Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

Allgemeines zur Gruppendiskussion

Esra und Leopold wohnen beide im B-Bezirk und gehen in die 5. Klasse zweier verschiedener Schulen, die jeweils von knapp 90% Schülerinnen mit einer nichtdeutschen Herkunftssprache besucht werden. An Leopolds Schule gibt es pro Jahrgang einen bilingualen Zweig, den sie selbst allerdings nicht besucht. Esra spricht Arabisch Zuhause, Leopold vermutlich eine Varietät des Französischen[1].

Die Gruppendiskussion findet in einem Jugendzentrum statt, das von beiden regelmäßig frequentiert wird. Beide haben Interesse daran, die Gruppendiskussion durchzuführen. Tatsächlich gestaltet es sich aber schwierig, die Selbstläufigkeit in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten. Zudem wird das Gespräch mehrmals durch Anrufe für Esra und Leopold unterbrochen. Nichtsdestotrotz sprechen die Teilnehmerinnen teilweise ausführlich über ihre Erfahrungen und bearbeiten stellenweise Themen gemeinsam. Insgesamt dauert die Gruppendiskussion etwa 35 Minuten. Die Redeanteile sind etwa gleich verteilt.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Erste Beschreibung der Schule

Der Eingangsimpuls sorgt zunächst für Irritation, sodass die Fragestellung von der Diskussionsleiterin noch einmal verdeutlicht wird. Bereits in der ersten Passage zeigt sich ein oppositioneller Modus der Diskursorganisation, der sich durch die gesamte Gruppendiskussion zieht:

Als erste Reaktion wird die Beziehung zu den Lehrkräften besprochen, die damit als besonders relevant gekennzeichnet wird, wobei die Beziehung zur Klassenlehrerin einen besonderen Stellenwert hat. Leopolds Verhältnis zu ihrer Klassenlehrerin ist zwar schlecht, ansonsten ist ihr Verhältnis zu den Lehrkräften aber positiv. Insbesondere ihre Lieblingslehrerin erfährt aufgrund ihrer Position als Schulleiterin eine besondere Sympathiebekundung. Esras Beschreibung liest sich deutlich negativer. Die Beziehung zu ihren Lehrkräften scheint bis auf zwei Ausnahmen überwiegend belastet zu sein. Ihre Klassenlehrerin erhält dabei durch die Wiederholung, die Nennung ihres Namens sowie die Bezeichnung als „echte“ Lehrerin eine positive Sonderrolle[2]. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Beziehungen zu den Lehrkräften bleiben unvereint nebeneinanderstehen.

Beziehung zu den Lehrkräften

An die Passage oben schließt sich die folgende an:


Bei der Begründung der Antipathien zeigen sich wieder unterschiedliche Orientierungen. Leopold orientiert sich an der Lehrfähigkeit der Lehrerin, sie kritisiert die ineffektive Nutzung der möglichen Lernzeit in der Schule und die erhöhte Belastung in der Freizeit. Bei Esra lässt sich hingegen eine Orientierung am zwischenmenschlichen Verhalten ausmachen. Die beschriebene Musiklehrerin ist nicht nur „streng“, sie äußert sich den Schülerinnen gegenüber auch in beleidigender Art und Weise. Die Begriffe „weinen“, „heulen“, „sterben“, „leiden“ zeugen von einem hohen Leidensdruck. Die Schülerinnen erleben sich in dieser Situation hilflos, da Realisierungsmöglichkeiten der Veränderung nicht greifen: Ihre Versuche, sich an Personen zu wenden, die vermutlich Einfluss nehmen könnten, bleiben erfolglos. Ihre Position wird nicht ernst genommen („ach quatsch“).

Die beschriebene Situation spielt sich auch auf der Diskussionsebene ab:

Auch Leopold ist Esras Erzählungen gegenüber skeptisch. Damit nimmt sie die Haltung von Esras Lehrkräften ein. Auf das konkrete Beispiel reagiert sie mit Gelächter und nimmt damit eine Fremdrahmung vor: Nicht am beleidigenden Aspekt der Aussage orientiert sie sich, sondern am humorvollen. Esra erkennt diese Rahmung durch ihr eigenes Lachen zwar an, wird umgekehrt aber auch hier in ihrem Erleben nicht ernst genommen.

