Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

„Er soll ja gerade nich‘ abbremsen!“

Staffelwechsel in einer 8. Klasse. Es ist die dritte Sportstunde zu diesem Thema. Die Schülerinnen und Schüler haben die Aufgabe bekommen, sich in Vierergruppen gegenseitig zu korrigieren. Sie beschäftigen sich besonders damit, den optimalen Abstand zwischen anlaufendem und ablaufendem Läufer herauszufinden. Dazu haben sie sich Markierungen auf die Bahn gezeichnet; wenn der erste Läufer auf diese Markierung kommt, soll der zweite starten. Die Gruppe der Jungen Wekas, Sebastian, Anel und Jan arbeitet zusammen. Sandra, die selbst nicht mitläuft, beobachtet und korrigiert ebenfalls. Anel soll auf Jan wechseln.

A.: Jan! Jetzt stehst du hier vorne.

Jan stellt sich am Beginn des Wechselraumes auf.

J.: Oah, das kann ich nich‘ so gut.
A: Egal.

Anei läuft an. Jan startet viel zu spät, so daß Anei ihn überholt.

A.: Oah, Jan! Du mußt gucken. Du mußt früher loslaufen!
Se.: (ironisch) Ja, Jan, war ’n guter Wechsel.
A.: Los, noch mal.
Se.: Ja, mach noch mal. (Während Jan sich wieder auf stellt) Ey, du mußt früher loslaufen. Du mußt loslaufen, wenn er auf der Linie ist.

Anei und Jan probieren den Wechsel zum zweiten Mal. Wieder läuft Jan zu spät los.

W.: Jan, dreh‘ dich mal um.
Sa.: Wenn er ungefähr bei der Linie an kommt, mußt du loslaufen.
W.: Lauf los, wenn er abbremst.
J.: Abbremst?
W.: Er muß ja abbremsen.
Sa.: Er muß nich ‚ abbremsen.
Se.: Er soll ja gerade nich‘ abbremsen.
A.: Er muß so loslaufen, (zeigt Hochstart)
W.: Na gut.

Wekas will nun auf Sebastian wechseln.

Se.: (während er sich am Wechselraum auf stellt zu Wekas) Mit links übergeben. Mit links!

Wekas wird vor der Übergabe langsamer, weil er den Stab schon zu lange mit ausgestrecktem Arm nach vorn gehalten hat. Kurz vor Ende des Wechselraumes bremst Sebastian ab, so daß Wekas ihn gerade noch erreicht.

W.: Scheiße I!
A.: Wieso?
W.: Ja, Mann, das war doch… (dreht sich zu Sebastian) Ich hab‘ doch den Stab immer so gehalten (zeigt den ausgestreckten Arm).
Se.: Na ja…
A.: Seba, du warst vielleicht etwas zu früh.

Als nächstes übt wieder das erste Paar mit Jan und Anel.

Interpretation

Erste Auslegung

Die Unterrichtsszene ist bemerkenswert – und unterscheidet sich von den anderen dargestellten Korrekturfällen weil keine Lehrerin und kein Lehrer willkommen. Dennoch finden Korrekturen statt. Ausnahmsweise sind es ‚Schülerinnen und Schüler, die sich gegenseitig verbessern. Haben die Lernenden schon die Unabhängigkeit von einer Lehrperson erreicht, wie es die erste Korrekturnorm fordert? Ob und unter welchen Bedingungen dies gelingen kann, soll im folgenden untersucht werden.

