Dieser Fallkomplex besteht aus den Fällen (inklusive diesem):

 

Falldarstellung

Der Lehrer greift nicht ein.

Mädchen und Jungen einer achten Klasse üben mit einem neuen Geräteaufbau Weitsprung. Der Schritt vor dem Absprung soll auf einem längs zur Anlaufrichtung liegenden Kastenoberteil erfolgen, der Absprung von einem schräg aufwärts geneigten kleinen Kasten, der ca. einen Meter Abstand zum Kastenoberteil hat. Hinter diesem erhöhten Absprung befinden sich zwei Weichböden für die Landung. Zwei Mädchen machen vor dem Absprung sehr langsame, lange Schritte, um auf das Kastenoberteil und von da auf den kleinen Kasten zu kommen. Sie verlieren dabei erheblich an Geschwindigkeit, so daß ihr Sprung weder sehr kräftig noch sehr weit ausfällt. Beim nächsten Durchgang laufen sie etwas flüssiger an, jedoch immer noch mit abnehmendem Tempo vor dem Absprung. Der Lehrer, der direkt daneben steht und den Bewegungsversuchen zusieht, greift nicht ein.

 Interpretation

Erste Auslegung

Um eines gleich vorwegzuschicken: ich habe den Fall nicht ausgewählt, weil in ihm ein typisches Problem beim Korrigieren von Bewegungen vorkommt, sondern weil es gerade nicht vorkommt. Das mag paradox klingen, doch wird sich zeigen, daß der Fall seinen Platz in der Sammlung verdient hat.

Was an der Szene auffällt, ist, daß der Lehrer nichts tut; er greift nicht in das Geschehen ein, obwohl man die Sprünge der beiden Mädchen als fehlerhaft betrachten könnte.[1]  Beim Weitsprung geht es schließlich darum, möglichst weit zu springen. Die Sprungweite wiederum hängt maßgeblich von der Anlaufgeschwindigkeit ab, daher sollte die Geschwindigkeit beim Absprung möglichst groß sein. Dies ist bei den geschilderten Sprüngen nicht gegeben. Da der Lehrer direkt neben der Weitsprunganlage steht, ist davon auszugehen, daß er die Bewegungsversuche beobachtet hat. Dennoch korrigiert er nicht. Ohne die Umstände zu berücksichtigen, unter denen die Mädchen sich bewegen, würde man vielleicht zu dem Ergebnis kommen, daß der Lehrer es versäumt, die fehlerhaften Bewegungen zu verbessern. Bezieht man allerdings die Situation ein, muß man das Verhalten des Lehrers als durchaus „richtig“ einschätzen, denn es handelt sich ja um die ersten Versuche an einem ungewohnten Geräteaufbau. Die Mädchen müssen erst selbst durch Ausprobieren die Gewißheit haben, daß sie die Abstände zwischen den Absprunghilfen überwinden können. Schon bei dem zweiten Durchgang sieht man, daß die Mädchen mutiger werden und sich der Fehler von selbst abschwächt und wahrscheinlich ganz verschwinden wird. Vermutlich hätte man den Lernprozeß eher behindert, wenn man schon nach dem ersten Versuch interveniert hätte. Doch gerade dies ist meinen Erfahrungen nach eine häufig zu beobachtende Verhaltensweise von Lehrenden; sie warten nicht ab, ob die Lernenden von allein mit der Bewegung zurecht kommen, sondern sind viel zu schnell mit (sicher gutgemeinten) Korrekturen bei der Hand.[2] Daher ist die Handlungsweise des Lehrers in unserem Fall bemerkenswert.

Beobachtet ein Lehrender einen Fehler nur einmal, sollte er sich die Frage stellen, ob sein Eingreifen wirklich nötig ist oder ob dieser Fehler vielleicht nur eine typische Anfangshemmung ist oder rein zufällig auftritt. Denn ein Fehler, den die Übenden nicht reproduzieren können, kann auch nicht korrigiert werden. Der Lehrer dieses Falles hat, indem er vorläufig auf die Korrektur verzichtet hat, die Norm „Korrigiere zum richtigen Zeitpunkt“ (man müßte ergänzen: „oder gar nicht“) befolgt. Im Sportunterricht besteht allerdings das Problem, daß eine Lehrerin oft nur einen Bewegungsversuch pro Schülerin oder Schüler beobachten kann. So wird es häufiger Vorkommen, daß sie dabei auch nur zufällig mißlungene Bewegungen zu korrigieren versucht.