Die Beziehungen zu den Lehrkräften unterscheiden sich somit sowohl in der Orientierung darauf, was relevant ist – Lehrfähigkeit oder zwischenmenschliches Verhalten –, als auch im Ausmaß der als negativ empfundenen Beziehungen. Im Vergleich wirken Esras Erfahrungen deutlich problembelasteter. Dies kommt noch an weiteren Stellen zum Ausdruck, in denen sie die Vergangenheit als positiven Gegenhorizont zur Gegenwart entwirft:

 

Die Orientierung am zwischenmenschlichen Verhalten zeigt sich hier am positiven Gegenhorizont der Fürsorge. Bei ihrer ehemaligen Klassenlehrerin hat sich Esra „wohlgefühlt“, denn diese hat sich „richtig gekümmert“, war „richtig nett“, das Klassenzimmer war ansprechend ausgestattet und sie hat die Eltern entlastet. Die veränderte Lage bezieht Esra aber nicht nur auf den Wechsel der Lehrkräfte, sondern generell auf den Übergang vom Kind- zum Erwachsenensein:

 

Umgang mit soziokultureller Pluralität

Eigenwahrnehmung von soziokultureller Pluralität



Das von der Diskussionsleiterin initiierte Thema wird von Esra und Leopold aufgegriffen, um die wahrgenommene ethnische Zusammensetzung der Schülerlnnenschaft an ihren Schulen aufzuzählen. Die Art und Weise, in der dies geschieht, deutet auf einen gemeinsamen Erfahrungsraum hin, der als solcher auch artikuliert wird („°was sie auch gesagt hat°‘‘). Obwohl die Mädchen nicht dieselbe Schule besuchen, teilen sie eine Art kollektives Wissen darüber, wie die Kinder, die auf Grundschulen im B-Bezirk (oder auch darüber hinaus) gehen, generell ethnisch einzuordnen sind und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis die Gruppen zueinander stehen[3]. So kann Esra ohne Schwierigkeiten die Zugehörigkeiten der Kinder an Leopolds Schule aufzählen; die Zuordnungen sind keine Fragen, sondern Aussagen.

Es ist offenkundig, dass es sich bei den Aufzählungen nicht um eine Zuweisung aufgrund formal-rechtlicher Zugehörigkeit handelt. Dies macht zweifelsfrei die kurze Diskussion über „afrikaner“ an Esras Schule deutlich. Diese Zuordnung erfolgt über das äußere Erscheinungsbild, Leopold glaubt, sie „gesehen“ zu haben. Die Bestimmtheit, mit der Esra diese Aussage zurückweist („unsere schule hat nich mal einen afrikaner“) deutet darauf hin, dass sie dieses Kriterium ebenfalls verwendet. Zum einen fragt sie nicht nach, wie Leopold darauf kommt, zum anderen könnte sie sich ansonsten kaum so sicher sein.

Ethnische Zugehörigkeit wird hier also zu einer bedeutsamen Kategorie, der jedes Kind in der Schule zweifelsfrei zugeordnet werden kann. Durch die Zugehörigkeit als Differenzierungsmerkmal lassen sich die einzelnen Gruppen klar voneinander abgrenzen, sodass die Schülerinnenschaft als „ganz gemischt“ bezeichnet werden kann. Die Zuordnungen werden von beiden selbstverständlich verwendet, ohne sie zu hinterfragen. Als zugrunde liegende Kriterien werden Sprache und Aussehen benannt, ohne dass dies explizit besprochen wird.

Diese zweifelsfreie Zuordnung gerät allerdings ins Wanken, als die beiden versuchen, die ethnische Zugehörigkeit ihrer Klassenkameradinnen aufzuzählen:

In Bezug auf konkrete Personen scheinen diese Zuordnungen nicht so leicht vorzunehmen zu sein. Dies wird deutlich in Esras Versuch, die Anzahl der „türken“ in ihrer Klasse wiederzugeben, bei der sie zwischen drei und acht schwankt, sowie in Leopolds Kommentar „keine ahnung“. Hier zeigt sich also ein Widerspruch zwischen allgemeinem Wissen einerseits und seiner Übertragbarkeit auf konkrete Individuen andererseits. Nichtsdestotrotz wird an der grundsätzlichen Verwendbarkeit dieser Kategorien festgehalten. In beiden Passagen findet auch keine Differenzierung zwischen Ländern, Sprachen und zugeschriebener ethnischer Zugehörigkeit statt; diese Kategorien stehen vielmehr äquivalent nebeneinander.

