Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

 

„Mehr sollst du gar nicht machen!“

Die Jungen einer 9. Klasse üben den Fosbury-Flop. Die Hochsprunganlage besteht aus zwei aufeinandergelegten Weichböden. Davor befindet sich ein Sprungbrett als Absprunghilfe, die Latte liegt auf einer relativ niedrigen Höhe. Die Jungen sind sehr unterschiedlich entwickelt, was Größe und Kraft angeht. Wahrend die meisten Jungen keine Probleme mit dem Absprung haben und mich oft sehr viel höher als die Latte springen, bremst Christian, ein kleiner, ziemlich schmächtiger Junge, bei zwei Durchgängen hintereinander auf dem Sprungbrett ab und „verweigert“ den Sprung.

L: Nochmal (zeigt auf den Anlauf). Stell‘ dich nochmal an. Versuch‘ abzuspringen? Du?

Christian reagiert nicht und macht auch keinen neuen Versuch, sondern läßt die nächsten vier Durchgänge aus, während derer die Latte auf Verlangen der anderen Jungen höher gelegt wird. Als Christian dann noch einmal anläuft, wiederholt sich dasselbe: kurz vor dem Absprung bricht er die Bewegung ab. Auch der nächste Versuch nimmt denselben Ausgang. Das Sprungbrett wird nun beiseite gestellt, ohne daß dadurch sich etwas an Christians Bewegungsablauf ändert: wieder stoppt er kurz vor dem Absprung ab. Schon beim Anlauf ist zu erkennen, daß er nicht abspringen wird. Als er das zweite Mal ohne Sprungbrett den Versuch abbricht, fordert der Lehrer ihn auf, es noch einmal zu probieren, wobei er die Matte niedriger auflegt. Christian läuft also außerhalb der Reihenfolge an, mit demselben Ergebnis wie immer. Noch zweimal probiert es Christian auf Drängen des Lehrers: Er läuft zögernd an und springt nicht ab. Der Lehrer stellt sich nun neben Christian und zeigt ihm, wie er anlaufen soll, während die übrigen Jungen ungeduldig werden. Äußerungen wie „Nun mach‘ schon!“ werden laut.

L: Wir fangen rechts an, wenn du links abspringen willst, (während er selbst anläuft) Rechts, links (bleibt vor der Matte stehen) und denn springst du über die Latte … (unverständlich)

Christian stellt sich am angegebenen Punkt auf.

L: Rechts, links und dann springst du ab.

Christian macht zwar die geforderten Schritte, aber springt auch diesmal nicht ab.

L: Ja! Und jetzt, ja, gut. Und jetzt springst du auch ab, … (unverständlich, geht im Lärm der wartenden Gruppe unter).

Auch der neuerliche Versuch von Christian endet wie sonst.

L: … rechts, links, und dann…

Derselbe Ablauf wiederholt sich.

L: (während Christian sich abmüht) Rechts, links,…Du stehst jetzt hier (Christian dreht sich zu den anderen Jungen um). Paß auf! (zeigt den Sprung aus zwei Schritten und spricht dabei mit) Rechts, links.

Der Lehrer springt ab und reißt die Latte.

L: (während er die Latte wieder auflegt, zu Christian) Mehr sollst du gar nicht machen. Versuch‘ das mal jetzt: rechts, links, (während Christian anläuft) hoch!

Christian läuft an und springt tatsächlich ab, allerdings ohne jede Chance, die Höhe zu schaffen. Er springt nur nach oben ab, ohne irgendeine andere Teilbewegung des Flops zu machen, reißt die Latte schon beim Absprung herunter und landet im Sitzen auf der Latte.

L: Ja! Das war richtig. Jetzt drehst du dich noch mal so (zeigt die Drehung um die Längsachse), und dann machst du links, rechts, links.

Christian will sich endlich in der Riege hinten anstellen.

L: Christian! Noch einmal, mit drei Schritten.

