Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Sportunterricht in einer sechsten Mädchenklasse. Die Lehrerin steht in der Hallenmitte und hält Parteibänder und zwei Bälle im Arm. Die Schülerinnen sind locker um sie versammelt, einige davon mit größerem Abstand.
L: (…) Das haben wir in der letzten Spielstunde gemacht mit zwei Gruppen. Ihr sollt die Gruppen selber zusammenstellen, bitte.
Noch während die Lehrerin spricht, laufen einige Mädchen schnell an die Stirnseite der Halle. Sie rufen dabei: „Ja, ja!“ Die anderen folgen in verschiedenem Tempo. Ein Mädchen schlendert als letzte zu der Gruppe, die sich inzwischen zu einem Haufen zusammengedrängt hat. Die Lehrerin sieht den Mädchen zunächst zu, legt nachdenklich eine Hand an ihr Gesicht und geht dann ebenfalls zur Stirnseite der Halle.
Die Schülerinnen rufen ihr zu: „Wir wollen lieber wählen! Wir wollen wählen!“
Eine Schülerin zeigt auf die Lehrerin und sagt: „Wir wählen Sie!“
Die anderen jubeln und klatschen.
Erste Auslegung
Die Szene spielt zu Beginn einer Sportstunde, und dennoch scheint es so, als hätten wir nicht den Beginn, denn die Schülerinnen reagieren auf die Äußerung der Lehrerin in einer Weise, die darauf schließen lässt, dass die vorigen Stunden schon bestimmte Verhaltensweisen angebahnt haben.
Die erste Frage, die aufkommt, gilt der „Flucht“ der Mädchen zur Stirnseite der Halle. Warum löst die Lehrerin mit ihrer Ankündigung, dass die Schülerinnen selber zwei Gruppen bilden sollen, eine solche Reaktion aus? Mannschaftsbildungen sind im Sportunterricht häufig problematisch, da sie die Beziehungen innerhalb einer Lerngruppe betreffen. Ist der Lauf der Mädchen tatsächlich eine Flucht? Oder gibt es ein Ritual, dass Gruppenaufteilungen immer dort an der Stirnseite stattfinden? Ist vielleicht eine Meinungsführerin zuerst losgelaufen und hat die anderen im wahrsten Sinn des Wortes zum Mitlaufen bewegt?
Es könnte sein, dass zunächst diejenigen folgen, die der Meinungsführerin nahe stehen. Das verschiedene Tempo, mit dem sich die Schülerinnen nähern, könnte dann symbolisieren, wie stark sie sich in die Gruppe integriert fühlen bzw. wie sehr sie in die Gruppe integriert sein möchten.
Ein Indiz zur Deutung sehe ich in dem Ausruf der Schülerinnen: „Wir wollen lieber wählen!“ Es scheint so, dass die Mädchen lieber auf ein Verfahren zurückgreifen wollen, das den geregelten Ablauf der Gruppenbildung sichert. Auch wenn sie sich weiterhin für und gegen bestimmte Personen entscheiden müssten, so erleichtert vielleicht der ritualisierte Charakter der Mannschaftswahl ein solches Verhalten. Im anderen Fall der frei verhandelten Mannschaftseinteilung könnte es zu Schwierigkeiten kommen, nach welchen Kriterien die Gruppen gebildet werden sollen. Und außerdem: wer genau diese Entscheidung treffen soll. Die Situation könnte unübersichtlich und unangenehm werden. Indem die Schülerinnen eine Mannschaftswahl fordern, weichen sie der „Bedrohung“ aus, ihre Gruppenstruktur offen legen zu müssen. Die Aufforderung der Lehrerin hätte also eine Flucht ausgelöst, mit der die Mädchen möglichen Konflikten aus dem Weg gehen wollen.
Eine andere Deutungsmöglichkeit wäre die, dass anfangs einige im Gruppengefüge hochstehende Mädchen losgestürmt sind, um schon einmal eine der beiden Mannschaften zu bilden, dass jedoch alle anderen folgten, um nicht ausgeschlossen oder als die nicht Erwünschten zu erscheinen. Dann wäre genauer zu untersuchen, was es bedeutet, das „wir“ wählen wollen. Für wen steht das „Wir“? Stellvertretend für die ganze Gruppe oder nur für einen Teil? Da das Dokument darüber keine genaue Aussage zulässt, hilft nur ein Blick auf das Folgende weiter.