Präsenz im Schulalltag

Der Gesprächsabschnitt über die Präsenz verschiedener Religionen im Schulalltag wird mehrmals durch Störungen von außen oder spontane Themenwechsel unterbrochen. Das Thema wird teilweise von den Mädchen, teilweise initiiert durch die Diskussionsleiterin immer wieder aufgegriffen.

Leopold bestätigt, dass an ihrer Schule verschiedene Feste thematisiert werden. Sie elaboriert dies anhand eines Beispiels, in dem die schulorganisatorischen Auswirkungen, die das mit dem Opferfest verbundene Zuhausebleiben des Großteils der Klasse für den Schulalltag hat, im Fokus stehen. Anschließend wechselt das Gespräch zum Umgang mit Weihnachten (nicht abgedruckt). Während das Opferfest ein außerschulisch stattfindendes Ereignis ist, hat Weihnachten bei beiden durch Bastelarbeiten und Dekorationen auch innerhalb des Klassenraums eine gewisse Präsenz. Nach einer Unterbrechung wird das Thema wieder aufgegriffen:



Zunächst werden noch einmal christliche Feiertage im schulischen Raum thematisiert, die an beiden Schulen eine hohe Relevanz haben. In Bezug auf den Umgang mit dem Opferfest wechselt der Diskursmodus jedoch: Während Esra betont, dass über das Opferfest im Gegensatz zu Weihnachten und Ostern nicht gesprochen wird, ist es bei Leopold „immer“ ein Thema.

Das wahrgenommene Missverhältnis wird von Esra in ihrer Äußerung argumentativ begründet: Die Lehrerin hat bezüglich Opferfest weder Interesse noch inhaltliche Kompetenz, weil sie kein „araber oder irgend so einer“ ist. Dass die Lehrerin die notwendigen Voraussetzungen zur Thematisierung nicht erfüllt, ist also nicht ihr persönliches Versagen, sondern liegt in ihrer ethnischen Zugehörigkeit begründet. Inwieweit muslimische Feiertage eine Präsenz im Schulalltag haben, ist aus Esras Sicht also vom Zufall der ethnischen Zugehörigkeit der jeweiligen Lehrkraft abhängig. Die Zuordnung zu einer bestimmten ethnischen Gruppe erfolgt hier aufgrund der religiösen Zugehörigkeit: Wer Opferfest feiert, ist „araber oder irgend so einer“. Umgekehrt haben aus Esras Perspektive Personen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, auch weder Interesse noch Wissen in Bezug auf das Opferfest. Dieser Passage schließt sich eine Beschreibung des Erlebens von Ostern an den Schulen an:

 

In den Schilderungen beider sind die Handlungen, die zu christlichen Feiertagen erfolgen, also sehr präsent und finden wohl auch regelmäßig statt. Diese werden auch von beiden positiv erfahren, was vermutlich an der vom normalen Schulalltag abweichenden und Spaß bringenden Gestaltung liegt.

Erfahrung mit Stigmatisierung aufgrund der sozialen Herkunft

In der folgenden Passage diskutieren die beiden Mädchen das Verhalten einer Lehrerin von Esra:

Die geschilderte Situation ist wohl so zu verstehen, dass sich die Lehrerin oft vor der Klasse darüber aufregte, dass sie von ihrem Geld Abgaben zahlen muss, die dann in Form von Sozialleistungen an die Familien der Kinder gehen.

Dieser Zusammenhang bleibt Esra und Leopold allerdings unklar. Der Begriff Hartz IV ist nach einigen Anläufen zwar bekannt, wird aber in diffusen Kontexten verwendet („mein geld, har vier“), sodass der Zusammenhang zwischen diesem Begriff und den Aussagen der Lehrerin unklar bleibt. In ihrer Interpretation kommen sie zu dem Schluss, dass es der Lehrerin missfallen hat, Arbeitsblätter für die Kinder zu kaufen. Richtig überzeugt sind sie aber nicht, es bleiben offene Fragen („keine ahnung“).