Christian springt wieder ab, reißt die Latte und fällt steif ganz vorne auf die Matte.

Interpretation

Erste Auslegung

Ist dies überhaupt ein Fall von Bewegungskorrektur? Steht nicht etwas ganz anderes im Vordergrund? Die Szene macht auf mich, die ich sie von außen betrachte, einen beklemmenden Eindruck. Nicht, daß sie mir vollkommen fremd erscheint; nein, sie erinnert mich an andere ähnliche Vorkommnisse, an denen ich als Lehrende mitgewirkt habe. So halte ich es für lohnend, diese Unterrichtssituation zu deuten, obwohl sie auf Anhieb nicht zwingend als Korrektursituation ins Auge fällt. Wenden wir uns den Akteuren der Szene zu: Wie verhalten sich der Lehrer, wie Christian und die anderen Schüler?

Der Lehrer bemüht sich eindeutig, Christians Bewegungsablauf zu verbessern. Nach etlichen Verweigerungen bringt er ihn dazu, doch noch abzuspringen. Kaum ist dieses Ziel erreicht, will der Lehrer Verbesserungen an Christians Bewegung vornehmen; die Drehung um die Längsachse soll nun noch dazukommen. Aus Lehrersicht scheint die Bewegungskorrektur sehr wohl eine Rolle zu spielen. Wie aber stellt sich die Situation für Christian dar? Wir haben zwar keine „Daten“ über seine Innensicht, aber man kann wohl mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß für ihn in dieser Stunde das zweckrationale Bewegungslernen nicht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand. Vielmehr kämpft er mit seiner Angst vor dem Abspringen, die ihn so sehr beschäftigt, daß er vermutlich nicht viel Kapazität für die Erklärungen und Anweisungen des Lehrers übrig hat. Zu Anfang z.B. geht er, ohne irgendeine Reaktion auf die Äußerung des Lehrers zu zeigen, wieder zum Anlauf zurück. Wenn man ihm nicht gerade „Verstocktheit“ unterstellen will, dann liegt die Erklärung nahe, daß die Bemerkung des Lehrers, er solle es nochmal probieren und nun aber abspringen, entweder gar nicht erst zu ihm vorgedrungen ist oder seine Angst vergrößert hat, so daß er dann sogar die nächsten vier Durchgänge ausläßt. In der Zwischenzeit wird die Latte höher gelegt, da die anderen Jungen wohl eine neue Herausforderung brauchen. Es wird nun noch unwahrscheinlicher, daß Christian die Aufgabe erfolgreich bewältigt. Dennoch läuft er zweimal an – um seinen guten Willen zu zeigen, um nicht als Drückeberger zu gelten? Was immer seine Motive für die Versuche gewesen sein mögen, sie enden mit dem Abbruch der Bewegung. Insgesamt „verweigert“ er zehnmal hintereinander. Die wartenden Mitschüler reagieren darauf mit Unruhe, besonders als Christian „bevorzugt“ springen soll. Während der Lehrer sich ausschließlich mit ihm beschäftigt, wird ja die Hochsprunganlage für alle anderen blockiert – daher ist es erklärlich, daß die Jungen, die bislang gerne gesprungen sind, ihren Unmut kundtun. Sie haben wenig Verständnis für Christians Probleme und die Maßnahme des Lehrers, ihn so lange probieren zu lassen, bis er endlich abspringt.

Dennoch scheint sich die Geduld – oder die Hartnäckigkeit? – des Lehrers auszuzahlen. Nach zehn erfolglosen Versuchen springt Christian tatsächlich ab. Allerdings kann der Sprung nicht annähernd als gelungen bezeichnet werden. Es ist in der Tat nicht mehr als ein Absprung, denn danach führt Christian keine einzige Teilbewegung des Flops aus. Wenn man jedoch die Vorgeschichte bedenkt, so muß man diese Bewegung als große Leistung betrachten. Der Lehrer belobigt Christian auch, aber fast noch im gleichen Atemzug verlangt er, daß Christian eine Drehung ausführen solle.

