Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Heide: Ja also ich find, wenn man das Wort Geschichte hört, da denkt man jetzt erst eher so an die Römer oder so/
Diskussionsleiter: mh
Heide: aber ich find eigentlich das interessanter so jetzt mit/so unser Jahrhundert/
Achim: greiflich/
Heide: weit/
Achim: greifbarer/die greifbare Vergangenheit/
Heide: ja, weil man hat dann noch so viele Zeichen von und noch so Verbindungen und so Erzählungen von den Großeltern oder so. (Z.
110-121)

Das Wort Geschichte weckt bei Heide Assoziationen, die um gängige historische Unterrichtsthemen wie etwa die römische Antike kreisen. Interessanter als diese konventionellen Bereiche des schulischen Lehrplans ist jedoch, so heißt es, das eigene Jahrhundert. Achim wirft hier zunächst das Wort „greiflich“ ein, präzisiert sodann mit der Formulierung „greifbarer/die greifbare Vergangenheit“.

Gegenüber der Römerzeit ist das eigene Jahrhundert also noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe, eben zum Greifen nah, womit eine Verwandtschaft der Lebensform und Lebenspraxis gemeint ist. Heide verdeutlicht dies, indem sie auf die noch bestehenden Zeichen verweist, auf direkte Verbindungen und die Erzählungen der Großeltern. Sie deutet an, dass es noch Vieles in ihrer Umgebung gibt, das vergangene Geschehnisse aus dem 20. Jahrhundert repräsentiert. Außerdem gibt es noch „Verbindungen“, angefangen bei den verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Angehörigen der eigenen Familie. Dadurch, dass diese von ihrer eigenen Vergangenheit erzählen, bleiben auch die Jüngeren eng mit dieser „greifbaren“ Vergangenheit verbunden. Der Kontrast zu den üblicherweise mit Geschichte assoziierten Themen ist deutlich. Jemanden, der die „Römerzeit“ miterlebt hätte und uns darüber Geschichten erzählen könnte, kennen wir nicht. Das Wissen über diese Zeit ist längst eine Angelegenheit des kulturellen Gedächtnisses, während etwa der Zweite Weltkrieg oder die Nachkriegszeit auf der Grundlage des kommunikativen Gedächtnisses, das gemeinhin eine Zeitspanne von 80 bis 100 Jahren umfasst erinnert wird und demzufolge mit Erlebnissen signifikanter Anderer, zu denen man unter Umständen sehr persönliche Beziehungen unterhält, verknüpft bleibt.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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