Obwohl Esra der tatsächliche Aussagegehalt unklar bleibt, haben die Sprechweise der Lehrerin und ihr nicht nachvollziehbarer Vorwurf dazu geführt, dass sie sich die Situation merkt und sie irritiert zurücklässt. Eine gemeinsame Bearbeitung in ihrer Klasse hat offensichtlich nicht stattgefunden. Allerdings weist Esra den Vorwurf auch nicht als völlig unbegründet zurück, sondern versucht ernsthaft, ihn zu verstehen. Da sie beide den abstrakten Zusammenhang, den die Lehrerin beschreibt, nicht nachvollziehen können, läuft die Interpretation allerdings ins Leere. Leopold solidarisiert sich an dieser Stelle mit Esra, indem sie ihre ebenfalls vorhandene Irritation bekundet, sie bei der Aufklärung unterstützt und die Lehrerin als diejenige darstellt, die sich falsch verhalten hat.

Die geschilderte Situation lässt sich deutlich als eine extreme Stigmatisierung aufgrund der sozialen Herkunft lesen. Durch ihre Aussage erhebt die Lehrerin die soziale Herkunft zu einem bedeutsamen Differenzierungsmerkmal, das sie und ihre Schülerinnen voneinander unterscheidet. Mit dieser Unterscheidung geht ein Ungleichgewicht einher: Die Lehrerin ist als diejenige, die Geld verdient, in der machtvolleren Position. Gleichzeitig macht sie diese Situation ihren Schülerinnen zum Vorwurf, da sie mit ihrer Aussage impliziert, dass die Schülerinnen von diesen Verhältnissen auf Kosten der Lehrerin in unangemessener Weise profitieren[4].

Erfahrung mit Ethnisierung[5]

Im Anschluss geht die Diskussionsleiterin noch einmal auf das Thema Ethnisierung ein.

In dieser Passage werden von Esra und Leopold wieder unterschiedliche Erfahrungen thematisiert. Leopold verneint Erfahrungen mit Ethnisierung. Esra hingegen berichtet von einem Vorfall in der dritten Klasse. Während sie erzählt, verbessert sie sich mehrmals und verändert die Redeimporte der Beteiligten, sodass unklar bleibt, ob es sich bei der Erinnerung um mehrere Situationen handelt oder ob sie sich nicht mehr richtig an den einen Vorfall erinnert.

Deutlich wird in jedem Fall, dass ein Mitschüler der Lehrerin gegenüber eine Äußerung getätigt hat, die sich auf ihre zugeschriebene ethnische Herkunft bezieht. Unabhängig davon, was konkret gesagt wurde, kennt Esra wohl alle genannten Äußerungen als Beleidigung für deutschstämmige Personen. Sie hat offensichtlich die Erfahrung gemacht, dass die Bezeichnung „ausländer“ nicht nur eine rechtliche Unterscheidung darstellt, sondern damit eine Abwertung einhergeht.

Tatsächlich empfindet die Lehrerin aus Esras Perspektive die Bezeichnung „ausländer“ für sich selbst als Beleidigung. Auch wenn der genaue Ablauf unklar bleibt, ist dennoch offensichtlich, dass die Lehrerin zum einen unprofessionell reagiert, indem sie auf gleiche Weise kontert. Zum anderen trägt die Art und Weise, wie sie dies macht, klar xenophobe Züge. Hier wird deutlich durch die Lehrerin eine Unterscheidung zwischen Ausländem und Deutschen gemacht, die durch den Verweis auf die Staatsangehörigkeit Legitimation erhalten soll. Dabei sind die beiden so benannten Gruppen aus ihrer Sicht keineswegs gleichwertig. Die Aussage „du bist der ausländer“ klingt wie eine Anklage.

In Esras zwischengeschobener Erklärung („sie hat klassenbuch auf gemacht […] da steht es doch immer […], wer ausländer und so ist“) dokumentiert sich die Annahme, dass grundsätzlich in Klassenbüchern die Nationalität der Schülerinnen festgehalten wird. Die Einteilung in Ausländer und Deutsche wird aus Esras Perspektive also auch vonseiten der Institution Schule vollzogen und hat demnach im schulischen Kontext eine gewisse Relevanz.

