Einleitende Bemerkungen
Im Folgenden wollen wir, angelehnt an das objektiv hermeneutische Verfahren der Dateninterpretation, einige der Kinderäußerungen aus diesem Kreisgespräch analysieren. Die Objektive Hermeneutik als Verfahren hermeneutischer Textinterpretation stellt die Strukturkonstruktion eines Textes in den Mittelpunkt. Es geht ihr um das Erfassen latenter Sinnstrukturen durch deren Explikation. Fünf Prinzipien sind für die objektiv-hermeneutische Textinterpretation relevant, wie Andreas WERNET (2009) in Anlehnung an Ulrich OEVERMANN (1991) ausführt: die Kontextfreiheit, die Wörtlichkeit, die Sequenzialität, die Extensivität und die Sparsamkeit. In der Objektiven Hermeneutik kommt der Analyse der Eingangssequenz eine zentrale Bedeutung zu. Denn im Vergleich zu anderen Auswertungsmethoden können nicht beliebige Passagen aus dem Transkript für eine Analyse ausgewählt werden, sondern nachfolgende Sequenzen werden immer vor dem Hintergrund der analysierten Eingangssequenz interpretiert.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
G: […] wir schauen uns mal die Fragen an, die mit Gott zu tun
haben. Was meint ihr denn, was unterscheidet denn Gott… Gott von den Menschen? Was ist bei Gott anders als bei den Menschen? Ja. [00:03:45-7]
J1: Dass er heilig is. [00:03:47-6]
G: Gott ist heilig mmhh. [00:03:49-4]
J2: Der is unsichtbar. [00:03:51-6]
G: Mmhh, und die Menschen? [00:03:57-2]
J3: Sichtbar [00:03:54-4]
M1: Ähhm, man kann auch, äh, äh, noch Engel werden, wenn man stirbt, wenn man tot ist, wird man wiedergelebt, dann wird man Engel, Diener so. [00:05:36-3]
G: Man wird nen Engel und was hast du noch gesagt? [00:05:37-5]
J3: Diener. [00:05:37-5]
M1: Wir müssen manchmal alles für Gott tun, es ist ein Diener. [00:05:41-3]
G: Wie ein Diener …. [00:05:44-7]
M2: Diener, äähhmm wir ster…sterben, aber unsere Seele lebt noch. [00:05:47-5]
G: Mmh und was stirbt? Was meinst du unsere Seele lebt? Ja? [00:05:52-2]
J4: Das Herz stirbt. [00:05:54-3]
G: Mmhh … Fabio? [00:05:55-4]
J5: Mmhh, wird dann der, der ganze Körper stirbt, weil das Herz
ist ja das wichtigste Organ und wenn das dann stehen bleibt, dann sterben wir, aber, und dann geht die Seele langsam auch raus ausm Körper. [00:06:10-2]
Die Gesprächsleiterin G eröffnet das Kreisgespräch mit der Formulierung: »[…] wir schauen uns mal die Fragen an, die mit Gott zu tun haben. Was meint ihr denn, was unterscheidet denn Gott… Gott von den Menschen? Was ist bei Gott anders als bei den Menschen? Ja.« [00:03:45-7] Sie spricht von »wir«, bezieht sich mit ein in die Auseinandersetzung mit den Kinderfragen. G hätte alternativ auch nur die Kinder ansprechen können, denn es handelt sich um die Fragen der Kinder. Sie wählt »wir« und charakterisiert damit gleichfalls ihre Rolle als aktiv Partizipierende, sie bezieht sich in die Denkgemeinschaft mit ein. Thematisiert werden sollen in einem Gespräch »die Fragen […], die mit Gott zu tun haben.« Damit hat G nicht nur eine Auswahl getroffen, sondern auch den Versuch unternommen, die bislang noch nicht in den vorangegangenen Kreisgesprächen thematisierten Fragen 2 bis 12 zusammenzufassen. Alternativ dazu wäre es möglich gewesen, die Fragen nacheinander alle vorzulesen oder sich zunächst nur auf eine Frage zu beziehen. In der Zusammenfassung »die Fragen […], die mit Gott zu tun haben«, werden die Fragen nicht nur gebündelt, sondern zugleich auch interpretiert, indem die Differenz zwischen Gott und dem Menschen, die aus den Fragen 2-12 gedeutet werden kann, sozusagen vorausgesetzt wird: »Was meint ihr denn, was unterscheidet denn Gott… Gott von den Menschen? Was ist bei Gott anders als bei den Menschen? Ja.