Man kann daraus schließen, daß der Lehrer nicht erkannt hat, daß für Chrstian Angst das beherrschende Thema ist bzw. wenn er es erkannt hat, daß er keine angemessene Reaktion für diesen „Störfaktor“ findet. Er denkt und handelt von der sportmotorischen Sicht her, die nur die Bewegung des Flops im Blick hat. Nun trifft er damit auf die massiven Emotionen desjenigen, der die Bewegung ausführen soll: das Konzept der zweckrationalen Vermittlung hält dafür keine Lösungsmöglichkeiten bereit. So ist denn Christians Absprung kein großartiger Erfolg, den man schlicht anerkennt, weil man mitempfindet, wieviel Überwindung sie gekostet hat, sondern ein mangelhafter Flop, der noch verbessert werden muß. Damit jedoch trifft er die Ebene nicht, auf der sich Christian bewegt (im wahrsten Sinne des Wortes). Wie im Badminton-Fall „doktert“ der Lehrer an Symptomen herum, ohne die Ursachen zu berücksichtigen (vgl. Norm [WOLTERS 1999]). Flankierend könnte man die Norm „Korrigiere mit einem realistischen Ziel“ anführen, denn selbst wenn man die Ursachen der Bewegungshemmung beseitigen könnte, müßte man an Christian wohl niedrigere Anforderungen stellen als es der Lehrer unseres Falles tut. Für mein Empfinden müßte erst einmal die Angst verringert werden, damit überhaupt ein Lernen möglich wird. Ob das allerdings unter den Augen einer ungeduldig wartenden Gruppe von Mitschülern geschehen kann, erscheint mir fraglich.

Erweiterte Auslegung

In der ersten Auslegung habe ich behauptet, „Angst“ sei das zentrale Thema in der beschriebenen Szene. Das läßt sich alltagssprachlich leicht so ausdrücken; was aber sagt die Wissenschaft über Angst und deren Folgen aus? Gibt es Hinweise darauf, wie man mit der Angst umgehen solle?

Um zu beurteilen, wie Lehrende mit Angst im Unterricht umgehen, hat BOISEN (1975, S. 71) einen Fragenkatalog aufgestellt. Die Fragen seien hier sinngemäß zitiert, da sie für die Analyse unserer Hochsprungszene Anhaltspunkte bieten:

– Sind die Äußerungen des Lehrenden angstinduzierend?

– Werden Unterrichtsinhalte gewählt, die angstauslösenden Charakter haben und leicht Bewegungshemmungen hervorrufen?

– Ist die Unterrichts- und Organisationsform angstverursachend?

– Wird auf Angstäußerungen eingegangen?

– Ist der Schwierigkeitsgrad der Bewegungsaufgaben den Fähigkeiten der Lernenden angemessen?

Ich werde nun die Fragen der Reihe nach auf den Fall anzuwenden und zu beantworten suchen.

Auch wenn der Lehrer hauptsächlich auf der sachlichen Ebene bleibt, so deuten seine Äußerungen zumindest an, daß er nicht verstehen kann, warum Christian solche Probleme hat. So sagt er z.B. an einer Stelle, als er den Hochsprung aus kurzem Anlauf vorführt (übrigens eher eine Erschwerung denn eine Erleichterung des Absprungs): „Mehr sollst du gar nicht machen!“ Als sei es nun wirklich nicht zuviel verlangt, rücklings über eine Latte zu springen. Zwar würde ich nicht so weit gehen zu sagen, daß die Äußerungen des Lehrers angstinduzierend seien – aber sie tragen nicht zum Abbau von Christians Angst bei.