Esra ist auch diese Situation eindrücklich im Gedächtnis geblieben. Ihr ist klar, dass die Lehrerin hier eine Beleidigung aufgrund der ethnischen/nationalen Herkunft ausspricht, aber völlig nachvollziehen kann sie die Situation nicht („versteh ich auch nicht“). Der negative Eindruck, den die Lehrerin hinterlassen hat, sorgt aber auf jeden Fall dafür, dass Esra froh ist, sie los zu sein („aber sie ist jetzt rente, zum glück“).

Im Gegensatz zu Esra irritiert Leopold vor allem die Aussage des Jungen. Ihrer Meinung nach hätte dieser den Kommentar „deutsche raus“ nicht machen dürfen. Diese Ansicht begründet sie im Folgenden: In seinem Alltag ist der Junge permanenter Nutznießer deutscher Güter und Dienstleistungen. Ihre Beschreibung beinhaltet eine Vorstellung davon, dass alle Güter und Dienstleistungen, die in Deutschland produziert oder erbracht werden, automatisch selbst deutsch sind und Deutsche ein quasinatürliches Anrecht auf sie haben[6].

Der Junge als Nichtdeutscher hat hingegen ein geringeres Anrecht. Wenn er sich nun Deutschen gegenüber schlecht verhält und ihnen sogar die Mitnutzung abspricht, verspielt er aus Leopolds Perspektive das Recht an der Teilhabe. Dieses ist also offensichtlich an gutes Benehmen im Sinne von Angepasstheit geknüpft. Ganz sicher ist sie sich allerdings nicht, der Junge muss nur „eigentlich jetzt raus“ (Hervorhebung EG). Außerdem stimmt sie Esra mit dem letzten Satz zu, dass auch die Lehrerin sich falsch verhalten hat.

Umgang mit Mehrsprachigkeit

Die folgende Passage schließt an die Aufzählung der ethnischen Zuordnungen (Z. 241-256) an:


Die Frage der Diskussionsleiterin wird von den Mädchen als Frage nach der Relevanz verschiedener Herkunftssprachen an den Schulen aufgefasst. Die diesbezüglichen Erfahrungen scheinen sich bei den Mädchen zu ähneln, es lässt sich aber wiederum keine kollektive Orientierung ausmachen.

Leopold sieht nach einer ersten Unsicherheit die Relevanz der Herkunftssprachen darin, dass sie Auskunft über die Herkunft des Gegenübers geben. Die Gleichsetzung von Land und Sprache findet sich also auch hier.

Esra verneint das Argument zwar nicht, weist es jedoch für ihre Schule zurück, da sie dort „so oder so nich (ständig) arabisch reden“ dürfen. An ihrer Schule sind die Herkunftssprachen keineswegs „wichtig“. In ihrer Antwort wird ein starker persönlicher Bezug deutlich, anscheinend hat das Thema für sie selbst eine gewisse Bedeutung: Obwohl es an ihrer Schule „auch viele andre sprachen“ (Z. 241) gibt, fokussiert sie ausschließlich die Arabisch sprechenden Kinder, zu denen sie sich zählt. In der Wiedergabe der wörtlichen Rede wird das Deutschgebot auf zweierlei Weisen begründet. Zum einen untergräbt das Sprechen der Herkunftssprachen das soziale Miteinander, da es unbemerktes ,,läster[n]“ ermöglicht. Zum anderen wird mit der Bezeichnung ,,deutsch[e] schule“ der deutschen Sprache in der Schule eine quasi natürliche Dominanz zugesprochen. Durch ihre parodierende Stimme weist Esra den inhaltlichen Gehalt dieser Aussagen aber deutlich zurück.

Der Kommentar, dass sie in der arabischen Schule[7] nur Arabisch sprechen dürfen, beinhaltet zweierlei: Erstens lässt sich eine gewisse Freude darüber feststellen, dass es auch eine Schule gibt, an der ihre Herkunftssprache die legitime Sprache ist. Zweitens wird Monolingualität damit als inhärentes Merkmal von Schulen an sich erklärt. In beiden Fällen wird die Fremdbestimmtheit deutlich, anscheinend wird das Verbot mit Zwang durchgesetzt, was impliziert, dass die Kinder von sich aus beide Sprachen verwenden würden. Von den Lehrkräften an beiden Schulen wird damit eine klare Trennung zwischen den Sphären gezogen. Esra weist diese Trennung für sich allerdings klar zurück und stellt ihre Legitimität deutlich infrage.

