Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einer Unterrichtsstunde im Fach Geschichte/Politik einer 8. Klasse Realschule (11 Schülerinnen und 20 Schüler), die am 27.02.1997 stattfindet. Der Lehrer ist ausgebildeter Fachlehrer für Geschichte und gleichzeitig Klassenlehrer. Die Unterrichtseinheit lautet: Das Ende der Revolution und der Aufstieg Napoleons – Ende der Napoleonischen Herrschaft (siehe Schulbuch).

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Cristo: ich wollt noch was sagen, eh der Papst ist der Einige
Lehrer unterbricht: Cristo, lass uns mal jetzt (Cristo: ja ich) eben kur\ bei den Hosen bleiben … eh die neue Mode der Sansculotten waren lange Hosen … die sind in der Revolution aufgekommen, Alisa war bei ihrer, oder hatte die Vermutung dass also die Adeligen, die wenig Geld haben noch die alten Kniebundhosen tragen, wenn ich die Vermutung weiter ausführen würde, müsste man daraus schließen, wer vom Adel Geld hat, würde jetzt lange Hosen tragen
Alisa: ja nicht lange, aber (die) teuren Kleider
Lehrer: Bastian
Bastian: aber die Stände wurden (doch aus???), dass es an sich gar keine also Adeligen mehr gab
Alisa: ja aber trotzdem hatten sie ja viel Geld
Lehrer: hmm, die Stände als eh, ja wenn man das so nennt, Kooperation, wurden aufgehoben, hatten als Stand nicht mehr die Bedeutung dass sie Gruppen innerhalb der Gesellschaft so darstellten, es gibt aber durchaus ja noch, die Adeligen, die ihre(n) Adel noch haben auch wenn sie jetzt nicht mehr ständische Vorrechte haben, (nicht also), das heißt nicht unbedingt, dass jetzt diese Schicht der Adeligen weg ist, konnte das einen anderen Grund haben? dass die Adeligen selbst wenn sie das Geld hätten sich moderne lange Hosen zu kaufen, dass sie trotzdem, Kniebundhosen tragen, Roman
Roman: wollen nicht mit den Sansculotten verglichen werden
Lehrer: auch das wäre durchaus möglich, selbst wenn es die Mode ist, dass etliche Adelige, selbst wenn sie jetzt nicht mehr weiter Stand im Staat sind, trotzdem sagen, wir als Adel tragen grade jetzt unsre Kniebundhosen, denn damit dokumentieren wir, wir hängen der alten Ordnung (nach), wir stehen ja nicht unbedingt hinter den Forderungen der Sansculotten, John

Cristo kündigt an, „noch was sagen“ zu wollen und beginnt „eh der Papst ist der einzige“. Er will offenbar auf etwas hinaus, etwas ergänzen, was noch nicht angesprochen wurde. Er hat auf der Abbildung den Papst identifiziert, bislang war verallgemeinernd bloß von Geistlichen, von Geistlichkeit die Rede. Damit eröffnet er relativ unvermittelt einen neuen thematischen Bezug. Was mag den Schüler zu seinem Vorstoß veranlasst haben? Will er einen (neuen) Impuls geben? Nimmt er wahr, dass man sich beginnt, im Kreise zu drehen?

Cristo wird, bevor er seinen Beitrag beenden kann, von dem Lehrer unterbrochen mit dem Hinweis „lass uns mal jetzt (Cristo setzt noch einmal kurz an: „ja ich“) eben kurz bei den Hosen bleiben“. Die Beschäftigung mit der Bekleidungsfrage soll wohl nicht mehr lange dauern. Der Lehrer weist Cristo zurück, weil das vorliegende Problem, der problemhaltige Kontext noch nicht geklärt ist Es soll wohl nach dem Motto verfahren werden: eins nach dem andern. Aber woher kann der Lehrer wissen, dass das, was der Schüler zu sagen hat, nicht zu dem vorliegenden Kontext beiträgt?

Festgehalten werden kann:

Ein zentraler Aspekt dieser Unterrichtssequenz ist, dass sich hier – ausgelöst von der Beobachtung „Kniebundhosen“ und einer davon abgeleiteten Argumentation – unvorhergesehen eine problemhaltige Kontroverse entwickelt hat.

Der Lehrer versucht nun, die Zusammenhänge zu klären. Er hält zunächst mal fest: „die neue Mode der Sansculotten waren lange Hosen … die sind in der Revolution aufgekommen“. Mit dem Begriff „Mode“ werden bislang implizite Fragen etwa von Lebensstil explizit zur Sprache gebracht. Letzteres, also die zeitliche Bestimmung, war bislang nicht thematisiert worden. Ist das dem Lehrer entgangen? Die historische Einordnung ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der zentrale Aspekt, der hier zur Klärung beitragen kann.