Das Arrangement sieht vor, daß jeweils zwei Läufer den Staffelwechsel üben, während die beiden anderen beobachten und Rückmeldungen und Korrekturen geben. Da die einzelnen Paare schon individuelle Markierungen angebracht haben, wissen sie vermutlich schon einiges über die Hinwegung: daß Partner B dann loslaufen soll, wenn A auf der Markierung ist, daß der Abstand groß sein muß, wenn A schneller als B ist oder klein, wenn A langsamer läuft als B, mit welcher Hand der Stab übergeben und mit welcher er übernommen wird und schließlich auch wie die eigentliche Stabübergabe am besten funktioniert. Mit anderen Worten: sie wissen über den Sollwert des Staffelwechsels Bescheid. Einige der Elemente kommen in dem Korrekturgespräch der Gruppe vor. Besonders bei dem Wechsel von Anel auf Jan geht es um das Timing, wann also Jan loslaufen soll, wahrend sich Anel, Sandra und Sebastian einig sind, daß er loslaufen soll, wenn der erste Läufer auf der Höhe der Linie ist, gibt ihm Wekas den Tip, dann zu starten, wenn der erste Läufer abbremst („Lauf los, wenn er abbremst“). Auf Jans – wohl erstaunte – Nachfrage, bekräftigt Wekas seinen Hut „Er muß ja abbremsen.“ Dies wird aber von Sandra und Sebastian bestritten. Beide stellen klar, daß der erste Läufer ja gerade nicht abbremsen soll, worauf Wekas mit einem „Na gut“ einlenkt. Der Sollwert des Wechsels scheint also mindestens Wekas nicht deutlich zu sein. Die anderen Gruppenmitglieder begründen ihre Aussage nicht, so daß man den Eindruck gewinnt, Wekas lenke deshalb ein, weil die Mehrheit ihn überstimmt.

Heim Wechsel von Wekas auf Sebastian steht nicht so sehr das Problem des Sollwerts im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage von Ursache und Wirkung. Wekas kann zwar Sebastian gerade noch vor dem Ende des Wechselraumes erreichen, aber nur, weil Sebastian sein Tempo drosselt. Wekas selbst hat bemerkt, daß er zu lange mit ausgestrecktem Arm gelaufen ist, was seine Geschwindigkeit herabgesetzt hat. Anel als Beobachter zieht jedoch andere Schlüsse aus dem Gesehenen. Als Ursache sieht er an, daß Sebastian zu früh losgelaufen sei. Allerdings schränkt er seine Aussage mit einem „vielleicht“ ein – so sicher ist er sich anscheinend nicht. In der Tat sind ja beide Interpretationen des nicht ganz gelungenen Wechsels zutreffend. Wenn Wekas nicht mit ausgestrecktem Arm gelaufen wäre, hätte der Wechsel genau gepaßt. Wenn Sebastian später losgelaufen wäre, ebenfalls. Die Gruppe läßt diese Frage unentschieden und wendet sich gleich dem nächsten Wechsel zu. Dadurch bleibt unklar, was Sebastian und Wekas beim nächsten Versuch verändern sollen.

Trotz der Schwierigkeiten beweisen die Schülerinnen und Schüler, daß das „Korrekturmonopol“ der Lehrer gebrochen werden kann. Sie arbeiten sachbezogen und kompetent an der Verbesserung ihrer Wechsel. Die Bewegungsabfolge des Staffelwechsels scheint mir für eine gegenseitige Korrektur besonders geeignet, denn sie erfordert schon von sich aus Ko-operation. Zudem läßt sich die Bewegung relativ gut wahrnehmen, weil sie nicht zu komplex ist. Die Schülerinnen und Schüler können sich am Bewegungsresultat orientieren: überläuft der erste den zweiten Partner, so ist der Abstand zu eng bzw. der zweite ist zu spät losgelaufen. Im umgekehrten Fall ist der Abstand zu groß bzw. der zweite Partner ist zu früh gestartet. Im Vergleich zu anderen Bewegungen ist die Wenn-Dann-Beziehung einfach und damit auch gut zu beurteilen oder zu korrigieren. Voraussetzung ist natürlich, daß den Schülerinnen und Schülern diese Wenn-Dann-Verknüpfung bekannt ist; ohne Wissen über die Bewegung könnten sie selbstverständlich nicht korrigieren. Ein Sportunterricht, der auf Selbständigkeit ausgerichtet ist, müßte also hinreichende Kenntnisse über Bewegungen vermitteln, damit die Schülerinnen und Schüler beim Lernen von Bewegungen und ihrer Verbesserung unabhängig vom Lehrer werden. Schließlich müssen die organisatorischen Rahmenbedingungen stimmen. Es muß eine klare Aufgabenverteilung geben, wie es im vorliegenden Fall verwirklicht wurde. Ein Staffelpaar beobachtet und korrigiert, d.h. hat die Lehrer- oder Trainerfunktion inne, während das andere übt. Beim nächsten Versuch ist es umgekehrt. Vermutlich wirkt sich der häufige Wechsel der Funktionen günstig aus, denn dadurch erhält die Zusammenarbeit ein gewisses Gleichgewicht zwischen Korrigieren und Korrigiert-Werden.