Auf die zweite Frage nach dem potentiellen „Angstgehalt“ des Unterrichtsinhalts muß man wohl mit „ja“ antworten, da beim Flop erfahrungsgemäß öfter Absprunghemmungen, die auf Angst zurückzuführen sind, auftreten. Besonders wenn der wettkampfmäßige Sprung über eine Latte verlangt wird, steigt der Angstpegel so sehr, daß die Bewegung abgebrochen wird.88

Die Organisationsform ist eng an die materiellen Bedingungen gebunden. Hier wird an nur einer Anlage gesprungen, d.h. jeder Schüler ist denselben Anforderungen ausgesetzt. Alle springen mit Latte (und nicht etwa mit einer Zauberschnur), alle haben dieselbe Höhe zu überwinden, alle landen auf zwei aufeinander gestapelten Weichböden. Was für die anderen Jungen keine Schwierigkeit darstellt, ist für Christian ein fast unüberwindliches Problem – und doch hätte es mit einer zweiten Anlage relativ einfach gelöst werden können (vorausgesetzt die entsprechenden Geräte sind vorhanden). Zudem soll er springen, während die anderen Jungen warten müssen. So werden diese zu nicht eben wohlwollenden Zuschauern, die neben der vielleicht ursprünglichen Angst vor der Latte und vor Verletzungen noch soziale Ängste hervorrufen können.

Christian äußert seine Angst nicht verbal, aber doch durch sein (Bewegungs-) Verhalten deutlich genug. Der Lehrer reagiert nicht darauf, sondern zieht sich quasi hinter die Form der Bewegung zurück. Allgemein gilt, daß Angst als Gefühl nur im unmittelbaren Erleben gegeben ist, während Außenstehende lediglich aus den äußerlichen Anzeichen auf sie schließen können (vgl. ZIESCHANG, 1979, S. 242). Unter anderem kann sich Angst im Sportunterricht in folgenden Formen äußern (vgl. VORMBROCK, 1982, S. 382): sich zurückziehen in Schweigen, andere in der Reihenfolge vorlassen, ruckhafte, eckige Bewegungen, Zusammenbruch der Bewegung bei der Ausführung und Abbremsen vor der Zielbewegung wie z.B. beim Kastensprung oder eben wie in unserem Fall beim Hochsprung. Oft jedoch scheinen Lehrerinnen und Lehrer diese Anzeichen nicht als Ausdruck von Angst zu deuten, denn die Übereinstimmung zwischen der Eigenbeurteilung der Angst durch die Lernenden und die Einschätzung der Lehrenden von außen ist nach Untersuchungen von SCHWENKMEZGER und HACKFORT (1982, S. 377) zumindest im Gerätturnen sehr gering. So scheint der Lehrer unseres Falles keine Ausnahme zu sein. Was seine Unterrichtsbemühungen angeht, findet sich bei UPPENS (1990) eine Parallele. Er schildert, wie ein Ruderlehrer auf einen ängstlichen Ruderanfänger einzuwirken versucht. Obwohl wir es hier mit Hochsprung und nicht mit Rudern zu tun haben, können doch UPPENS‘ Schlußfolgerungen durchaus als das gemeinsame Allgemeine der beiden so verschieden erscheinenden Situationen angesehen werden.

„Im hier geschilderten Zusammenhang sehen wir in der Fehlerkorrektur eine naheliegende Versuchung, da sie den Lehrer auf das von ihm gelernte und beherrschbare Gebiet der äußeren Bewegungsbeurteilung zurückführt. Er kann sich so aus der unsicheren, eine fortlaufende Interpretation benötigenden Dialogsituation heraushalten und auf das vermeintlich lehrreiche und nützliche Vermitteln der richtigen Bewegungsausführung ausweichen“ (1990, S. 55; Hervorhebung i.O.).