« [00:03:45-7] Auf die gestellte Frage nach den Unterschieden zwischen Gott und Mensch, könnten wir, wenn wir uns – im Sinne der Methode der Objektiven Hermeneutik – noch nicht auf die tatsächlichen Antworten beziehen wollten, mögliche Antworten der Zweitklässler vorstellen wie »Gott lebt im Himmel und die Menschen auf der Erde«, »Gott ist viel stärker als die Menschen«, »Man weiß nicht, wie Gott aussieht«, »Gott ist unsichtbar, die Menschen kann man sehen«, »Gott ist unendlich viele Jahre alt«, »Gott ist immer da, die Menschen sterben«, »Gott weiß alles«, »Gott hat die Menschen gemacht«, »Jesus war Gottes Sohn«. Die erste Aussage des Kindes J1 aber erscheint nicht als eine Aussage, die man von einem Zweitklässler erwartet hätte: »Dass er heilig is.« J1 erläutert nicht weiter, wie er »heilig sein« inhaltlich füllen würde, so könnte »heilig« als einzigartig oder auch als übermenschlich ausgelegt werden. G wiederholt die Aussage und ergänzt sie mit einem »Mmh«, das ein fragendes oder ein Zufriedenheit oder Wohlwollen ausdrückendes »Mmh« sein könnte. Streng genommen, ist die Heiligkeit Gottes kein signifikanter Unterschied zwischen Gott und Mensch, da auch Menschen heilig gesprochen werden können. Dies wird von den Kindern aber offensichtlich nicht gesehen, zumindest erfolgt an dieser Stelle auf die genannte Eigenschaft kein Einwand. Ein »Mmh« als Bestätigung legitimiert es, das erste genannte Unterscheidungsmerkmal Gott ist heilig, Menschen (in der Regel) nicht, nicht weiter zu betrachten.
Der Junge J2 führt mit seiner Aussage »Der is unsichtbar« [00:03:51-6] eine weitere Eigenschaft Gottes ein. Diese Antwort wäre im Sinne unserer möglichen Antworten zu erwarten gewesen. J2 führt mit »Der is« eine Geschlechtszuordnung ein. Gott ist für J2 männlich. »Der is« kann in unterschiedlichen Lesarten gelesen werden. Die Formulierung kann auf eine besondere Nähe verweisen, auf ein kumpelhaftes, familiäres »Der [Papa, Freund] is« oder auf ein kollektiv geteiltes kulturelles Wissen: wir alle wissen ja, wer mit »Der is« gemeint ist. C geht auf diese Aussage ein (»Mmh, und die Menschen?«) und verweist mit ihrer Frage auf einen möglichen Gegensatz zwischen Mensch und Gott in Bezug auf die genannte Eigenschaft. J3 stimmt mit dem Adjektiv »sichtbar« [00:03:54-4] dem eingeführten Unterscheidungsmerkmal zu – die Sichtbarkeit des Menschen steht im Gegensatz zur göttlichen Unsichtbarkeit.
Mit der Aussage des Mädchens M l »Ähm, man kann auch, äh, äh noch Engel werden, wenn man stirbt, wenn man tot ist, wird man wiedergelebt, dann wird man Engel, Diener so« [00:05:36-3] wird ein neues Thema aufgeworfen. Was geschieht mit einem Menschen nach seinem Tod? Danach wurde bislang nicht explizit gefragt. Die Aussage von M1 bringt erstens die Sterblichkeit des Menschen als ein weiteres, erstaunlicherweise bisher noch nicht genanntes Unterscheidungsmerkmal zu Gott auf. Zudem wird die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod angesprochen. Sehen wir uns ihre Aussage genauer an: Der Beginn »Ähm, man kann auch, äh, äh noch Engel werden, wenn man stirbt« besagt, dass »man« stirbt. »Man« im Sinne von jedermann, jeder, alle bezieht sich auf die Endlichkeit aller Menschen. M1s Aussage verweist durch die Wortwahl »kann« auf unterschiedliche Optionen: »Ähm, man kann auch, äh, äh noch