Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Miriam: Ich stell mir auch oft vor was Leute, die jetzt hundert Jahre später leben als wir, was die dann über uns denken. (Z.306-308)

Miriam nimmt mit dieser Äußerung eine komplexe gedankliche Operation vor, die nicht nur die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit vorwegnimmt, sondern auch die evaluative Perspektive und das Urteil derer ins Spiel bringt, die in ferner Zeit auf uns Heutige und unsere Welt zurückblicken werden. Auch unsere Tage werden dereinst ein Gegenstand historischen Verstehens sein. Mit dieser Konstruktion unterstellt sie keineswegs bloß Selbstverständlichkeiten: ihre Aussage impliziert die Vorstellung einer Kontinuität historischen Interesses – nicht zuletzt an der Zeit, in der Miriam selbst lebt. Im artikulierten alltagsweltlichen Geschichtsbewusstsein ist ein „Ende der Geschichte“ vorläufig nicht vorgesehen. Miriams Äußerung beinhaltet auch den Gedanken der Geschichtlichkeit der Geschichte: unsere Gegenwart wird in hundert Jahren vergangen sein und mit den Augen von Anderen, deren geschichtlicher Abstand nicht nur ein zeitlicher  ist, sondern ein Verhältnis partiell differenter Lebensformen impliziert. Was uns vertraut und selbstverständlich erscheint, wird in hundert Jahren womöglich anders aufgefasst und beurteilt. Wandel und Veränderung und deren Antizipation lassen die eigene geschichtliche Existenz als eine Möglichkeit erscheinen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird.

Wenige Zeilen später äußert Heide lapidar einen Satz, der deutlich macht, dass den Jugendlichen durchaus bewusst ist, dass Geschichte nicht allein eine Sache der Vergangenheit ist, sondern (in ihrer ohnehin evidenten Gegenwartsgebundenheit) auch eine weitere Zeitdimension umfasst, nämlich die der Zukunft:

Heide: Ja, also ich find, ähm, Zukunft gehört ja auch zu der Geschichte. (Z.331 f.)

Damit stimmt das Denken und Sprechen der hier zu Wort kommenden Gymnasiasten nahtlos mit jenen wissenschaftlichen Definitionen überein, die das Geschichtsbewusstsein als eine mentale Kompetenz begreifen, in der es um den Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive geht (JEISMANN 1988). Dabei wird, was als Zeitdimension der Zukunft in die Konstruktion und Reflexion von Geschichte und geschichtlicher Praxis einbezogen wird, aus unterschiedlichen Perspektiven – aus der eigenen und aus fremden Perspektiven, etwa derjenigen zukünftiger Generationen – thematisiert. Die Jugendlichen sind weit davon entfernt, Geschichte als ein für die Zukunft bedeutungsloses Archiv zu betrachten, und umgekehrt sehen sie die kognitive und praktische Relevanz der antizipierten Zukunft für die Thematisierung der Vergangenheit.

Neben der Unterscheidung und Relationierung der temporalen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gliedern die Schüler „Geschichte“ noch in einer anderen Hinsicht, indem sie gewissermaßen verschiedene „Abteilungen“ oder „Teildisziplinen“ der Historie aufmachen. Wie aus Tabelle 8 ersichtlich ist,  gilt den befragten Jugendlichen Geschichte nämlich keineswegs allein als Menschheitsgeschichte oder gar bloß als die Geschichte wichtiger historischer Figuren oder Kollektive. Vielmehr wird deutlich, dass die Forschungspartner die Geschichte ihrer jeweils eigenen Familie in einen historischen Kontext stellen und sie die Familiengeschichte selbst als historisch (vermittelt) begreifen. Dasselbe trifft für die eigene Person zu, der man sich zum einen rekonstruktiv aus der Perspektive des Heranwachsenden in bezug auf vergangene biographische Phasen – etwa die eigene frühe Kindheit – über die mit der Mutter oder den Geschwistern betrachteten Familienalben nähern kann, zum anderen über bloße Erzählungen dieser Zeit durch die Eltern, die einem damit erst verfügbar wird und die es in das eigene Selbstbild zu integrieren gilt. Außerdem bleibt der historische Blick der Untersuchungsteilnehmer nicht auf den Menschen und dessen Geschichte beschränkt, sondern erstreckt sich ebenso auf die Geschichte der nicht-menschlichen Natur.

Eine Differenz schließlich, die keine weitere Unterkategorie eröffnet, sondern für all die genannten kategorialen Bestimmungen von Bedeutung ist, ist die von den Befragten selbst angedeutete zwischen Geschichte als dem Gesamt dessen, was empirisch vor einem aktuellen Zeitpunkt geschehen ist, und Geschichte als denjenigen vergangenen Ereignissen, denen Bedeutung zugesprochen werden kann und die sie damit allererst zu historischen Ereignissen machen.

Literaturangabe:

Jeismann, Karl-Ernst (1988). Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In Gerhard Schneider (Hrsg.), Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen (S.1-24). Pfaffenweiler: Centaurus.

 
Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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