintergründe und Erfahrungen spielen demnach keine Rolle.
Frau Önal hingegen spricht nicht davon, dass der Migrationshintergrund per se für den angemessenen Umgang sorge, sondern nennt in diesem Zusammenhang die Erfahrung, erzählen zu sollen und somit hervorgehoben zu werden, die man gemacht haben müsse und die sie selbst als »ganz schlimm« erlebte.
Das Besondere und Hervorgehobene empfindet die Interviewpartnerin aber auch noch auf einer weiteren Ebene als problematisch. So werde interkulturelles Lernen allgemein in der Schule eher als einmaliges Event, als Fest oder als Kochveranstaltung denn als etwas Außeralltägliches inszeniert.
Frau Önal: »Mmh. Also das ist so ähm wenn das auftaucht wird das immer is es etwas Besonderes.«
Interviewerin: »Mmh.«
Frau Önal: »also es ist nicht so, dass es so in den Alltag integriert wird, sondern ähm, es taucht mal als besondere Unterrichtseinheit äh auf oder es taucht mal als besondere Projektwoche auf und und dann werden Ideen, z.B. hatten wir ne Projektwoche solcher Art am Europatag war das Thema Migration und da wurd viel gesammelt und man hatte dann doch letztendlich das Gefühl, dass es irgendwie nicht so richtig klappt«
Interviewerin: »Mmh.«
Frau Önal: »Ja, so ja.«
Interviewerin: »Könn- können Sie sagen warum oder wa- was meinen Sie wodran das liegt, dass das eben nicht so klappt?«
Frau Önal: »Ich glaub, das liegt vor allem daran, dass es ähm nur in solchen Zeiten aufkommt, also dass es nicht äh als fester Bestandteil einfach schon verankert ist. Daran liegt es glaub ich, also dass es ähm nicht selbstverständlich ist und wenn man dann solche Tage hat, dann kommen dann dann also früher also früher war das dann immer so, dass dann an dem Tag interkulturelles Lernen war immer nur jeder bringt was zu essen mit und es wird getanzt und das ist ja nen völlig falsches Verständnis davon.«
Interviewerin: »Ja.«
Frau Önal: »Ja dann ist das immer so nur so nen Fest, aber dann ja, so verankert sich das, glaube ich, auch in den Köpfen, das es ist halt nur ein Fest.«
Interviewerin: »Ja.«
Frau Önal: »Und dann es taucht alle Jahre auf und dann wars des, ich glaub, das ist die Schwierigkeit.«
Interkulturelles Lernen wird, so kann man die Interviewte verstehen, nicht selbstverständlich als Querschnittsaufgabe wie von der KMK gefordert in den Unterrichtsalltag integriert, sondern verbleibt ganz im Außeralltäglichen.[3] Das gilt für gesonderte Unterrichtseinheiten und Projektwochen und in besonderem Maße für solche immer wiederkehrenden Tage, an denen eigens interkulturell gelernt werden soll. Einzig der Festcharakter solcher Tage mit Essen und Tanz bleibt den Schüler_innen in Erinnerung, nicht aber die Normalität migrationsbedingter und auch sonstiger kultureller Diversität. Das Außeralltägliche und Besondere eines Festes wird hier offenkundig nicht als etwas präsentiert, das sich durch seine besondere Eindrücklichkeit in das Gedächtnis aller Beteiligter einprägen würde, vielmehr wird hier mit gewissermaßen wegwerfender Handbewegung vom bloßen Festcharakter (»das ist halt nur ein Fest«) gesprochen, eines Festes, das von einem interkulturellen Lernen in einem mehr als nur folkloristischen Sinne weit entfernt ist.