Während die meisten Schüler dieser Gruppe ohne Mühe oder Bedenken den Flop springen, scheint für Christian der Schwierigkeitsgrad zu hoch zu sein. Verläßlich kann man darüber allerdings nicht urteilen, da seine Bewegungen ja schon angstgehemmt sind, als die Szene beginnt. Ob und wann jemand Angst empfindet und wie stark sie sich auswirkt, wird erheblich von Lern- und Sozialisationsprozessen beeinflußt (vgl. HACKFORT, 1986, S. 94). Entscheidend dabei ist, wie die handelnde Person ihre Situation einschätzt und erlebt, nicht ob die Gefahr „real“ vorhanden ist (vgl. ZIESCHANG, 1979, S. 241; SCHWENKMEZGER & HACKFORT, 1982, S. 370). Daher bezeichnet HACKFORT (1986, S. 77) sie als „Antizipationsstruktur zur Situationsbewältigung“. Ihre Merkmale sind „die gedankliche Vorwegnahme einer als Anforderung definierten Situation, die in der Antizipation ungewiß erscheinende Bewältigung, die Hilflosigkeit gegenüber der Aufgabe (und) ein antizipiertes Scheitern, das als Bedrohung erlebt wird“ (ebd.).

Emotionen und kognitive Situationsdefinitionen durch den Handelnden beeinflussen sich dabei wechselseitig, wobei Emotionen sozusagen ganzheitliche und unmittelbare Stellungnahmen zu einer bestimmten „Person- Umwelt-Aufgabe-Konstellation“ sind (ebd., S. 159). Fallen diese Emotionen und speziell Angst – sehr stark aus, führen sie zu Handlungsunterbrechungen (vgl. HACKFORT, 1987, S. 13). Nicht die Erfüllung der Aufgabe steht dann im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern Strategien zur Reduktion der Angst. Gerade bei sportmotorischen Aufgaben wirkt sich große Angst durchweg negativ aus (vgl. ZIESCHANG, 1979, S. 251), was zum Abbruch oder zur Vermeidung der Handlung führen kann.

Christian muß die Schwierigkeit als zu hoch für seine Möglichkeiten eingeschätzt haben. Auch wenn der Lehrer diese Einschätzung nicht teilt – er sagt einmal „Mehr sollst du gar nicht machen“ -, nützt es nichts, auf der „realen“ Machbarkeit zu beharren. Solange derjenige, der handeln soll, die Lage als in irgendeiner Weise zu bedrohlich einstuft, wird man ihn nicht /um Handeln veranlassen können.

Lösungsmöglichkeiten

In der Literatur findet man verschiedene Vorschläge, wie Angst im Sport vermieden oder abgebaut werden könne. Zu Recht weisen SCHWENK-MEZGER und HACKFORT (1982, S. 370) darauf hin, daß die pädagogische Intention, zum Sport zu erziehen, nicht vergessen werden dürfe. „Dabei darf nicht nur die Sichtweise einer möglicherweise leistungsbestimmenden Wirkung der Angst im Vordergrund stehen, sondern es muß auch die durch das Angstmotiv beeinträchtigte Bereitschaft zu einer längerfristigen sportliche Betätigung mitberücksichtigt werden.“

Schon bei der Planung des Unterrichts kann man bei bestimmten Inhalten wie eben dem Fosbury Flop – antizipieren, daß manche Lernende Angst bekommen werden. Oft wird es wohl schon ausreichen, außer einer Latte auch eine Schnur bereitzuhalten oder die Latte mit Gummibändern so an den Ständern zu befestigen, daß sie zwar gerissen werden kann, aber uh hi mit auf die Matte fällt. Wenn die Lehrperson dies selbst mit einem „misslungenen“ Sprung deutlich demonstriert, können einige Ängste schon im Vorwege genommen werden. Ebenfalls auf der Ebene der Unterrichtsplanung und -Organisation zahlt es sich auch bei kleinen Lerngruppen aus, zwei Anlagen aufzubauen, um differenzieren zu können. Mit dem positiven Effekt, daß Lernende, die Angst haben, nicht von allzu vielen anderen beobachtet werden und diese, wie in unserem Fall, am Springen hindern.