Neben der „Flucht“ zu Beginn ist der Ausruf eines Mädchens besonders bemerkenswert: „Wir wählen Sie!“ Was bedeutet das? Dass die Sportlehrerin mitspielen soll? Dass die Mädchen, die in einem Klumpen zusammenstehen, die Lehrerin einbeziehen wollen? Dass sie eine von ihnen sein soll? Offensichtlich gefällt allen Schülerinnen diese Idee, denn sie jubeln und klatschen. Nachdem sich die Mädchen zunächst gewehrt haben, die Gruppen so zu bilden, wie die Lehrerin es verlangt hat, gehen sie nun noch einen Schritt weiter. Entweder ist „Wahl“ der Lehrerin ein Anschmiegen an ihre Autorität. Dann soll die Lehrerin vielleicht beschwichtigt werden. Die – vermutlich nicht bewusste – Strategie der Schülerinnen hieße dann so: „Wir widersetzen uns zwar ihrer Aufforderung, aber dafür mögen wir Sie so sehr, dass wir gerne mit Ihnen spielen möchten.“ Oder es handelt sich hier um eine subtile Sabotage der Absichten der Lehrerin, mit der Strategie: „Wir lassen uns nicht dazu zwingen, unsere Gruppe zu sprengen. Wenn überhaupt, dann wählen wir. Um gleich Fakten zu schaffen beginnen wir damit, Sie zu wählen.“ Im Übrigen könnte die Wahl der Lehrerin auch darauf hindeuten, dass die Distanz zu ihr verringert werden soll. Oder geht es gar darum, den Status der Lehrerin in aller Freundlichkeit zu untergraben? Zumindest stößt die Äußerung der einen Schülerin auf die Zustimmung der gesamten Gruppe. Da noch keine zwei Parteien bestehen, schließe ich aus, dass sich die Schülerin einen Vorteil beim kommenden Spiel verschaffen will. Wenn die Lehrerin als Verstärkung einer Mannschaft gewählt werden würde, machte es keinen Sinn, dass alle Schülerinnen klatschen und jubeln.
Erweiterte Auslegung
Hat man nun die Szene als Ausdruck von Harmoniebedürfnis zu deuten oder als subversiven Akt? In der ersten Interpretation habe ich den Aspekt des Geschlechts noch nicht als Deutungshilfe herangezogen. Kann diese Kategorie dazu beitragen, die Situation besser zu verstehen?
Ohne hinter den Konstruktivismus zurückzufallen und einen männlichen und weiblichen Sozialcharakter entwerfen zu wollen – wovor Bilden (1998, S. 279) warnt – kann man doch bestimmte Verhaltensweisen auf das Geschlecht der an der Situation Beteiligten zurückführen. Gerade in Interaktionen wird das Geschlecht als soziale Kategorie bedeutsam, ja durch soziale Praktiken immer wieder neu erzeugt (vgl. Bilden, 1998, S. 280). So kann man einmal in peer groups beobachten, dass Kinder und Jugendliche sich untereinander rigoros im Sinne geschlechtstypischen Verhaltens sozialisieren (ebd., S. 287).
Bis zur Schulzeit bilden sich in Mädchen- und in Jungengruppen unterschiedliche Interaktionsstile heraus. Während die Jungen sich eher hierarchisch organisieren, funktionieren Mädchengruppen eher auf dem Prinzip der Gleichheit (vgl. Bilden, 1998, S. 287). Mädchen tragen in ihren Gruppen ungern offen Konflikte aus. In Jungengruppen dagegen spielt das Streben nach Dominanz eine wichtige Rolle. Passend dazu finden sich bei Jungen mehr konkurrenzorientierte Spiele; Mädchen bevorzugen kooperative Spiele. Gleichzeitig nehmen sie – das ist ein Allgemeinplatz der Geschlechterdebatte – weniger Raum ein als Jungen.
Das Verhältnis zu erwachsenen Personen wird ebenfalls unterschiedlich beschrieben: Mädchen verhalten sich eher kooperativ zu Autoritätspersonen; Jungen dagegen neigen eher dazu, in Opposition zu gehen.
