Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

Die Schülerin kommt nur zu wenigen Bewegungsversuchen.

In einer 10. Klasse wird das Schmettern im Volleyball eingeführt. Ein Team von drei Studierenden teilt sich die Betreuung während einer Übungsphase, in der der Angriffsschlag mit gehaltenem Ball geübt werden soll. Dazu steht jemand auf einem kleinen Kasten, der den Ball knapp über das Netz hält. Die Übenden schlagen ihm den Ball aus der Hand. Es sind zwei Netze und insgesamt sechs Stationen zum Üben aufgebaut, so daß die Lernenden häufig an der Reihe sind. Eine Studentin kümmert sich ausgiebig um eine Schülerin, die im Vergleich mit anderen unsicher in ihren Bewegungen wirkt und besonders Schwierigkeiten der Schrittfolge und dem Rhythmus hat. Die Lehrende geht mit ihr an die des Netzes, wo kein Übungsbetrieb stattfindet. Sie zeigt die Bewegung als Ganze, betont den Rhythmus und führt den Anlauf auch verlangsamt vor. Die Schülerin sieht der Studentin aufmerksam zu und nickt öfter. Diese zeigt immer wieder die Bewegung oder Teile davon, während die Schülerin nur zu wenigen Bewegungsversuchen kommt. Kurz nachdem sich die Schülerin wieder in den normalen Übungsbetrieb eingeordnet hat, wird eine neue Übung angesagt.

Interpretation

Erste Auslegung

Die unterrichtende Studentin investiert viel Zeit und Mühe, um der schwachen Schülerin die Bewegung nahe zu bringen. Dazu nimmt sie sie beiseite, aus dem normalen Übungsbetrieb heraus, um sich intensiv um sie zu kümmern. Sie verfährt gewissermaßen nach dem Prinzip: Wer viele Schwierigkeiten hat, dem muß auch viel geholfen werden. Ein einleuchtender Grundsatz, oder? Betrachten wir zunächst die Szene genauer. Die Lehrerin zeigt die Bewegung in verschiedenen Formen, als ganze Bewegung, isolierte Teile davon und verlangsamt. Da die Schülerin aufmerksam zusieht und nickt, scheint die Bewegungsvorführung ihr Ziel zu erreichen, nämlich bei der Schülerin eine bessere Bewegungsvorstellung zu schaffen.

Es ist jedoch noch ein großer Schritt vom verstandesmäßigen Begreifen einer Bewegung zur Ausführung derselben. In ihrem Eifer, der Schülerin zu helfen, fällt der Lehrerin aber wohl nicht auf, daß sich das Verhältnis verkehrt hat: während sie selbst die Bewegung unermüdlich vorzeigt und erklärt, sieht die Schülerin nur zu anstatt zu üben. Hätte die Schülerin nicht mehr lernen können, wenn sie sich – ohne gutgemeinte Hilfe von der Lehrerin – mit der Bewegung aktiv auseinandergesetzt hätte? Es sind schlicht viele Wiederholungen nötig, um eine Bewegung zu erfahren und sich anzueignen. Hier versucht die Lehrende, mit viel Belehrung das zu erreichen, was nur Erfahrung bringen kann. Besonders wenn man bedenkt, daß die anderen „unbetreuten“ Schülerinnen und Schüler inzwischen etliche Bewegungsversuche machen konnten, erscheint die Hilfe der Lehrerin fragwürdig. Es könnte sein, daß die Schülerin durch das Eingreifen der Lehrerin erst recht den Anschluß zu den übrigen Lernenden verloren hat. Als sie sich endlich in den Übungsbetrieb wieder einreihen kann, wird schon bald eine neue Übung angesagt. Wenn man ihre Schwierigkeiten mit der Bewegung als mangelnde (Körper-)Erfahrung deutet, dann wird sie auf diese Weise die Lücke gegenüber den anderen Schülerinnen und Schülern nicht schließen können. Die bestimmt guten Absichten der Lehrerin haben hier negative Wirkungen nach sich gezogen. Wir haben hier einen typischen Fall von „Überdosis“ (vgl. die Korrekturnorm in WOLTERS 1999).