Während des Unterrichtens können Lehrende ängstlichen Schülern oder Schülerinnen helfen, indem sie einerseits deren Angstäußerungen, gerade die non-verbaler Art, ernst nehmen und nicht etwa abtun als lächerlich oder unangemessen. Dosiertes Lob und Zuwendung helfen eher als fachlich hochversierte Technikratschläge (vgl. sinngemäß ZIESCHANG, 1979, S. 247). Warum hat es der Lehrer hier nicht damit bewenden lassen, Christian für seinen Absprung zu loben?

Man könnte es weiterhin mit einer Art Desensibilisierung[3] versuchen, indem man den Schüler bestimmen läßt, welches der Angstreiz ist, den er noch gut bewältigen kann. Beim Hochsprung wäre das die Höhe bzw. bis zu welcher Höhe eine Latte benutzt werden soll. Wird in möglichst entspannter Atmosphäre dieser schwache Angstreiz überwunden, dann kann allmählich die „Dosierung“ erhöht werden. Im normalen Sportunterricht mit seinem Zeitdruck und anderen Belastungen, die auf Lehrerinnen und Lehrer einwirken, wird es allerdings schwierig sein, eine quasi-therapeutische Vorgehensweise anzuwenden. Hat man die Angst nicht dadurch, daß man die Latte durch eine Schnur ersetzt, so weit abbauen können, daß der betreffende Schüler wieder handlungsfähig wird, dann sollte man eine einfache Lösung nicht vergessen: das Umsteigen auf eine andere Technik. Rückwärts ins Ungewisse zu springen, ist tatsächlich nicht jedermanns Sache und muß es auch nicht sein. Andere Techniken wie der Schersprung oder der Wälzer lösen weniger Angst aus, weil man sehen kann, wohin man springt.

Fußnoten:

[1] Welche Ursache Christians Angst „wirklich“ hat, ist hier nicht zu entscheiden. Als Dimensionen sportbezogener Ängstlichkeit nennen HACKFORT und NITSCH (1988, S. 23) Angst vor körperlicher Verletzung, Angst vor Mißerfolg, Angst vor Konkurrenz, Angst vor Blamage und Angst vor Unbekanntem. Nur drei Formen der Angst unterscheidet VORMBROCK (1982, S. 380): Angst im sozialen Bereich, Angst vor Schmerz und körperlicher Verletzung und Angst vor Unbekanntem. Vermutlich liegen Christians wiederholtem Handlungsabbruch Anteile aller Dimensionen zugrunde, die zu unterscheiden für das Verständnis des Falles nicht viel beiträgt.

[2] s. vorige Fußnote

[3] Desensibilisierung ist eigentlich ein Verfahren der Verhaltenstherapie, das häufig bei Angststörungen eingesetzt wird (vgl. BOISEN, 1975, S. 64).

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

BOISEN, M. (1975). Angst im Sport. Der Einfluß von Angst auf das Bewegungsverhalten. Gießen, Lollar: Achenbach.

HACKFORT, D. (1986). Theorie und Analyse sportbezogener Ängstlichkeit. Schorndorf: Hofmann.

HACKFORT, D. (1987). Stichwort „Emotion“. In H. EBERSPÄCHER (Hrsg.), Handlexikon Sportwissenschaft (S. 88-98). Reinbek: Rowohlt.

HACKFORT, D. & NITSCH, J.R. (1988). Das Sportangst-Deutungsverfahren SAD. Schorndorf: Hofmann.

LIPPENS, V. (1990). Die Außensicht der Innensicht. Sportpädagogik, 14 (1), 54- 59.

SCHWENKMEZGER, P. & HACKFORT, D. (1982). Angsttheorien und ihre Anwendungsaspekte im Sportunterricht. Sportunterricht, 31 (10), 370-378.

ZIESCHANG, K. (1979). Zur Bedeutung der Angst bei motorischem Lernen und Handeln. Sportwissenschaft, 9 (3), 237-260.

VORMBROCK, F. (1982). Formen der Angst und Möglichkeiten ihrer Bewältigung im Sportunterricht. Sportunterricht, 31 (10), 279-386.

WOLTERS, P. (1999) Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

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