Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

 

„Das möchte ich nich’sehen.“

Die Schüler einer Gewerbeschule spielen Badminton im Sportunterricht. Um das „Stechen am Netz“ zu verbessern, läßt der Lehrer eine Übung durchführen. Der erste Partner soll den Badmintonball so über das Netz werfen, daß er ganz knapp dahinter herunterfällt, während der zweite Partner diesen Ball mit Ausfallschritt flach über das Netz zurückspielen soll. Seine Bewegung soll also einem Angriffsstoß beim Fechten ähneln. Die Schüler scheinen eher lustlos bei der Sache zu sein: von sechs Paaren führen nur zwei, in deren Nähe der Lehrer steht, die Übung so aus, wie sie gemeint ist. Die anderen „spielen“ entweder mit allen verfügbaren Schlägen, bis der Ball tot ist, oder führen die Übung nur pro forma aus. Der erste Partner wirft den Ball hoch in die Spielfeldmitte, so daß der zweite, der eigentlich das Stechen üben soll, bequem stehen bleiben kann. Eine andere bewegungsarme Variante ist die, daß der zweite Partner von vornherein ganz dicht am Netz steht und dort ohne Ausfallschritt die kurz geworfenen Bälle spielt. Der Lehrer unterbricht die Übung.

L: (pfeift) Mal Ballruhe!

Einige Schüler spielen weiter.

L: Hallo! Viele gehen noch nich‘ richtig wieder in die Zentralposition zurück. Denkt dadran, nich‘ so statisch da ‚rum – kleinen Schritt und wieder zurück (zeigt die bewegungsarme Variante der Schüler). Das möchte ich nich‘ sehen. Ich möchte n richtiges Stechen sehen (zeigt großen Ausfallschritt) und wieder zurück. Impulsiv muß es sein. Jetzt die nächste Aufgabe – halt, noch nich‘ spielen! – n bißchen taktischer einzuwerfen. Also auch ma‘ links, daß er ’n bißchen schräg nach links muß (zeigt Ausfallschritt nach links vorn) oder nach rechts, daß man ’n bißchen am Netz hin und her sich bewegt, und nich‘ nur ganz knapp auf eine Stelle hinters Netz. Nich‘ – anwerfen, bitte, den Ball. Ja, bitte. Noch mal konzentriert jetzt diese Übung.

Interpretation

Erste Auslegung

Wenn man sich auf die sichtbaren Fakten, sozusagen auf die Oberfläche des Unterrichts, beschränkt, könnte die Beschreibung der Begebenheit so lauten: Die Schüler führen eine Übung schlecht aus. Der Lehrer korrigiert. Nun steckt natürlich mehr in dem Fall als nur äußerlich beobachtbares Verhalten. Warum machen die Schüler nicht so mit, wie der Lehrer es wünscht? Im Gegensatz zu den Mädchen aus dem Hochsprung-Fall entziehen sie sich nicht der Situation, indem sie sich gar nicht mehr bewegen. Sie tun etwas anderes als das Verlangte. Entweder funktionieren sie die bewegungsintensive Übung um, so daß sie sich nicht viel bewegen müssen, oder sie spielen wettkampfgemäß Badminton. Es ist ganz offensichtlich, daß sie keine Lust zu der Übung haben. Während manche Paare noch den Schein des Übens aufrecht erhalten, zeigen andere, was sie eigentlich unter Badminton verstehen und wozu sie offensichtlich Lust haben: zu dem Spiel an sich. Die Absicht des Lehrers ist dagegen, eine Schlagtechnik des Badminton zu vermitteln und zu verbessern – ein durchaus legitimes Anliegen. Er verhält sich demnach folgerichtig, als er die Übung unterbricht, um seine Sollensvorstellungen zu bekräftigen. Es ist unwahrscheinlich, daß die Schüler nicht verstanden haben, wie das Stechen am Netz nach der Auflassung des Lehrers aussehen soll. Ebenso wenig mangelt es ihnen vermutlich an den konditioneilen oder koordinativen Voraussetzungen. Obwohl der Lehrer noch einmal den Istwert, die „falsche“ Bewegung der Schüler, und den Sollwert wiederholt, kann man aus seinen Formulierungen schließen, daß auch er die Situation nicht ausschließlich als Verbesserung von mißlungenen Bewegungen deutet. Er sagt: „Das möchte ich nich‘ sehen. Ich möchte ’n richtiges Stechen sehen.“ Damit macht er die Ausführung der Bewegung quasi zu seinem persönlichen Anliegen. Anders ausgedrückt: er versucht, seine Autorität ins Spiel zu bringen, um die Schüler zur „richtigen“ Bewegung zu veranlassen. Er appelliert dann zusätzlich an die Konzentration der Schüler; eine Übung konzentriert auszuführen heißt hier offensichtlich sich Mühe geben, sich den vom Lehrer gesetzten Normen anpassen.

