Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Neben zahlreichen Gesprächen mit Studierenden, die im Kontext der Hauptseminare zum Literarischen Unterrichtsgespräch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geführt wurden, leitete ich vier Gespräche mit Grund-schulkindern. Jeweils zwei davon entstanden in dritten beziehungsweise vierten Klassen an zwei Grund-, Haupt- und Werkrealschulen im Rhein-Neckar-Raum. [1]  Das Gedicht Zirkuskind von Rose Ausländer bildete die Textgrundlage aller literarischen Gespräche und war bis dahin nicht Gegenstand des Literaturunterrichts, weshalb ich davon ausgehen konnte, dass es sich in allen Gesprächsgruppen um die erste Begegnung mit diesem Text handelte. Nach Auskünften der Klassenlehrerinnen hatten die Schüler mit dem Literarischen Unterrichtsgespräch bislang noch keine Erfahrungen gemacht. […]

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Ausgehend von den drei Alteritätsparametern möchte ich nun Gesprächs-ausschnitte heranziehen, die Rückschlüsse auf die Rezeptionsstrategien der Gesprächsgruppen in ihrer Begegnung mit semantisch-thematischer Alterität zulassen. Es handelt sich hierbei um Gesprächssequenzen, die vor allem auf die Referenzialität des Textes abheben, indem sie um große Themenkomplexe wie Wirklichkeit, Traum und Sinn kreisen. Diese Gesprächsausschnitte werden zwar oftmals von wenigen Versen des Textes angestoßen, aber sie kreisen eher um den Gehalt des Gedichts in seiner Gesamtheit. In vielen Beiträgen der Textdetektive lässt sich ein Vorgehen erkennen, das für die Begegnung mit semantisch-thematischer Alterität in diesen Klassenstufen konstitutiv zu sein scheint. Hierbei handelt es sich um diverse Formen des logischen Denkens und Schlussfolgern^, die bei einigen Teilnehmern immer wieder als Rezeptionsstrategie angewendet werden und als altersgerechte Umgangsform zu verstehen sind: Die Strategien offenbaren das Ringen zwischen dem logischen Denken der Rezipienten und dem vom Text eingeforderten Verzicht darauf.

Marco geht von der Arena der Erde aus und stellt fest, dass das „ja gar nicht sein (kann), weil das Zirkuskind, wenn das ja mit dem SEIL über die E/ ganze ERde will, das geht ja gar nicht, wenn s um die ganze Erde will, weil ähm * entweder es würde vom Seil abstürzen schon lange“, weil „so n weiter Weg könnte man nicht aushalten auf dem Seil“ [Marco 103/5 (3,1)]. Diese Er-klärungen nutzt er gewissermaßen als Vorbereitung für die Feststellung, dass das „eigentlich gar nicht gehen (kann), ist eigentlich glaub ich nur en TRAUM“ [105/6 (3,1)]. Auch Matthias kann sich das, was der Text hier in wenigen Zeilen konstituiert, kaum vorstellen: Zum einen „gibt (es) überhaupt kein Seil, das so groß, das so lang ist wie die Erde“ [107/6 (3,l)], was nach Vanessa „eigentlich ein Doppeltseil“ [113/8 (3,l)] verlangen würde und zum anderen „dauert (des) bestimmt so ne Woche bis man * wenn man s überHAUPT schafft“. Kurze Zeit später spitzt Christoph das Problem noch zu, weil man ein solches Seil „ja doch nirgendwo befestigen“ [Christoph 111/6 (3,1)] könne.

Diese Herangehensweise legt beredtes Zeugnis von den Rezeptionsstrategien der Textdetektive ab: Die literarische Sprache fordert eine andere Sichtweise von Welt ein, die die Schüler zunächst nur partiell leisten möchten, weil sie dem Text mit außertextuellen Referenz- und Denkmodellen begegnen, wogegen sich das Gedicht sträubt, indem es die Normen logischen Denkens durchbricht. Die Verweigerung dieses Zugriffs kann zu einer semantisch-thematischen Alteritätserfahrung für die Lernenden werden, was sich gerade auch im Abarbeiten am Irritierenden zeigt:

Ähm und ähm das Rätsel ist eigentlich schon lange gelöst, weil alles könnte gar kein Sinn ergeben, das sollte eigentlich jetzt nur ein Traum sein. [Marco 129/8 (3,1)]