Man kann einwenden, daß das Dokument für den regulären Sportunterricht nicht typisch sei, weil hier gleich drei Lehrende für die Betreuung einer Klasse zuständig sind; schon rechnerisch können die Lehrenden viel mehr Zeit für einzelne Schülerinnen und Schüler aufwenden. Daher könnte man folgern, daß ein allein unterrichtender Lehrer sich nicht so verhalten hätte wie die Studentin in unserem Fall. Ich stimme zu, daß die Voraussetzungen in der vorliegenden Szene nicht dem alltäglichen Sportunterricht entsprechen und ferner, daß sich allein Unterrichtende anders verhalten hätten. Ich bin aber der Meinung, daß sie sich oft nicht grundsätzlich anders verhalten, was die Betreuung langsam Lernender angeht. Oft erhalten diese viel Aufmerksamkeit von Lehrenden, die – wie hier – in eine Überbetreuung Umschlägen kann. Ähnlich wie überbehütete Kleinkinder eingeengt werden, so können Lernende durch zu viele Korrekturen und Hinweise am Lernen gehindert werden. Gerade bei schwachen Schülerinnen und Schülern sollte darauf geachtet werden, daß als Hilfen gemeinte Eingriffe in den Lernprozeß nicht überdosiert werden.

Erweiterte Auslegung

Worin man an die eigene Lehrtätigkeit denkt, wird man sicherlich zugeben müssen, daß man häufig so verfährt wie die Lehrerin unseres Falles. Es ist wohl ein sehr verbreitetes Verhaltensmuster, langsam Lernenden besonderes viel helfen zu wollen. Für das Rudern zumindest hat aber LIPPENS (1990, S. 54) erstaunliche Beobachtungen gemacht. „Obwohl langsame immer sehr viel mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit vom Lehrer erhalten, machen sie erst Fortschritte, wenn sie allein, ohne Lehrerintervention, üben. D.h. Lehrer erreichen trotz hoher ‚Investitionen‘ auch bei langsamen Lernen nicht viel.“ In der Sportart Rudern seien immer noch Wasser und Boot die wirksamsten Ruderlehrer. Kann diese Aussage vom Rudern auf eine davon so verschiedene Sportart wie Volleyball übertragen werden? DOMBROWSKI beschäftigt sich ebenfalls mit dem Problem, daß langsame Lerner in der Praxis oft mehr Korrekturen ausgesetzt sind als schnelle, obwohl sie weniger Eingriffe in ihren Lernprozeß vertragen. Sie berichtet von neueren Untersuchungen, die belegen, daß langsam lernende Schülerinnen und Schüler geradezu „aufblühen“, wenn die Lehrenden ihre Korrekturen aufgeben und sie ungestört üben können (vgl. DOMBROWSKI, 1995, S. 15). Die Alltagsannahme, daß viele Hilfen und Korrekturen auch viel Lernerfolg bringen, ist also mindestens für langsam Lernende nicht zutreffend.

Vielleicht trägt auch die Methode, derer die Lehrerin sich bedient, einen Teil dazu bei, die Unterrichtssituation als wenig „fruchtbar“ erscheinen zu lassen. Das Vormachen ist Bestandteil eines klassischen Lehrkonzeptes, das Lehren hauptsächlich als Vortragen, Vormachen und Vorführen sieht, während Lernen gleichgesetzt wird mit Übernehmen, Nachmachen und Einprägen (vgl. BÖNSCH, 1991, S. 18). Man vermutet, daß die Lernenden beim Zusehen die vorgemachte Tätigkeit innerlich mitmachen, so daß sie sie später auch äußerlich selbst vollziehen können (ebd., S. 18).

Das Vormachen, meist als Vormachen der Lehrperson, ist die bekannteste und am häufigsten verwendete Methode – allerdings ist sie auch umstritten (vgl. BRODTMANN, 1979, S. 171). Ihre Kritiker führen als Argument an, daß sie die Lernenden vom Lehrenden abhängig mache, weil sie sich an dessen persönlichem Vorbild orientieren. Dies widerspricht einerseits dem Ziel der Selbständigkeit, und andererseits steht es der Entwicklung einer sachbezogenen, intrinsischen Motivation womöglich entgegen. Insgesamt wurde das Emotionale überbetont, während die rationale Bewältigung des Handlungsfeldes Sport vernachlässigt werde. Ebenso ist nicht auszuschließen, daß das Vormachen als Imponieren mißbraucht werde (vgl. BRODTMANN, 1979, S. 173). Wird das Vormachen als alleinige Methode eingesetzt, so ist sie nach BLANKE-MALMBERG (1989, S. 163/164) wenig effektiv, da sie nur am äußeren Bild orientiert ist; die Lernenden müssen sich über Probieren dem vorgegebenen Bild annähern, wobei ihr internes Abbild hinter dem des Vormachenden Zurückbleiben könne. Isoliertes Vormachen hat zudem bei unbekannten Bewegungen oft das Ergebnis, daß die Schülerinnen und Schüler nur „irgendein Gezappel“ wahrnehmen, also gar nicht das sehen, worauf es ankommt (vgl. BRODTMANN, 1979, S. 176). Die Befürworter dagegen berufen sich auf die Erfahrungen der Sportpraxis. So lernen Kinder vorgemachte Bewegungen oft auf Anhieb, besonders wenn es sich um einfache Fertigkeiten handelt (vgl. u.a. ROTH, 1983 b, S. 179). Kein anderes Lehrmedium könne das Bewegungslernen so gut leiten, anregen und zum Erfolg führen wie der „Bewegungslehrer“, der seine Person als Vorbild in den Lernprozeß einbringt (vgl. GRÖSSING, 1993, S. 185). Ebenso bricht VOLGER (1995, S. 171) eine Lanze für das Prinzip Vormachen – Nachmachen: „Nachmachen ist kein seelenloses Nachäffen! (…) In Wirklichkeit ist die Fähigkeit, etwas Vorgemachtes nachmachen zu können, eine geniale Leistung des Menschen, die sich im Alltag millionenfach bewährt hat und immer wieder bewährt.“