Wenn die Normen der Schüler aber nicht mit denen des Lehrers übereinstimmen – und das ist hier wohl der Fall – dann löst dies einen Konflikt aus. Er kommt in der geschilderten Situation nicht offen zur Sprache, sondern drückt sich auf Schülerseite durch ihr (Bewegungs-)Verhalten aus. Der Lehrer reagiert darauf, indem auch er scheinbar auf der oberflächlichen Ebene der mangelhaften Bewegungen bleibt. Scheinbar deshalb, weil seine verbale Korrektur vermischt ist mit der Aussage, daß er die Bewegung so und nicht anders sehen möchte. Wäre er auf der rein sachlichen Ebene geblieben, hätte er z.B. darauf verweisen können, wie das Stechen am Netz im Spiel eingesetzt wird, nämlich daß es die Funktion hat, eine defensive Lage in einen eigenen Angriff umzuwandeln. Auf diese Weise hätte er nur die Zweckrationalität der Technik beansprucht, ohne als persönlicher Verteidiger einer bestimmten Bewegungsausführung aufzutreten. Daß er aber – ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt – Sach- und Beziehungsaspekt verbindet, weist darauf hin, daß sich hinter der Bewegungskorrektur etwas anderes verbirgt: sie ist eigentlich Ausdruck eines Disziplinkonfliktes. Da es unmöglich ist, jemanden zu einer richtigen Bewegung zu zwingen, muß der Lehrer darauf hoffen, daß sein Appell die Schüler genügend beeindruckt, um sie an ihre „Übungsverpflichtung“ zu erinnern. Da der Lehrer an der Oberfläche des Bewegungsverhaltens bleibt, berührt er mit seiner Korrektur nur die Symptome, nicht aber die Ursachen (vgl. [WOLTERS 1999]). Wie die Ursachen aus unterrichtlicher Sicht betrachtet werden können, kommt im folgenden zur Sprache.

Erweiterte Auslegung

Zwar haben wir hier keinen spektakulären Fall von Disziplinschwierigkeiten, aber einen typischen. Es gibt keinen offenen Streit, keinen tatsächlichen Abbruch des Unterrichts oder sonstige Eskalationen. Die Reaktion des Lehrers jedoch – auf den ersten Blick eine Korrektur – zeigt, daß er das Verhalten der Schüler als störend empfindet. Als Unterrichtsstörungen kann man nach FUNKE (1991, S. 13) solche Handlungen der Lernenden auffassen, die man nicht mehr in den Rahmen des vom Lehrer intendierten Unterrichtsgeschehens einbeziehen kann. Da die Schüler hier die Übung des Lehrers entweder nur oberflächlich ausführen oder sich ganz anders beschäftigen und somit die Intention des Lehrers boykottieren, kann die Situation als Störung gelten. „Stören ist (…) als ein Weghören der Schüler von der laufenden Sen-dung zu verstehen. Wer nicht nur zuhören, sondern auch weghören kann, besitzt aber einen selbstbestimmten Handlungsraum gegenüber der dargebotenen Situation, einen nicht hintergehbaren, subjektiven Freiheitsspielraum“ (FUNKE, 1991, S. 13).