Leopold hingegen unterstützt zunächst die Aussagen von Esras Lehrkraft, obwohl sie Esras Klasse ja keineswegs kennt. In ihrem „is doch“ drückt sich daher vielmehr aus, dass das Argumentationsmuster der Lehrkraft ihr aus eigener Erfahrung vertraut ist. Im Gegensatz zu Esra hält sie es aber für zutreffend. Diese Einschätzung wird dann allerdings von ihr noch einmal eingeschränkt. Grundsätzlich findet sie den Gebrauch der deutschen Sprache wichtig. Sie macht allerdings eine Trennung zwischen dem formaleren Kontext des Unterrichts und dem informelleren Kontext der Hofpause. In Bezug auf sie selbst wird deutlich, dass sie sehr wohl auch Spaß daran hat, mit Freundinnen in ihrer nichtdeutschen Herkunftssprache zu sprechen. Allerdings formuliert sie den gesamten Abschnitt vorsichtig, als sei sie nicht sicher, wie allgemeingültig er ist („°mit den sprachen oder so°“). An späterer Stelle wird das Interesse von Lehrkräften an den Herkunftssprachen thematisiert:

Leopolds Schilderung legt nahe, dass sie das Ritual, dass die Schülerinnen „jeden tag“ Musik aus einem anderen Kulturraum abspielen dürfen und insbesondere auch das ihr persönlich entgegengebrachte Interesse, positiv erlebt. Die Sprachen der Schülerinnen sind demnach zumindest in Musikform im Klassenraum präsent. Inwieweit es sich bei der Musikauswahl um Stücke handelt, die von den Schülerinnen selbst in ihrer Freizeit gehört werden, mit denen sie also in ihrer individuellen Lebensumwelt berücksichtigt werden, bleibt unklar. Die Anfrage an Leopold selbst scheint für sie eine einmalige und besondere Begebenheit gewesen zu sein. Die Frage der Lehrerin deutet einerseits darauf hin, dass es ihr primär um die Herkunftsländer der Familien geht. Dass sie nicht Leopold direkt fragt, zeigt aber, dass sie sich durchaus dessen bewusst ist, dass diese für die Kinder nicht zwangsläufig relevant sind . In jedem Fall scheint Leopold selbst dieses Ritual und das persönliche Interesse positiv zu erleben. Esra hingegen scheint eine solche Situation in der Schule gänzlich unbekannt, in ihrem „dürft ihr?“ drücken sich Erstaunen und Ungläubigkeit aus.

Zusammenfassung

Die Perspektiven von Esra und Leopold gehen größtenteils auseinander. Teilweise sind ihre Erfahrungen tatsächlich unterschiedlich; aber auch ähnliche Erfahrungen werden auf unterschiedliche Weise eingeordnet und bewertet. Daher erfolgt die Zusammenfassung überwiegend für beide einzeln.

Grundsätzlich ist ihre Ausgangslage die gleiche. Sie teilen ein kollektives Wissen darüber, den Schulalltag mit Kindern zu verbringen, die spezifischen ethnischen Gruppen zugeordnet werden können. Die Selbst- und Fremdethnisierung erscheint als selbstverständliche, geradezu natürliche Tatsache, die auch bei Uneindeutigkeiten nicht hinterfragt wird.

Leopold beschreibt ihre Schule fast durchgängig sehr positiv, sei es in Bezug auf den Charakter ihrer Lehrkräfte oder die Präsenz sprachlicher und soziokultureller Vielfalt. Sie wirkt stellenweise geradezu bemüht, nichts Negatives zu sagen. Im Vergleich der Präsenz christlicher und muslimischer Feiertage wird etwa ein deutlicher qualitativer und quantitativer Unterschied deutlich, den sie aber nicht thematisiert. Auch das Deutschgebot hält sie für gerechtfertigt, obwohl sie sich selbst auch gerne in einer Fremdsprache unterhält. Diese Haltung nimmt sie an vielen Stellen auch Esra gegenüber ein und vertritt stellvertreterinnenmäßig die Position ihrer Lehrkräfte. Es ist denkbar, dass dies darin begründet liegt, dass Leopold sich selbst nicht als deutsch einordnet und aus ihrer Perspektive Nichtdeutsche eine gewisse Angepasstheit zeigen sollten, sodass etwaige Kritik ihr auch nicht zustünde[8]. Nichtsdestotrotz scheint Pluralität an ihrer Schule tatsächlich etwa als Unterrichtsthema aufgegriffen zu werden. Die einzige Kritik, die Leopold übt, nämlich an ihrer Klassenlehrerin, fügt sich insofern ein, als sie gerade den Umstand negativ wahrnimmt, dass sie dort zu wenig lernt, sich also nicht als gute Schülerin profilieren kann.