Frau Önal stellt ihre Vorstellung von gelingendem interkulturellem Lernen im Kontrast dazu folgendermaßen dar:
Frau Önal: »Ja, ähm, [Pause] das sind so viele Situationen, also jetzt z.B. diese Unterrichtseinheit [»Motive zur Migration«; Anm. der Verfasser_innen] tauchte ja auch nur als besondere Einheit auf, ne. Es war dann, aber in dieser Klasse gibt es viele Kinder, die haben einen Migrationshintergrund und manchmal, des klingt jetzt komisch, aber manchmal denkt man das gar nicht, also es sind viele Kinder von viele binationale Eltern und viele bikulturelle Eltern und ähm mehr als die Hälfte der Kinder und von daher die hatten die Aufgabe, dass sie einfach eine Person interviewen, warum diese Person ihre Heimat verlassen hat. Die Vorgabe war nicht interviewt eure Eltern aber das kam dann so. Des hab ich mit Absicht weggelassen und des war ganz interessant«
Interviewerin: »Ja.«
Frau Önal: »was dabei rumkam und dann hab ich das Gefühl gehabt, die verstehen das, warum Menschen jetzt ähm wirklich die Heimat verlassen. Da kamen auch viele Gründe zusammen. Studium oder halt äh Geld verdienen, als Au Pair kam eine her und des war, ich glaub des war, und unternander verstehen die sich auch öfter mal, also weil die das so nachvollziehen können. Es klappt, also ich glaub, die Schüler sind da besser als wir manchmal, so die können das einfach ganz gut.«
Frau Önal behandelt in der von ihr vorgestellten Unterrichtseinheit »Motive zur Migration«. Um mögliche Motive herauszufinden, sollen die Schüler_innen Interviews führen. Hier verzichtet Frau Önal ganz bewusst darauf, dass die Schüler_innen ihre Familiengeschichte vorstellen sollen. Das »kam dann zwar so«, allerdings nicht von der Lehrkraft initiiert. Den Schüler_innen wurde hier ein Freiraum geboten, den sie bei Bedarf nutzen konnten, aber nicht mussten. Auch beschäftigten sich alle Schüler_innen mit Migrationsmotiven – nicht nur die mit eigenem Migrationshintergrund. So nimmt die Lehrkraft hier keine bewusste Hervorhebung einzelner Schüler_innen vor, gibt aber diesen dennoch die Möglichkeit, ihre eigene Familiengeschichte durchaus zu erzählen, wenn sie dieses wünschen. Dies kann als pädagogische Praxis aufgefasst werden, die einen Bezug zum Prinzip Interkulturelles Frühstück aufweist, dieses aber in gewisser Weise unterläuft.
Anmerkung der AutorInnen
Zum Schluss […] gilt es noch festzuhalten, dass die aufgeführten Beispiele weitgehend – die Migrationsgeschichten von Frau Önal bilden hier eine Ausnahme – keinen fachspezifischen Bezug aufweisen, der Geschichtsunterricht hier mithin zumeist ein eher zufälliger Ort ist und die Beispiele sich auch in anderen Fächern hätten ereignen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir das Prinzip Interkulturelles Frühstück in der beispielsweise von Frau Önal kritisierten Variante in dem von uns erhobenen Videomaterial von Unterrichtsstunden des Faches Geschichte nicht finden konnten. Das mag zum einen daran liegen, dass es sich um eine besondere Situation handelt, die nicht in die täglichen Unterrichtsabläufe integriert ist. Es kann jedoch auch sein, dass das Prinzip Interkulturelles Frühstück zwar vielen Lehrkräften bekannt ist – schließlich spielt es ja auch in außerschulischen Kontexten eine prominente Rolle – und quasi als Prototyp des interkulturellen Lernens gelten mag. Daher müssen und wollen sich Lehrkräfte unter Umständen in den von uns geführten Interviews dazu positionieren.
Fußnoten
[1] Frau Önal bezieht sich in dieser Interviewpassage nicht explizit auf die Lehrkräfte. Man könnte also auch annehmen, dass sie auf Wunsch ihrer Mitschüler_innen »erzählen sollte«. Allerdings liegt es bekanntlich in der Logik des schulischen Unterrichts begründet, dass in den meisten Fällen die entsprechenden Lehrkräfte die Schüler_innen zu Unterrichtsbeiträgen auffordern, und Frau Önal dies deswegen hier nicht genauer expliziert.
[2] Darüber hinaus sollten sie natürlich über das Wissen verfügen, dass eben jener Schüler oder jene Schülerin überhaupt einen Migrationshintergrund hat und somit erst in der Lage sein könnte, etwas diesbezüglich Einschlägiges zu berichten (s. hierzu auch das Interview mit Frau Mütz weiter unten).
[3] Diese Einschätzung deckt sich mit zahlreichen Äußerungen anderer Lehrkräfte in den Interviews. Diese heben oft hervor, dass eine Integration von interkulturellem Lernen in das alltägliche Unterrichtsgeschehen nur schwer möglich sei. Gründe hierfür seien u.a. Stofffülle oder Zeitmangel. Mitunter führt solch eine Einschätzung auch zu dem Empfinden, interkulturelles Lernen zu realisieren sei eine weitere (kultusministeriell aufoktroyierte) Zumutung zusätzlich zum ohnehin schon belastenden »Kerngeschäft«, ein ähnlicher mühsamer »Zusatz« wie etwa die Förderung von Medienkompetenz, Gesundheits- oder Umweltbewusstsein.
Literaturangaben
Menke, B. (2010). Lehrer als Integrationshelfer. Gemischte Klassen, germanische Lehrerzimmer. URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/lehrer-als-integrationshelfer-gemischte-klassen-germanische-lehrerzimmer-a-716549.html (Stand: 20.02.2014).
Schuler, K. (2010): Lehrer? – Nein danke. URL: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-09/integrationsprogramm-lehrer-gruende (Stand: 20.02.2014).
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