Normalerweise wird dieser Spielraum nicht bewußt, da die Schülerinnen und Schüler ihr Einverständnis mit dem Unterricht des Lehrers durch Mitmachen bekunden (ebd., S. 13). VOLKAMER (1987) hält es aber für verkürzt, Störungen allein auf Schülerseite zu suchen. Erstens ist die Frage zu klären, wer überhaupt wen stört (ebd., S. 95). Wann sich Lehrende durch Schülerverhalten gestört fühlen, ist nämlich in hohem Maße subjektiv. Da sie in ihrem Unterricht auf die Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler angewiesen sind, werden Störungen schnell als belastend und gegen die eigene Person gerichtet empfunden (vgl. VOLKAMER, 1987, S. 95; VOLKAMER & ZIMMER, 1982, S. 120; MIETHLING, 1993, S. 18). Dadurch wird eine rationale und sachangemessene Lösung des Problems erschwert. Andersherum können sich auch Schülerinnen und Schüler von Lehrenden gestört fühlen, z.B. wenn diese „schlecht“ unterrichten (vgl. VOLKAMER, 1987, S. 96). Die grundsätzliche Störung liegt aber nach VOLKAMER (1987, S. 96) im System Schule: da sowohl Lehrer als auch Schüler eben nicht freiwillig gemeinsam Sport treiben, entziehen die Schüler sich entweder passiv durch Desinteresse, geringe Mitarbeit und Fehlen oder aktiv durch Stören dem Zwang. (Auch Lehrer haben ihre Strategien, etwa den Unterricht zu spät beginnen, sich nicht vorbereiten etc.) VOLKAMERS Überlegungen enden mit der provokativen Frage, ob Störungen z.T. direkte Folge von Unterricht und von Pädagogisierung seien (ebd., S. 99). Vielleicht sollte man diese Frage an den vorliegenden Fall stellen.

Badminton wird von dem Lehrer für den Unterricht aufbereitet, indem PI eine bestimmte Fertigkeit isoliert üben läßt. Vom Spiel bleibt in diesem Moment nur ein winziger Ausschnitt übrig, der von den Schülern offensichtlich nicht als attraktiv oder sinnvoll angesehen wird. Anstatt des spannungsreichen Spiels sollen sie sich der „langweiligen“ Übung aussetzen.[1] Die Schüler entziehen sich teilweise dem vom Lehrer verordneten Üben. Sie schalten – um FUNKES Ausdruck aufzugreifen – das Übungsprogramm ab oder stellen es zumindest leiser. Die einen wählen ein neues Programm, nämlich Spielen, die anderen haben die Übung so abgeändert, daß sie nicht allzu sehr davon gestört werden. Nicht nur in unserem Fall wehren sich Schülerinnen und Schüler gegen das Üben.

„Das äußere Merkmal des Übens, das Wiederholen, ist nur dann langweilig, wenn etwas von außen gefordert wird, für das keine innere Übungsbereitschaft besteht, wenn es innerlich nur als Wiederholung erfahren wird und nicht als spannender Prozeß des Erwerbens, Erhaltens oder Verbesserns eines Könnens“ (EHNI, 1985 b, S. 16).

Erfährt der Übende sein Tun also als lohnend und nicht nur das Ziel, auf das es ausgerichtet ist, dann liegt der Sinn im Üben selbst (vgl. VOLGER, 1990, S. 73). Idealerweise widmet sich der Übende aus Einsicht und innerem Bedürfnis dem Üben. Da dies im Sportunterricht mit seinen Rahmenbedingungen nur sehr schwer zu erreichen ist, geraten Lehrende immer wieder in die Lage, das Üben gegen den Willen der Schülerinnen und Schüler durchzusetzen. Der Lehrer in unserem Fall versucht, mit einer Bewegungkorrektur äußere Übungsdisziplin herzustellen, weil die Schüler keine innere Übungsbereitschaft zeigen.