Engel werden«, »Engel werden« stellt offenbar eine Möglichkeit neben anderen dar. Die Gestalt des Engels wird hier als eine mögliche Transformationsform des vergänglichen menschlichen Körpers thematisiert. Engel {lat. angelus, von griech. »Bote«, »Botschalter«; Übersetzung von hebr. mal’ach »Bote«) sind Boten oder Botschafter. Sowohl im Islam, im Christentum als auch im Judentum als den drei großen monotheistischen Weltreligionen werden Engel in ihrer Vermittlerfunktion zwischen Gott und dem Menschen gesehen, Engel stellen eine Verbindung zwischen Mensch und Gott her. Zu einem solchen Engel also, so M1, werde ein Toter. L)er zweite Teil der Aussage von M1 gibt dieser Aussage eine unerwartete Wendung: »wenn man stirbt, wenn man tot ist wird man wiedergelebt, dann wird man Engel, Diener so«. M1 unterscheidet zwischen »sterben« und »tot sein«. Auffällig ist auch die gewählte semantische Konstruktion. Wider Erwarten sagt M1 nicht, dass ein Toter »wiedergeboren« oder »wiederbelebt« werde. Er werde vielmehr »wiedergelebt«.[1] »Man« (der Mensch) lebt, muss sterben, ist tot und wird »wiedergelebt«, er wird also wieder zum Leben erweckt. Die Formulierung »wird man wiedergelebt« verweist darauf, dass der Mensch dies nicht selbst aktiv bestimmen kann. Den aktiven Part übernimmt eine andere Instanz. Der Wiederholung des Nomens Engel wird die Bezeichnung »Diener« hinzugefügt. Diese dem Satz nachgestellte Bezeichnung steht in schillernder Beziehung zu dem vorangegangenen Satzteil. Der Mensch erhalte als »Engel, Diener« ein neues Leben. Ob damit ein dienender Engel oder als engelsgleicher Diener (Gottes) gemeint ist, bleibt zunächst vage. Das »Diener-Motiv« wird von M1 auf die Nachfrage der Gesprächsleiterin hin noch expliziert. M1: »Wir müssen manchmal alles für Gott tun, es ist ein Diener.« [00:05:41-3] Der Terminus Diener Gottes ist in seiner kulturellen Konnotierung mehrdeutig. Er bezeichnet gläubige Christen, die ihren Glauben fromm und aufrichtig praktizieren. Außerdem ist Diener Gottes ein Ausdruck für die institutionalisierte römisch-katholische Kirche. M1s Aussage könnte im Sinne eines verbreiteten Alltagsglaubens verstanden werden, dass ein Gott dienender Mensch nach seinem Tod zum Engel wird. So gesehen setzt Ml die himmlische Erhöhung (»Engel«) und die irdische Gläubigkeit (»Diener«) wie eine Erklärung des einen durch das andere nebeneinander. Diese Interpretation korrespondiert mit der Gleichrangigkeit bzw. Gleichbehandlung von konkreten und abstrakten bzw. metaphysischen Fragen, wie wir sie im gesamten Projekt Fragekästchen vorfinden.
Das Mädchen M2 lenkt das Gespräch in eine andere Richtung. Indem sie die Vokabel »Diener« wiederholt, knüpft sie zunächst noch an das Motiv der Vorrednerin an: »Diener, ähm, wir sterben, aber unsere Seele lebt noch.« [00:05:47-5], »Wir sterben« kann einerseits den Menschen an sich umfassen, im Sinne von »alle Menschen müssen sterben«. Der zweite Teil »aber unsere Seele lebt noch« ließe auch die Schlussfolgerung zu, dass mit »wir« eine Ganzheitlichkeit gemeint ist, die aus verschiedenen Teilen besteht, »wir sterben, aber [ein Teil von uns], unsere Seele lebt noch.« [00:05:47-5]. Die Seele des Menschen wurde im Gespräch bis zu dieser Stelle noch nicht explizit thematisiert. M2 führt nun den Gedanken an die Möglichkeit des Weiterlebens der Seele nach dem endgültigen Tod des physischen Körpers hin, insofern sie eine Differenz zwischen Textintention und Textrealisierung deutlich werden lassen.