Der Lehrer bezieht sich noch einmal auf Alisa, die ihm zufolge vermutet hatte, „dass also die Adeligen, die wenig Geld haben noch die alten Kniebundhosen tragen“. Was sinngemäß übersetzt werden kann mit: Der Adel konnte sich die neue Mode nicht leisten. Der Lehrer stellt nun seinerseits gedankenexperimentell „die Vermutung“ an: „müsste man daraus schließen, wer vom Adel Geld hat, würde jetzt lange Hosen tragen“. Damit greift er einen kausalen Zusammenhang vorweg, den er offenbar aus der Aussage Alisas schlussfolgert bzw. rekonstruiert. Nun wird sich zeigen, ob Alisa auch darauf hinauswollte.

An dem Punkt legt Alisa plausibel dar, welchen Sinn sie ihrer Deutung beimisst. Anders als von dem Lehrer in Aussicht gestellt, würde eine Alternative für den vermögenden Adel nicht darin bestehen, statt kurzer Hosen lange Hosen zu tragen (insofern war der Bezug zu den Sansculotten irreführend), sondern statt langer Hosen teure Kleider. Wer besonders wohlhabend ist, trägt die aufwändigen, prunkvollen Gewänder. Diese Argumentationslinie hatte Alisa bereits zu einem früheren Zeitpunkt angesteuert, das muss dem Lehrer entgangen sein.

Dass z. B. das Gewand Napoleons Teil einer Inszenierung ist, bleibt vorläufig außer Acht. Das Bild suggeriert (zumindest Alisa) die Botschaft: In der neuen (napoleonischen) Gesellschaft trägt, wer etwas Besonderes ist, lange Gewänder. Und die vermeintliche Kniebundhose wird von der Schülerin als ein Relikt aus der vergangenen Zeit gedeutet. Sie muss von dem noch aufgetragen werden, der vorläufig noch nicht die Mittel hat, sich etwas Besseres, z. B. kostbare Gewänder, zu leisten. Alisa deutet kontextbezogen, und möglicherweise sieht sie in der Abbildung die Erfahrung (Selbst) gespiegelt, dass sie alte Kleidung tragen muss, solange sie sich neue teure Kleider nicht leisten kann. Insofern ließe sich auch hier von einem (szenischen) Hineinversetzen in die fremde Welt einer Kaiserkrönung sprechen, von einer Entdeckung des Eigenen im Fremden und umgekehrt.

Dass die Kleidung bei dem Versuch, sich die Herrschaftsverhältnisse zu vergegenwärtigen, derart in den Vordergrund rückt, hat offenbar damit zu tun, dass Fragen von Ausdruck, von jugendlichem Selbst, von Lebensstil und Lebensführung berührt werden, die sich entzünden an einer rätselhaften Beobachtung, an einer Auslösesituation für das Verstehen.

Hier geht es allgemein gesprochen um das Absuchen eines fremden Kontextes nach Bekanntem, nach Typischem, aber es geht auch um Unterschiede und Besonderheiten. Erneut gilt festzuhalten: Die Schülerinnen und Schüler deuten kulturelle Schemata und präsentative Symbole.

Der Lehrer ruft Bastian auf. Bastian wendet ein: „aber die Stände wurden (doch aus???), dass es an sich gar keine also Adeligen mehr gab“. Damit macht der Schüler deutlich, dass es die offizielle standesmäßige Ausdifferenzierung, also den Stand des Adels, von dem hier andauernd die Rede ist, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben hat. Er weist damit auf gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen hin, die sich zwischen der (vor-)revolutionären Zeit und der napoleonischen Herrschaft, um die es nun geht, vollzogen haben.

Alisa reagiert direkt auf die Äußerung des Mitschülers. Sie summt ihm einerseits zu: „ja“, ja es gibt die Stände in der Form nicht mehr. Andererseits geht sie davon aus: „aber trotzdem hatten sie ja viel Geld“. Worauf will sie hinaus? Das trotzdem der Adel nicht mehr ständisch organisiert ist, man davon ausgehen muss, dass es weiterhin eine vermögende Schicht gibt? Fasst sie die gesellschaftliche Veränderung als einen allmählich sich vollziehenden Prozess der Transformation auf? Erscheint es ihr daher als legitim, weiterhin von Adeligen zu sprechen? Vermuten werden kann, dass sie prototypisch auf einen zu einem früheren Zeitpunkt eingeführten Begriff zurückgreift, um der Vorstellung, die sie anhand der Abbildung von einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft von Wohlhabenderen und weniger Wohlhabenden entwickelt, eine Ordnung zu geben. Benutzt sie den Begriff Adel als Ordnungsbegriff, weil z. B. Begriffe wie Bürgerliche, bürgerliche Gesellschaftsordnung noch nicht eingeführt sind, noch nicht klar herausgestellt ist, worin sich die Gesellschaftsordnungen – vor und nach der Französischen Revolution bis hin zum Aufstieg Napoleons – unterscheiden. Weckt das gesamte Arrangement der Abbildung, also der Umstand einer Krönung, die langen Gewänder usf., bei ihr eher die Assoziation zu aristokratischen Stil- und Umgangsformen (ähnlich hatte sich ja auch Clara geäußert)?