Lösungsmöglichkeiten

FIIERDEIS (1977, S. 24-31) sieht drei Möglichkeiten, um Disziplinkonflikte zu lösen. Erstens hätte der Lehrer diskursiv handeln können, d.h. mit den Schüler gemeinsam die Situation interpretieren können, um zu einer Verständigung zu gelangen. Ziel ist es dabei, verbindliche Normen für das Verhalten auszuhandeln. Vielleicht hätte ein Gespräch des Lehrers mit den Schülern unseres Falles dazu geführt, daß man eine Vereinbarung trifft, wieviel Zeit auf Übungen und wieviel auf Spielen verwendet werden soll. Was die Inhalte der Übungen sein sollen, könnte auch gemeinsam festgelegt werden. Sicherlich kostet ein derartiges Vorgehen Zeit, die aber gut investiert ist, wenn dadurch die Mündigkeit der Schüler gefördert und der weitere Unterricht von Störungen befreit werden könnte. Zweitens – und diese Möglichkeit hat der Lehrer ergriffen – kann man quasi technisch handeln, indem man erwünschtes Verhalten verstärkt und unerwünschtes übergeht bzw. sanktioniert. Drittens wäre organisierendes Handeln möglich. Hier ginge es nicht darum, am Verhalten der Lernenden anzusetzen, sondern an den organisatorischen Rahmenbedingungen. Der Lehrer hätte auf dieser Ebene z.B. die Übung verändern können. Um sie spielnäher und attraktiver zu gestalten, könnte Spieler A zunächst einen langen Ball zur Grundlinie spielen und danach einen Drop direkt hinter das Netz. Spieler B wäre dadurch gezwungen, den Ausfallschritt auszuführen. Anschließend könnte, um dem Spielbedürfnis der Schüler nachzukommen, der Ball frei gespielt werden, bis er „tot“ ist. Erst dann beginnt die Übung neu. Anstatt einen Sollwert um des Sollwerts willen zu fordern, hätte der Lehrer mit veränderten Übungsbedingungen vielleicht gar keinen Appell gebraucht, um die Schüler zum Üben zu bewegen.

Fußnote:

[1] Allgemein gilt für schulische Lernsituationen, daß sie künstlich hergestellt sind – dies ist geradezu das Kennzeichen von Schule (vgl. MEYER, 1994, S. 50). RUMPF (1986, S. 16) spricht sogar von einem „Belehrungsreglement“, dem sich Schüler und Lehrer unterwerfen.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

EHNI, H. (1985 b). Üben. Sportpädagogik, 9 (6), 14-23.

FUNKE, J. (1991). Unterricht öffnen – offener unterrichten. Sportpädagogik, 15 (2), 12-18.

HIERDEIS, H. (1977). Disziplinieren. In H. HIERDEIS, J. KNOLL& M. KREJCI, Basiswissen Pädagogik. Bd. 2: Erzieherisches Handeln (S. 13-35). München: Moderne Verlagsgesellschaft.

MEYER, H. (1994). UnterrichtsMethoden I: Theorieband (6. Aufl.). Frankfurt am Main: Cornelsen Verlag Scriptor.

MIETHLING, W.-D. (1993). Unterrichtsstörungen. Sportpädagogik, 17 (5), 14-23.

RUMPF, H. (1986). Die künstliche Schule und das wirkliche Lernen. München: Ehrenwirth.

VOLGER, B. (1990). Lehren von Bewegungen. Ahrensburg: Czwalina.

VOLKAMER, M. (1987). Von der Last mit der Lust im Schulsport. Schorndorf: Hofmann.

VOLKAMER, M. & ZIMMER, R. (1982). Vom Mut, trotzdem Lehrer zu sein. Schorn-dorf: Hofmann.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.