Wie ist das Vormachen der Lehrerin unseres Falles einzuschätzen? Stimmen Absicht und Wirkung ihres unermüdlichen Vorzeigens überein? Oder etwas provokativer gefragt: Wird der Sinn einer Übung dadurch vermehrt, daß man sie möglichst oft Vormacht? Funktioniert das Nachmachen besser, wenn die Bewegung immer wieder demonstriert wird?

Wie an den Fragen schon abzulesen ist, bin ich gegenteiliger Meinung. Das Verhältnis von Vormachen und Nachmachen ist so ungleich, daß die Schülerin kaum eine Möglichkeit hat, zum Üben zu kommen. Die Lehrerin hätte durchaus einzelne Bewegungsteile vorzeigen können, wenn sie der Lernenden Probleme bereiten. Das Vormachen als Teil der Bewegungskorrektur wird jedoch nur dann eine günstige Wirkung erzielen, wenn das äußere Bewegungsbild für die Lernende nicht klar genug ist. Wenn dagegen die Schwierigkeit in der Übersetzung des äußeren Bildes in eine innere Bewegungsvorstellung besteht, dann hilft eine permanente Wiederholung des Sollwertes nichts. VOLGER (1995, S. 171) fordert ein Umdenken von Sportpädagogen, die eine „Lehrkunst des Vor- und Nachmachens“ entwickeln sollten. Der erste Grundsatz solcher Lehrkunst sollte – nach Kenntnis des vorliegenden Falles – der der Selbstbeschränkung sein.

Lösungsmöglichkeiten

Wenn zwischen Übungszeit und methodischen Einwirkungen wie z.B. Erklärungen und Korrekturen angemessene Proportionen herrschen sollen (vgl. SCHLIEDER, 1973, S. 764), dann müßte die Schülerin unseres Falles nach ein- oder zweimaliger Demonstration der Lehrerin Gelegenheit bekommen, selbst die Bewegung auszuführen. Vermutlich wäre ihr mehr damit geholfen, wenn sie zunächst unbeobachtet und „unbekümmert“ üben könnte. Man könnte ihr das Angebot machen, die Korrektur selbst aufzusuchen, wenn sie meint, Bedarf danach zu haben. Andere Methoden als das Vormachen könnten sein: Rhythmisierungshilfen für den Anlauf, Markierungen auf dem Boden oder synchrone Ausführung des Anlaufs mit einer anderen Schülerin.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

BLANKE-MALMBERG, B. (1989). Zur Theorie der Methodik des Sports. Ahrensburg: Czwalina.

BRODTMANN, D. (1979). Sportunterricht und Schulsport. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

BÖNSCH, M. (1991). Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden. Paderborn [u.a.]: Schöningh.

DOMBROWSKI, O. (1995). Die Fehlerkorrektur – ein häufig unterschätztes Problem. Leichtathletiktraining, 6 (7), 13-15.

GRÖSSING, S. (1993). Bewegungskultur und Bewegungserziehung. Schorndorf: Hofmann.

LIPPENS, V. (1990). Die Außensicht der Innensicht. Sportpädagogik, 14 (1), 54- 59.

ROTH, K. (1983 b). Motorisches Lernen. In K. WILLIMCZIK & K. ROTH, Bewegungslehre (S. 141-239). Reinbek: Rowohlt.

SCHLIEDER, G. (1973). Zu den Methoden der Erklärung, Demonstration und Korrektur im Sportunterricht. Theorie und Praxis der Körperkultur, 22 (8), 757- 765.

VOLGER, B. (1995). Bewegung lehren – aber wie? In R. PROHL & J. SEEWALD (Hrsg.), Bewegung verstehen (S. 155-179). Schorndorf: Hofmann.

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