Körpers ein und stellt somit ein im irdischen Körper verankertes Ich neben ein seelisches. M2s Aussage erinnert sowohl an den oben beschriebenen Dualismus Körper – Geist/Seele eines DESCARTES als auch an religiöse Vorstellungen eines Weiterlebens der Seele nach dem Tod, wie sie bspw. im Judentum, Christentum und Islam und auch in fernöstlichen Reinkarnationsvorstellungen im Sinne einer Seelenwanderung, eines Hinausgehens der Seele aus dem toten Körper und eines Hineingehens in einen anderen, Vorkommen. G wiederholt das von M2 neueingebrachte Motiv der weiterlebenden Seele und ermuntert dazu, an dieser Stelle vertiefend weiterzudenken: »Mmh und was stirbt? Was meinst du unsere Seele lebt? Ja?« [00:05:52-2] Nicht M2 erläutert, was sie unter dem Begriff »Seele« versteht, vielmehr nimmt J4 Bezug auf den ersten Frageteil (»Mmh und was stirbt?«): »Das Herz stirbt« [00:05:54-3]. J4s Aussage kann in zweierlei Richtung verstanden werden. Auf der einen Seite steht der Ausdruck »Herz« in einem symbolischen oder metaphorischen Sinne für Liebe und Gefühl. Auf der anderen Seite bezeichnet er ein muskuläres Organ des physischen Körpers. Im Kontext einer dualistischen Körper-Geist/Seele-Auffassung ist das Herz das zentrale Organ des sterblichen physischen Körpers. Es kann aufhören zu schlagen und damit die Körper-Maschine Mensch zu einem bestimmbaren singulären Zeitpunkt gewissermaßen ausschalten. Die Aussage von J4 wird von J5 aufgenommen und expliziert: »Mmh, wird dann der, der ganze Körper stirbt, weil das Herz ist ja das wichtigste Organ und wenn das dann stehen bleibt, dann sterben wir, aber, und dann geht die Seele langsam auch raus ausm Körper.« [00:06:10-2] Das schlagende Herz steht hier also für den funktionsfähigen Körper, fällt diese Funktion aus, so kommt dies dem Sterben des Menschen gleich. Mit »aber, und dann« wird diese Aussage eingeschränkt bzw. weiter ausdifferenziert. In der Aussage des Jungen J5 steht die naturwissenschaftlich-sachliche Erklärung eines Zusammenhangs von Herzstillstand und Tod als eine logische Voraussetzung für die religiöse Vorstellung einer Seele, die den toten Körper verlässt (»aber, und dann geht die Seele langsam raus ausm Körper«). Die Seele lebt also weiter, indem sie sich vom Körper trennt und sich auf einen nicht näher bestimmten Weg macht.
An dieser Stelle beenden wir die Interpretation, wenngleich auch der weitere Verlauf des Kreisgesprächs für unsere Fragestellung interessante Passagen bereithält. Im Folgenden sollen ausgehend von den interpretierten Kinderäußerungen Überlegungen angestellt werden, welche Bildungsprozesse durch das Thematisieren von metaphysischen Fragen von Kindern im Schulunterricht prinzipiell möglich werden.
Das Aufgreifen von Kinderfragen im Schulunterricht steht, wie bereits herausgestellt, in einer reformpädagogischen Tradition. Es wurde bspw. von Berthold OTTO und von seinem Schüler Johannes KRETSCHMANN aufgebracht. In einer empirischen Studie aus dem Jahr 1992 arbeitet Gertrud RITZ-FRÖHLICH kenntnisreich das ungenutzte Potenzial von Kinderfragen im und für den Grundschulunterricht heraus. In der Grundschuldidaktik betonen Astrid KAISER & Silke PFEIFFER (2007) die hohe Bedeutung von Kinderfragen für kindliche Bildungsprozesse: »Kinder bringen von sich aus eine Reihe von Fragen [… in den Schulunterricht ein], die als philosophisch bezeichnet werden können. Diese Fragen sind Ausdruck ihres Selbst- und Weltverstehens auf der Suche nach Orientierung und Sinn. Das Philosophieren mit Kindern […] stellt in diesem Zusammenhang ein Konzept dar, die Fragen der Kinder ernst zu nehmen und ihnen auf der Suche nach Antworten zur Seite zu stehen.« (KAISER & PFEIFFER 2007, S. 166)
Fußnote:
[1] Nach dem Interpretationsansatz der Objektiven Hermeneutik wird ein Text wörtlich genommen. Gerade die Versprecher weisen auf alternative Deutungsmöglichkeiten hin, insofern sie eine Differenz zwischen Textintention und Textrealisierung deutlich werden lassen.
Literaturangaben:
Descartes, Rene (1996, Erstausgabe 1670): Die Leidenschaften der Seele. Hamburg: Felix Meiner
Descartes, Rene (1969, Erstausgabe 1632 bzw. 1648): Über den Menschen sowie Beschreibung des menschlichen Körpers. Heidelberg: Lambert Schneider
Descartes, Rene (1964): Discours de la Methode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Felix Meiner
Kaiser, Astrid; Pfeiffer, Silke (2007): Grundschulpädagogik in Modulen. Baltmannsweiler: Schneider
Otto, Berthold (1928): Der Lehrgang der Zukunftsschule. Berlin: Verlag des Hauslehrers
Ritz-Fröhlich, Gertrud (1992): Kinderfragen im Unterricht. Bad Heilbrunn/ Obb.: Klinkhardt
Mit freundlicher Genehmigung des Athena Verlages. http://www.athena-verlag.de/controller.php?cmd=detail&titelnummer=407Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.