Esra erlebt im Gegensatz ihre Situation als sehr belastend. Die Beziehungen zu den Lehrkräften sind überwiegend negativ und teilweise durch konkrete Diskriminierungserfahrungen geprägt. Auch wenn Esra diese nicht immer klar als solche benennen kann, sind sie ihr dennoch präsent. Positive Erfahrungen, die an sich durch die Sonderstellung der Klassenlehrerin zu Beginn denkbar scheinen, werden ausschließlich in der Vergangenheit verortet.

Die Schule erlebt Esra als monolingual und monokulturell. Aus ihrer Perspektive gibt es eine klare Trennung zwischen einer „arabischen/muslimischen Sphäre“ und einer „deutschen/nichtmuslimischen Sphäre“. Wie die ethnischen Zuschreibungen zeigen, trägt sie diese Trennung stellenweise selbst mit. In Bezug auf die Monolingualität der Schule zeigt sie jedoch eine kritischere Sichtweise, die diese klare Trennung und das damit einhergehende Verbot, ihre Herkunftssprache zu sprechen, zurückweist.

Fußnoten:

[1] Diese Gruppendiskussion war die erste, die geführt wurde. Die Herkunftssprachen wurden erst ab der zweiten systematisch erhoben. Esras Herkunftssprache wurde im Laufe der Gruppendiskussion deutlich. Bei Leopold handelt es sich um eine Vermutung aufgrund einer entsprechenden Aussage (siehe Z. 379ff.).

[2] Im Laufe der Gruppendiskussion spricht Esra häufig von „ihrer Lehrerin“, ohne sie näher zu bestimmen. Es ist plausibel anzunehmen, dass sie damit jeweils ihre Klassenlehrerin meint, da sie sonst Lehrkräfte immer als Fachlehrkräfte benennt (bspw. „Sportlehrer“).

[3] Dafür spricht auch, dass Esra bereits vor der Gruppendiskussion mein Forschungsinteresse als solches mehrmals infrage stellte, da sie meinte, dass doch auf alle Schulen Kinder gehen, deren Familien ursprünglich aus einem anderen Land kamen, und zählte als Beispiel die hier auch genannten Zuordnungen auf.

[4] Auch wenn es sich dabei tatsächlich um eine Überbetonung der sozialen Herkunft handelt, ist es aufgrund der vorgenommenen Interpretation durch die Mädchen unplausibel, dass Esra diese Erzählung deshalb äußert. Es ist wahrscheinlicher, dass der Zusammenhang zur Ausgangsfrage der Diskussionsleiterin eher der ist, dass es sich um eine Erfahrung damit handelt, dass die Lehrerin wiederholt eine Aussage getätigt hat, die die Kinder genervt hat.

[5] Es ist plausibel, dass es sich bei dieser Situation um dieselbe Lehrerin wie zuvor handelt, da beide von Esra als ehemalige Mathelehrerin, die inzwischen in Rente ist, bezeichnet werden.

[6] Es ist unplausibel, dass Leopold an dieser Stelle „typisch“ deutsches Essen und Trinken meint, zumal sie den Jungen ja nicht kennt.

[7] Dabei handelt es sich vermutlich um eine Koran- oder Sprachschule.

[8] Dies wird in der Erhebungsssituation u.U. dadurch noch verstärkt, dass Leopold die Diskussionsleiterin ebenfalls als Deutsche einordnet.

Mit freundlicher Genehmigung des Logos-Verlages.
http://www.logos-verlag.de/cgi-bin/engbuchmid?isbn=3777&lng=deu&id=

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