Der Lehrer zeigt zustimmend mit „hmm“ an, dass hier etwas gesagt wurde, dem nicht ohne weiteres widersprochen werden kann. Gerät er ins Grübeln? Die Argumentationslinien und Überlegungen von Bastian und Alisa zusammenfassend erläutert er: „die Stände“ bzw. „Kooperation, wurden aufgehoben“ und „hatten […] nicht mehr die Bedeutung“, sie stellten in dem Sinne keine „Gruppen innerhalb der Gesellschaft“ mehr dar (hier geht es um Grundzüge der neuen Gesellschaftsordnung). Er räumt dann, indem er auf Alisas Argumentation zurückgreift, ein, dass es „aber durchaus ja noch, die Adeligen gab, die ihre(n) Adel noch haben“. Wenngleich sie auch keine „ständische[n] Vorrechte“ mehr haben, so hieße das nicht notwendigerweise, dass es die „Schicht der Adeligen“ nicht mehr gibt. Mit anderen Worten: Allen gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz sind Identität und Zugehörigkeitsgefühl (als Elemente gesellschaftlicher Transformation) nicht verschwunden. Bis dahin legt der Lehrer gewissermaßen eine zwischen den verschiedenen Schülerbeiträgen vermittelnde Synthese dar und weist damit niemanden zurück.

Dann stellt der Lehrer eine Frage („könnte das einen anderen Grund haben?“) und spezifiziert, auf was er hinauswill. Er will einen „anderen Grund“ dafür wissen, „dass die Adeligen selbst wenn sie das Geld hätten sich moderne lange Hosen zu kaufen, dass sie trotzdem, Kniebundhosen tragen“.

Der Klärung versprechende Einwand Bastians, dem auch Alisa zustimmte, nämlich, dass es eigentlich keine Stände mehr gibt, wird quasi als Hintergrundfolie unterlegt. Worauf will der Lehrer aber nun mit dieser (umständlichen) Frageformulierung hinaus? Der Lehrer fügt der Argumentationsfigur von Alisa noch einen Aspekt hinzu: warum die Adeligen, selbst wenn sie Geld hätten, Kniebundhosen tragen würden (und Alisa hatte argumentiert: weil derjenige Kniebundhosen statt Gewänder trägt, ist er weniger wohlhabend).

Produziert der Lehrer hier zusätzliche Irritation dadurch, dass er auf eine Unterscheidung abzielt, auf die Alisa gar nicht hinauswollte? Der Lehrer beharrt auf der Thematisierung: lange und kurze Hosen, und Alisa ging es doch offenbar darum, dass die Alternative zu den kurzen Kniebundhosen die langen Gewänder der besonders Privilegierten sind. Ist das Thema lange Hosen – von Alisa zu einem früheren Zeitpunkt eingebracht – nicht längst vom Tisch?

Warum lässt den Lehrer die Sache mit den Hosen und dem Geld nicht mehr los? Steht für ihn etwas Bestimmtes auf dem Spiel? Reden er und die Schülerinnen und Schüler bzw. Bastian und Alisa aneinander vorbei? Einerseits nimmt er die Schülerinnen und Schüler, deren Verstehensbedürfnisse ernst. Offenbar will er sie verstehen und möchte herausfinden, auf was sie hinauswollen. Andererseits schöpft der Lehrer die Deutungsversuche nicht aus. Was ist diesbezüglich mit den Schülerinnen und Schülern untereinander? Zumindest Einzelne scheinen sich ja zu „verstehen“; dafür sprechen auch die referierten Arbeitsergebnisse, an denen jeweils mehrere beteiligt waren. Der Lehrer ruft Roman auf. Roman legt als Grund dar: dass sie, also die Adeligen, „nicht mit den Sansculotten verglichen werden“ wollen. Die Kniebundhosen als sichtbares Zeichen der Abgrenzung und der Zugehörigkeit, das klingt schlüssig in Anbetracht sich auflösender Besitzstände. Aber war das Thema nicht auch schon längst vom Tisch?

Der Lehrer kommentiert diesen Beitrag mit den Worten „auch das wäre durchaus möglich“, Offenbar wollte er auf etwas anderes hinaus. Dennoch greift er die Aussage auf und beschreibt in seinen Worten folgenden Kontext: „selbst wenn es die Mode ist“, also vermutlich Mode ist, lange Hosen zu tragen, dass Adelige auch ohne offiziell „zweiter Stand im Staat“ zu sein, versuchen, sich „grade jetzt“ über das alte Relikt Kniebundhose nach außen hin als Gruppe, als Anhänger der „alten Ordnung“, zu präsentieren. Sie verpflichten sich sozusagen auf alte Traditionen, um sich abzugrenzen von den Sansculotten, deren Forderungen sie nicht teilen.

Was waren aber die Forderungen der Sansculotten, und in welchem Verhältnis standen diese zu den Forderungen des Adels? Dass die Schülerinnen und Schüler darüber Bescheid wissen und dass sie das Ständewesen präsent haben, davon geht der Lehrer allem Anschein nach aus. Der Lehrer ruft John auf. Das Gespräch bricht also nicht ab, immer bleibt irgendwer am Ball.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
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