Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In den Kontexten der Pause und der Klassenreise konnten zwischen Jungen und Mädchen Spiele beobachtet werden, deren zentrales Spielthema eng mit den Geschlechterbeziehungen verknüpft ist. Offenbar bilden die Klassenreise und die Pause mit ihrer spezifischen Struktur für diese Spiele ein förderliches Milieu. Zur Verdeutlichung dieses Typus soll eine Situation herangezogen werden, die sich in der Pause zugetragen hat:

Erkan, Sandy und Sabrina kommen zu mir an die Bank und es entwickelt sich ein interessantes Spiel:

Sandy:        Jan, mach mal was (lacht), Erkan ärgert mich (Erkan weicht ihr nicht von der Seite).

Jan:             Magst Du sie so gerne, oder warum rückst Du ihr so auf die Pelle?

Erkan:        Ja (grinst).

Sandy:        Oh, man!

Erkan:        (haut Sandy auf den Po) Hü Pferdchen, lauf!

Sandy rennt daraufhin weg und Erkan hinterher. Er klopft ihr erneut auf den Hintern; sie wendet sich ihm zu und die beiden rangeln ein bisschen. Er versucht es erneut, sie rennt weg und er hinter ihr her. Dabei lachen beide. Nun beginnen sie um die Bank zu laufen, auf der ich sitze.

Sandy setzt sich hin, Erkan steht vor ihr und lauert. Sie steht auf, rennt um die Bank, Erkan hin­ter ihr her und sie setzt sich wieder hin. Dieses Spiel wiederholt sich mehrere Male. Nun setzt sich Erkan neben Sandy und das Spiel scheint einzuschlafen. Doch als beide wieder aufstehen und nebeneinander stehen, klopf Erkan ihr wieder auf den Po und ruft: „Hü Pferdchen!“ als Re­aktion klopft nun auch Sandy Erkan auf den Po – die beiden lachen. Sie setzen sich neben mich und gehen kurz darauf gemeinsam mit Sabrina zur Tischtennisplatte, wo sie mit einem weiteren Mädchen anfangen Runde zu spielen (Pause, Protokoll vom 15.9.2008).

Das Spiel findet lediglich zwischen Erkan und Sandy statt, Sabrina bleibt außen vor und wird von Erkan wenig beachtet. Dieser sucht nur die Nähe zu Sandy („Erkan weicht ihr nicht von der Seite“). Die Nähe wird durch Berührungen vergrößert, die allerdings im Rahmen eines Spiels verborgen sind, in dem Sandy das Pferd und Erkan den Reiter spielt. Beide Kinder scheinen jedoch zu wissen, dass es in diesem Spiel um die Beziehung zwischen ihnen als Junge und Mädchen geht, was sich an Erkans Reaktion auf meine provokante Frage zeigt.[1] Sandy versucht sich Erkans Berührungen nur halbherzig zu entziehen. Das Spiel findet hier offenbar auf zwei Ebenen statt. Vordergründig verfolgen sich die Kinder in den Spielrollen „Pferd“ und „Reiter“ und führen einen Spaßkampf. Hintergründig geht es jedoch vermutlich um die heiklen Berührungen Erkans, denen Sandy sich „geschlechtsrollenkonform“ auf eine Weise zu entziehen sucht, die Erkan in seinem Handeln bestärkt.[2] Das Spiel endet bezeichnenderweise damit, dass Sandy Erkans Verhalten spiegelt und ihm ebenfalls auf den Po klopft. Danach scheint eine Verständigung oder ein Gleichgewicht hergestellt zu sein und die Spannung löst sich auf, was sich in dem gemeinsamen Lachen zeigt. Hatte Erkan sich zunächst auf unsicheres Terrain begeben, wurde er nun möglicherweise durch Sandys Reaktion in seinem Handeln bestätigt.

Nicht immer geschehen diese Spiele derart offensichtlich. Häufig handelt es sich um auf den ersten Blick „normale“ Spiele. Sie stellen einen Rahmen bereit, in dem Jungen und Mädchen scheinbar völlig unverfänglich miteinander interagieren können und auf legitime Art und Weise Berührungen möglich werden:

Sabrina:      Aber das blöde daran ist, wir wollten sie mit nem Plan austricksen. Aber allerdings haben sie dann wirklich meine Schwachstelle erkannt. Weil ich bin unter den Armen sehr kitzelig.

Jan:             (lacht)

Sabrina:      Dann musste ich weglaufen. Weil ich habe schon geahnt, dass die wahrscheinlich versuchten meine Achseln zu kriegen. Aber allerdings bin ich nur, wenn man hier unten reinkommt, und kitzelt. Sonst bin ich nicht kitzelig. Das ist eben das Problemchen bei mir. Es sei denn man kitzelt mich richtig. Das kitzelt dann auch. Und an den Füßen, aber das geht ja jetzt nicht. Also das ging ja nicht, weil ich Schuhe anhatte.

Jan:             Und ihr habt die ganze Pause gespielt?

Sabrina:      Ja, das war witzig (Interview mit Sabrina zur Pause vom 6.10.2008).

Diese Spiele weisen i. d. R. eine klare Rollenverteilung auf. Dabei nehmen die Kinder im Spiel latent die klassischen Rollen als „ungezogener Junge“ und als „braves Mädchen“ ein.[3] Die Spiele werden dementsprechend auf eine typische Art und Weise initiiert. Mädchen werden i. d. R. gezielt von Jungen geärgert, woraufhin sie damit beginnen, die Jungen zu vertreiben bzw. sie zu verfolgen:

Sabrina:      Eigentlich ist das Mädchen fangen die Jungs. Manchmal ärgern uns die Jungs auch.