Zwei Beiträge später ist Marcos Geduld am Ende; er bringt rhetorische Fragen ein, die er sich im gleichen Atemzug selbst beantwortet:

Ja * gibt s en Flügelpferd? NEIN [L: da reden wir ja gleich drüber] des find ich * es gibt kein Pferd mit Flügeln, ein Mohnfeld gibt s auch nicht o [XY: doch] [XY: doch]. [131/9 (3,1)]

Die Vermutung liegt nahe, dass er den Text an sich infrage stellen möchte, weil sein logisches Denken und seine Lebenserfahrung mit den latenten Sinnschichten des Textes nicht kompatibel sind: Marco kann Imaginäres (Flügelpferd) und Konkretes (Mohnfeld) nicht voneinander trennen. Der Text scheint in seinen Augen eine Ansammlung absurder Sprachelemente zu sein, die — genauso wie der Traum – keinerlei Realitätscharakter für sich in Anspruch nehmen können, was er auch in der expliziten Abwertung „nur ein Traum“ zum Ausdruck bringt. Auch Christoph zieht diese Konsequenz in Betracht: Nüchtern stellt er fest, dass

der ganze dritte Absatz dann net stimmt, weil da steht ja * reite auf einem einem Flü/ ** [XY: Flügelpferd] Flügelpferd über den Mohnfeld, wo * der Traum wächst [L: mhm]. Des stimmt ja alles net. [178/9 (3,1)]

Jedoch bildet sich im Verlauf der Gespräche ein Umdenken ab: Die Klasse bemerkt allmählich, dass das Gedicht einem Konstruktionsprinzip folgen könnte, das dem Traumgeschehen als Ort des Unmöglichen ähnelt, sodass über das Gedicht als Traum nach und nach auch nicht mehr – wie in Marcos Beitrag [129/8 (3,1)] – abwertend gesprochen wird. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Flügelpferd hält schließlich auch Jakob [152/7 (3,l)] fest:

Es würde die schon geben * bloß nicht in Wirklichkeit * [L: aha] [Cecilia: ja die die] [L: Moment] * die gibt s eigentlich nur im Traum.

Im Traum meinst du? [L 153/72]

Oder in Fantasie oder auf jeden Fall nicht in äh * in Wirklichkeit [Cecilia: äh oder in]. [Jakob 154/8]

Es ist anzunehmen, dass die Textdetektive gerne weiterhin einem binären Entweder-Oder-Denken folgen würden, in dem Fantasie und Traum auf der einen Seite und Wirklichkeit auf der anderen Seite einander unverbunden gegenüberstehen. Deshalb scheint die semantisch-thematische Alteritätserfahrung als ein Dazwischen denkbar, als eine ästhetische Erfahrung, deren Bedeutsamkeit die Schülerinnen und Schüler unbewusst wahrzunehmen scheinen, die sie aber womöglich noch nicht verorten können. Das Gedicht negiert eindeutige Bedeutungszuschreibungen, indem poetische und auch realistische Textelemente unvermittelt aufeinandertreffen, was nicht als Manko des Verstehensprozesses gedacht werden darf. Im Gegenteil: Der Text legt diese Spuren selbst immer wieder, wenn er mit Metaphern spielt, die auf dem schmalen Grat zwischen einem poetischen und einem pragmatischen Wort- und Sprachgebrauch balancieren, um die Wahl einer gezielten Deutungsstrategie – poetologisch im Sinne eines Traums oder kausallogisch im Sinne der Wirklichkeit – zu erschweren. Die gesprächsförmige Auseinandersetzung mit dem Gedicht muss vor dem Entwicklungsstand der Lernenden deshalb immer auch als komplexes Spiel gedacht werden, dessen Regeln zunächst vom Text, nicht von den Rezipienten vorgegeben werden: Das Gedicht spielt in seiner Machart immer wieder beide Rezeptionsstrategien zugleich an, sodass die gesprächsförmige Auseinandersetzung den Sprang in die semantische Alteritätserfahrung vollziehen kann. Und sie vollzieht sich deshalb in besonderer Intensität, weil die Schülerinnen und Schüler gerade durch die wechselseitigen Anstöße nur noch situativ annehmen können, dass das Gedicht von realen Ereignissen handelt, die vom außertextuellen Standpunkt vollends erklärt werden können – die Textdetektive erfahren die Alterität des Textes. Die semantische Alterität des Textes blitzt also immer wieder auf, indem sie den außertextuellen Standpunkt stört, weil in ihm das Eigenrecht der Poetizität sowie die Loslösung der Sprache von ihrer denotativen Bedeutung nicht erkannt und vollzogen werden können.