Dementsprechend kann man die vorliegende Szene so deuten, dass die Mädchen sich um konfliktfreie Beziehungen sowohl untereinander als auch zur Lehrerin bemühen. Die Lehrerin verstört sie mit ihrer Aufforderung, zwei Gruppen zusammenzustellen. Da sie nicht hierarchisch organisiert sind, gibt es niemanden, der die Gruppeneinteilung initiiert. Das Wahlverfahren, das die Mädchen fordern, entspricht eher ihrem Bedürfnis nach Gleichheit. Um jedoch nicht in Opposition zur Lehrerin zu geraten, versuchen sie, sie „ins Boot“ zu holen. Der eng gedrängte Haufen, den die Mädchen nach ihrer Flucht bilden, symbolisiert den Zusammenhalt der Gruppe – eine Jungengruppe in solcher Formation freiwillig zu finden, dürfte sehr viel unwahrscheinlicher sein.
Eine zweite Spur der Interpretation könnte man verfolgen, wenn man den überraschenden Ortswechsel der Schülerinnen zu interpretieren versucht. Zwar findet man in der Sporthalle nicht die rein räumliche Anordnung einer Vorder- und Hinter-bühne, aber nach Goffman (2000, S. 118) kann jeder Ort durch das Verhalten der Beteiligten zu einer Hinterbühne werden. Während auf der Vorderbühne die Anforderungen der Institution entscheidend sind, denen sich die Individuen nur schwerlich entziehen können, zeichnet sich die Hinterbühne dadurch aus, dass man hier die deterministischen Ansprüche der Vorderbühne abzupuffern versucht (vgl. Goffman, 2000, S. 106). „Im Allgemeinen lässt das Verhalten auf der Hinterbühne unbedeutendere Handlungen zu, die man leicht als symptomatisch für Vertraulichkeit und mangelnden Respekt vor anderen Anwesenden und dem Ort auslegen könnte. (…) Hier ist anzumerken, dass das Verhalten auf der Hinterbühne Eigenschaften aufweist, die Psychologen als .Regression’ bezeichnen“ (Goffman, 2000, S. 118). Goffman (1971, S. 48) geht weiterhin davon aus, dass in Interaktionen ein Großteil der Aktivitäten darauf verwandt wird, die Situation und auch nicht vorher gesehene Ereignisse so zu bewältigen, dass die Beziehungen der Beteiligten nicht gestört werden. So sagt er, dass eine wesentliche Verpflichtung in vielen Sozialbeziehungen darin bestehe, dass alle Mitglieder das vorhandene Image der anderen Mitglieder unterstützen (ebd., S. 49).
Zurück zu unserem Fall: Mit Goffman könnte man den Ortswechsel der Mädchen vielleicht als Wechsel von der Vorderbühne des Unterrichts auf die Hinterbühne deuten. Da sie sich den Ansprüchen der Lehrerin, der Autorität der Institution, entziehen wollen, laufen sie zunächst vom Versammlungsort mitten in der Halle an die mehr geschützte Stirnseite der Halle. Dort bilden sie einen eng gedrängten Haufen – was man als regressive Handlung auslegen könnte, die typisch für das Verhalten auf Hinterbühnen ist. Der Wechsel der Bühne dient dazu, die Beziehungen innerhalb der Gruppe der Mädchen zu schützen; die Schülerinnen sorgen also durch die Verweigerung der Gruppenbildung dafür, dass das Image einzelner Schülerinnen nicht angetastet wird. Sie stellen ihre Beziehungen über die Anforderungen der Institution Schule, die durch die Lehrerin verkörpert werden. Da die Lehrerin den Mädchen auf die Hinterbühne folgt, nachdem sie zunächst etwas ratlos wirkt, wird sie von den Schülerinnen fast wie als eine der ihren behandelt. „Wir wählen Sie!“ Dieser Satz kann deshalb fallen, weil die Hinterbühne ein anderes Verhalten erlaubt als die Vorderbühne.
Literaturangaben:
Bilden, H. (1998). Geschlechtsspezifische Sozialisation. In K. Hurrelmann & D. Ulich (Hrsg.), Handbuch Sozialisationsforschung (S.Aufl.) (S. 279-301). Weinheim u.a.: Beltz.
Goffman, E. (1971). Interaktionsrituale. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Goffman, E. (2000). Wir alle spielen Theater (8. Aufl.; Original 1959). München: Piper.
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