Erweiterte Auslegung

Da der Fall Schlagball und der Fall Staffelwechsel sozusagen zwei Seiten einer Medaille sind – einmal ein mißlungener Versuch, Schüler sich gegenseitig korrigieren zu lassen und das andere Mal ein gelungener – habe ich mich entschlossen, für beide eine gemeinsame erweiterte Interpretation zu verfassen.

In beiden Fällen spielt die Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler eine zentrale Rolle. In beiden Unterrichtssituationen tritt die Lehrperson zurück, um die Lernenden selbständig an der Verbesserung von Bewegungen arbeiten zu lassen. Welche didaktischen Kriterien kann man formulieren, die ein Gelingen solcher Situationen wahrscheinlicher machen? Denkt man zunächst in methodischen Kategorien, kann man das Unterrichtsarrangement beim Staffelwechsel als Gruppenunterricht bezeichnen, eine Sozialform, die besonders geeignet ist, die Selbständigkeit im Lernenden zu fördern (vgl. H. MEYER, 1987, S. 245).

Gruppenunterricht ist eine Sozialform des Unterrichts, bei der durch die zeitlich begrenzte Teilung des Klassenverbandes in mehrere Abteilungen arbeitsfähige Kleingruppen entstehen, die gemeinsam an der von der Lehrerin gestellten oder selbst erarbeiteten Themenstellung arbeiten und deren Arbeitsergebnisse in späteren Unterrichtsphasen für den Klassenverband nutzbar gemacht werden können“ (ebd., S. 242; Hervorhebung i.O.).

Nach dieser Definition kann man die Situation Schlagball nicht eindeutig ah. Gruppenunterricht identifizieren. Wenn der jeweilige Werfer von seinem I Untermann korrigiert werden soll, entsteht innerhalb einer Riege so etwas wie eine Kettenorganisation – was weder nur Partnerarbeit[1] ist noch eine arbeitsfähige Kleingruppe herstellt. Der Lehrer erschwert es den Schülerinnen und Schülern durch seine methodische Mischform, den Arbeitsauftrag zu erfüllen. Vermutlich hat der Lehrer auch gar nicht beabsichtigt, Gruppenunterricht durchzuführen. Dennoch meine ich, daß die Korrektur untereinander hätte gelingen können, wenn sie gruppenweise organisiert worden wäre und wenn – wie es MEYER (1987, S. 250) und BRODTMANN (1986, S. 17) als unabdingbar für Gruppenarbeit ansehen – die Schülerinnen und Schüler es als gemeinsames Ziel verstanden hätten, sich gegenseitig zu verbessern. Unter den drei häufigsten Fehlern, die Gruppenarbeiten scheitern lassen, nennt GUDJONS (1993, S. 35) denn auch die mangelnde Organisation, „falsche“ Aufgabenstellungen und Überforderung der Schülerinnen und Schüler.

Um solche „Pannen“ zu vermeiden, sollten, bevor man Gruppenunterricht durchführt, nach MEYER (1987, S. 250) drei Fragen geklärt werden:

Haben die Schülerinnen und Schüler die erforderlichen Lernvoraussetzungen (bzw. können diese während der Gruppenarbeitsphase vermittelt werden)? Ist das Thema für eine Gruppenarbeit geeignet? Verspricht es wirklich mehr, das Thema in Gruppenarbeit bearbeiten zu lassen als es in Frontalunterricht oder in Einzel- oder Partnerarbeit zu behandeln? Die Lernvoraussetzungen sind im Fall Staffelwechsel wenn nicht einwandfrei, so doch ausreichend vorhanden, um die gegenseitige Korrektur inhaltlich zu bewältigen. Dagegen zeigt die Nachfrage des Schülers beim Schlagball („Aber woher soll ich wissen, daß er richtig wirft? Ich kann ja auch falsch werfen.“), daß die Lernvoraussetzungen, das Wissen über die Bewegung, nicht genügen. Besonders Ursache-Folge-Verknüpfungen wären Grundlage für die Korrektur. Also z.B. das Wissen, daß, wenn die Flugkurve des Balles zu flach ist, dies am verspäteten Abwurf liegen kann. MEYER (1987, S. 255) stellt fest, daß neben mangelnden Vorkenntnissen gerade zu wenig ausgeprägte Methodenkompetenzen zum Scheitern des Gruppenunterrichts führen. Die Schülerinnen und Schüler der achten Klasse beim Staffelwechsel scheinen über soviel Beobachtungsfähigkeit und analytisches Denken zu verfügen, daß sie die Bewegungen ihrer Mitschüler beurteilen und Hinweise zur Verbesserung geben können. Solche Kompetenzen ohne Vorbereitung bei Kindern der fünften Klasse vorauszusetzen, wie es der Lehrer getan hat, ist unrealistisch. Sie hätten vor dem Beginn der selbständigen Arbeitsphase „frontal“ vermittelt werden müssen (vgl. MEYER 1987, S. 256).

Zur zweiten Frage: Obwohl es um verschiedene Bewegungen geht, bietet die Aufgabe in beiden Fällen für eine Gruppenarbeit gute Möglichkeiten. Einschränkend wäre zu überlegen, welchen Komplexitätsgrad eine Bewegung haben darf, damit die gegenseitige Korrektur gelingen kann. Daß Schülerinnen und Schüler bekannte Bewegungen gegenseitig verbessern, sollte generell ein Ziel im Sportunterricht sein. Nicht nur weil die Lehrperson dadurch entlastet wird, sondern weil die Selbständigkeit der Lernenden damit gefördert wird – womit die dritte Frage angesprochen ist. Sicherlich wäre eine Korrektur durch die Lehrperson oft effektiver und brächte den Lernprozeß schneller voran (vorausgesetzt die Lehrperson verfügt über die zur Korrektur nötigen Qualifikationen), aber das Ziel, die Lernenden unabhängig zu machen, ist dem übergeordnet. Nach BRODTMANN (1986, S. 14/15) kommen für Gruppenarbeit nicht bestimmte Inhalte in Frage, sondern bestimmte Themen; nicht Inhalte seien von vornherein für eine selbständige Erarbeitung durch Schülerinnen und Schüler  geeignet, sondern wie diese Inhalte zum Thema gemacht würden und welche Lernmöglichkeiten daraus entstünden. Auch wenn er eher problemlösende Aufgaben mit offenem Ausgang bevorzugt, scheinen mir bescheidene Anfänge wie die Korrektur einer ganz konkreten Bewegung schon schwierig genug – wie der Fall Schlagball zeigt.

Didaktische Forderungen für eine selbsttätige Korrektur der Lernenden, die nach Auslegung beider Fälle erhoben werden könnten, wären: Wähle eine eindeutige Sozial- und Organisationsform und prüfe, ob die Lernenden die für die Korrektur notwendigen Voraussetzungen in Form von Bewegungswissen und Methodenkompetenz mitbringen.

Fußnote:

[1] Einige Autoren betrachten die Partnerarbeit als Unterform der Gruppenarbeit, eben als eine Zweiergruppe, für die dieselben didaktischen Kriterien und Ziele gelten (vgl. KLAFKI, 1993).

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

BRODTMANN, D. (1986). In Gruppen lernen. Sportpädagogik, 10 (6), 12-17.

GUDJONS, H. (1993). Gruppenunterricht. Eine Einführung in Grundfragen. In H. GUDJONS (Hrsg.), Handbuch Gruppenunterricht (S. 12-53). Weinheim, Basel: Beltz.

KLAFKI, W. (1993). Lernen in Gruppen. In H. GUDJONS (Hrsg.), Handbuch Gruppenunterricht (S. 54-71). Weinheim, Basel: Beltz.

MEYER, H. (1987). UnterrichtsMethoden II: Praxisband. Frankfurt am Main: Cornelsen Verlag Scriptor.

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