Dass die außertextuellen Rezeptionsmodi jedoch keinesfalls statisch, sondern eher beweglich und wechselhaft sind, zeigt sich immer wieder in den Gesprächsverläufen. Nicht selten wird zunächst der außertextuelle Standpunkt klar markiert und dann durch andere Beiträge mehr infrage gestellt als gesichert. Marco, der sich gegen die im Text konstituierte Welt bislang durchaus lautstark wehrte, scheint schon einige Beiträge später den außer-textuellen Standpunkt selbst zu relativieren, wenn er im Anschluss an Lenas Beitrag eine überaus wichtige Deutung einbringt, deren erklärendes und irritierendes Potential zugleich in den gesprächsförmigen Prozess einfließt:

Für die manchen existieren se SCHON, die dran GLAUben, für die in der Fantasie leben sie ja auch [L: glaubst du dran?]. Nein. [Marco 166/10 (3,1)]

Marcos Beitrag hebt auf die Imaginationskraft der Rezipienten des Gedichts ab und folgt zugleich einer wichtigen Bedeutungslinie, die der Text vor allem im letzten Vers auch markiert: Im Spiel mit den Traumbällen, die das lyrische Subjekt dem Rezipienten zuwirft, klingt auf der konnotativen Ebene des Verses auch Marcos Deutungshypothese an. Der Rezipient, der sich auf die Sprache des Textes einlassen soll, könnte in der letzten Strophe direkt angesprochen werden. Marco scheint den Appell des Textes an den Leser, sich im Rezeptionsprozess auf die poetische Welt einzulassen, wahrgenommen zu haben. Durch die Horizonterweiterung im Gespräch könnte er die Erfahrung gemacht haben, dass der Standpunkt ausschlaggebend ist, von dem aus das Gedicht rezipiert wird. Er deutet an, dass die Anerkennung der Existenz des Flügelpferdes mit der Überschreitung der außertextuellen Wirklichkeit einhergeht, was er nachvollziehen kann, wozu er aber gegenwärtig noch nicht bereit ist. Kurze Zeit später spricht Marco erneut zur Gruppe:

ALle haben auch schon andere Glauben. Manche glauben an Geister, manche glauben an Pferde mit Flügel oder Einhörner oder so Gestalten [L: mhm]. Jeder glaubt immer was anderes. [Marco 190/12 (3,1)]

Auf einmal lohnt sich für ihn die Beschäftigung mit dem Text, weil

da kann ja jeder seiner Phantasie freien Lauf lassen [L: mhm]. Man sollte die Menschen denken lassen, was sie wollen, es geht ja nicht um sie * um die anderen eigentlich. [Marco 192/13 (3,l)]

Viele Textdetektive der dritten Klassen scheinen wahrzunehmen, dass das Gedicht nicht vor dem Hintergrund der Wirklichkeit rezipiert werden kann, weil sie bemerken, dass sich die Bedeutungsebenen des Gedichts dem kausallogischen Denken verschließen. Vielleicht hat auch Luisa heraus-gefunden, dass die Sprache des Textes nicht pragmatischen, sondern literarischen Mustern folgt, die über die wörtliche, eigentliche Bedeutung hinaus-weisen. Wenn sie feststellt, dass das Gedicht „ja nicht über WAHre Sachen sein (muss)“ [134/18 (4,2)] oder wenn Linda bemerkt, dass das Gedicht „ein bisschen ver/verschlüsselt (ist) die letzten beiden also […] das ist ein bisschen verSCHLÜSselt der der letzte Absatz“ [Linda 139/22 (4,l)], dann könnten sie damit die Erfahrung zum Ausdruck bringen, dass das rationale Schlussfolgern beim gemeinsamen Spurenlesen an seine Grenzen stößt.

 

Fußnote:

[1] An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei den Schülerinnen und Schülern bedanken, mit denen ich Gespräche zum Gedicht Zirkuskind führen konnte. Die Namen wurden verändert und anonymisiert. Ich bedanke mich außerdem sehr herzlich bei Gerhard Härle und Marcus Steinbrenner, mit denen ich mich über didaktische und methodische Überlegungen zum Vorgehen beraten konnte.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=2055

 

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