Erweiterte Auslegung

Gibt es eine Theorie über das Nicht-Korrigieren? Wenn man allgemeiner denkt, dann müßte man nach einer Theorie des Nicht-Handelns suchen. In der Tat wird man fündig, wenn man sich mit einem Gebiet befaßt, das sich Handlungslogik nennt. Der Begriff, den man auf unseren Fall beziehen kann, ist der der Unterlassung. „Handlungen haben ‚passive‘ Gegenstücke, die gewöhnlich Unterlassungen genannt werden“ (WRIGHT, 1974, S. 89; Hervorhebung i.O.). Nun will allerdings WRIGHT Unterlassungen nicht als bloße Passivität verstanden wissen, sondern als quasi aktives Nichthandeln, dem eine Intention zugrunde liegen kann. Im Gegensatz zum Handeln führt man durch eine Unterlassung nicht etwas herbei oder verhindert es; man kann „vielmehr Dinge sich selbst verändern lassen oder sie eben unverändert belassen“ (ebd., S. 89; Hervorhebung i. O.)  Genau wie bei Handlungen mit äußerlich sichtbaren Aktionen kann man für Unterlassungen ein Subjekt verantwortlich machen (vgl. WRIGHT, 1977, S. 107). Weil zudem Unterlassungen bedeutsame kausale Konsequenzen nach sich ziehen können, können sie ebenso wie aktives Eingreifen nach Erklärungen verlangen (ebd., S. 107). Mit anderen Worten: man kann danach fragen, welche Absicht oder welches Ziel hinter einer Unterlassung stand. Selbstverständlich müssen Unterlassungen nicht intentional sein.

Ob der Lehrer in unserem Fall willentlich nicht eingegriffen hat, können wir nicht verläßlich beantworten. Daß er jedoch beide Bewegungsversuche beobachten konnte, Er scheint sich zurückzuhalten, weil er darauf setzt, daß die Schülerinnen ihre Bewegungen selbst verbessern werden. Er hat vermutlich positive Erwartungen, wie sich die Dinge ohne sein aktives Zutun weiterentwickeln. Im Heidelberger Verfahren zur Diagnose und Veränderung von Sportlehrerverhalten haben TREUTLEIN, JANALIK und HANKE (1989) ein Instrument geschaffen, um Lehrerhandlungen zu untersuchen. Eine wichtige Komponente ist dabei die Situationsauffassung, die wiederum in Elemente zerlegt wird: die Situationswahrnehmung, die Bedeutungsbeimessung, die Ursachenerklärung und die Situations-Folge-Erwartung (ebd., S. 235). Die Elemente wirken zusammen:

„Auf der Basis der Bedeutungsbeimessung unter Berücksichtigung der relevanten Zieldimensionen sowie der Ursachenzuschreibung für das Zustandekommen der Situation wird der Lehrer die Weiterentwicklung der Situation prognostizieren. (…) Mit den Situations-Folge-Erwartungen prognostiziert er eine ‚Wird-Lage‘, die ohne sein Eingreifen eintreten wird“ (ebd., S. 189).

Wenn wir rekonstruieren wollen, wie die Unterlassung des Lehrers im Weitsprung-Fall entstanden ist, und uns des Modells der Heidelberger Arbeitsgruppe bedienen, dann könnte der Lehrer folgende Einschätzungen vorgenommen haben. Er hat zweimal wahrgenommen, daß die Mädchen ihren Anlauf vor dem Absprung verlangsamen, jedoch mit einer Verbesserung im zweiten Versuch. Als Ursache für die „fehlerhaften“ Bewegungen hat er vermutlich den neuen Übungsaufbau gesehen, auf den sich die Mädchen erst einstellen müssen. Daraus resultiert seine positive Situations-Folge-Erwartung, daß sich die Bewegungen der Mädchen in den weiteren Versuchen von allein verbessern werden. Konsequenterweise unterläßt er die Korrektur.

Offensichtlich ist dieses Verhalten bei Lehrenden nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, denn HANKE (1991, S. 160) hält es für wichtig, an den „Situations-Folge-Erwartungen“ von Unterrichtenden zu arbeiten. Häufig sei das Abwarten-Können wenig entwickelt, weil die Betreffenden Vorstellungen hätten wie „Wenn ich nicht eingreife, dann droht…“. Solche einseitigen Erwartungen aufzubrechen, kann eine souveränere Haltung beim Unterrichten erzeugen, die aber gerade nicht als Laissez-faire verstanden werden darf, sondern – um mit WRIGHT ZU sprechen – als intentionale Unterlassung anzusehen ist.

Fußnoten:

[1] Somit steht dieser Fall in einem Gegensatz zum vorigen [„Bewegungskorrektur im Sportunterricht – Weitsprung 1“].

[2] Mir drängt sich ein Vergleich zu einer Situation im Klassenzimmer auf. Ein Lehrer stellt eine Frage, auf die sich nicht sofort jemand meldet. Ihn plagt der „horror vacui“, dann es muß unter allen Umständen etwas passieren. Also beantwortet er die Frage selbst.

Quelle:

Wolters, P. (1999). Bewegungskorrektur im Sportunterricht. Schorndorf: Hofmann.

Mit freundlicher Genehmigung des Hoffman Verlages.

https://www.hofmann-verlag.de/

Literaturangaben:

HANKE, U. (1991). Analyse und Modifikation des Sportlehrer- und Trainerhandelns. Göttingen, Toronto, Zürich: Hogrefe.

TREUTLEIN, G., JANALIK, H. & HANKE, U. (1989). Wie Sportlehrer wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Köln: Bundesinstitut für Sportwissenschaft.

WRIGHT, G.H.V. (1977). Handlung, Norm und Intention. Berlin, New York: de Gruyter.

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