Und dann sind wir natürlich sauer. Und dann wird es langsam zum Spiel.

Jan:             Aha, und wie fängt das an?

Sabrina:      Also erst spielen die Mädchen ganz normal. Dann kommen die Jungs und ärgern sie.

Dann werden natürlich wir Mädchen wütend langsam. Und dann jagen wir denen hinterher. Und dann wird es zum Spiel irgendwie. Das weiß niemand. Aber manchmal spielen wir es auch gerne so, weil wenn alle Jungs gefangen sind, dann sind die Mädchen dran. Aber meistens sind wir Mädchen schneller gefangen als die Jungs.

Jan:             Aha, und da fängt man sich gegenseitig?

Sabrina:      Ja. Aber erst, wenn die anderen gefangen sind, alle, auch der Letzte. Aber wir treten uns auch manchmal, aber nicht so doll.

Jan:             So ne Art Spaßkampf dann, ne?!

Sabrina:      Genau. So ähnlich (Interview mit Sabrina zur Pause vom 6.10.2008).

Aus den Ausführungen von Sabrina wird deutlich, dass es sich um keinen Einzelfall handelt, schließlich ist sie in der Lage, einen typischen Verlauf zu schildern. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dem gesamten Geschehen um eine gerne und häufig wiederholte Praxis handelt, in der das Spiel und seine Initiierung einer bestimmten Dramaturgie folgen. Die Mädchen gehen zu Beginn ihren eigenen Spielen nach, bevor sie von den Jungen geärgert werden. Nach Aussage des Mädchens führen die Provokationen der Jungen zur Verärgerung der Mädchen: „Dann werden natürlich wir Mädchen wütend langsam.“ In logischer Konsequenz würden sie dann anfangen, die Jungen zu verfolgen („Und dann jagen wir denen hinterher“). Sabrina schildert einen interessanten Übergang, bei dem der scheinbar unfreundliche Akt des „Ärgerns“ folgerichtig mit einer Gegenaggression beantwortet und dann auf einmal zu einem Spiel wird („Und dann wird es zum Spiel irgendwie“). Der Übergang ist fließend und passiert einfach so, ohne dass man es erklären könnte („Das weiß niemand“). Allerdings geht die Initiative nur vordergründig immer von den Jungen aus, wie man aus den folgenden Schilderungen von Sabrina erschließen kann:

Jan:             Kannst du mir vielleicht eben noch mal erzählen, wie du zu dem Spiel gekommen bist dann heute in der Pause.

Sabrina:      Also, Sandy…als erstes habe ich ja, hat mich, hatte ich so’n Bumerang so ähnlich gefunden. So’n Ring.

Jan:             So ne Art Hula-Hoop-Reifen, so ein Kaputter.

Sabrina:      Ja, der ist kaputt. Den hab ich dann geschleudert. Und die sind dann immer vor mir weggerannt, weil ich immer so gemacht habe, wie ne Hacke (lacht). Ja und ich hab versucht die anderen dann zu fangen mit dem Teil. Und dann wollte Check mitspielen. Wollten die anderen mitspielen. Und dann haben Frank und so was, Check und so was und Jan und so andere angefangen uns zu nerven. Und dann wurden wir auch ein bisschen sauer und dann haben wir angefangen zu jagen. Und dann wurde es zum Spiel (Interview mit Sabrina zur Pause vom 6.10.2008).

In der beschrieben Situation, die zudem auch beobachtet worden ist, initiiert Sabrina eine Verfolgungsjagd. Dies macht sie an der Stelle des Schulhofes, an dem sich die Jungen aufhalten, mit denen sie oft Spiele des hier beschriebenen Typus spielen. Da diese Spiele i.d.R. mit einem Ärgern von Mädchen durch Jungen beginnen, werden sie nicht direkt von Mädchen initiiert. Diese versuchen daher durch einschlägiges Verhalten Jungen zur Eröffnung des Spiels zu animieren.

Die Spiele des beschriebenen Typus der Geschlechterbeziehungen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport sind offenbar sowohl für die Mädchen, wie auch für die Jungen äußerst reizvoll. Sie kreisen stetig um die Themen Mann/Frau sowie Nähe/ Distanz. Obwohl die Handlungen der Kinder scheinbar situativ und zufällig erfolgen, kommen den Jungen und Mädchen dabei klare Handlungsrollen zu. Auffällig ist, dass sie nur in den Kontexten Pause und Klassenreise beobachtet werden konnten. Offenbar sind sie auf den schützenden Rahmen der Schule und ein gewisses Maß an Fremdheit angewiesen.[4]

Fußnoten:

[1] Tervooren (2006, S. 165-172) weist darauf hin, dass Sexualität und Begehren bereits im Kindesalter von Bedeutung sind.

[2] Das beschriebene Spiel ähnelt in gewisser Weise der von Breidenstein und Kelle (1998, S. 175-179) beschriebenen Praxis des „Knutschpackens“. Während jedoch das „Knutschpacken“ auf die Initiative einer Lehrerin zurückging, welche die vermuteten Bedürfnisse der Kinder kanalisieren wollte, konnte dieses hier nicht festgestellt werden.

[3] Damit deutet sich möglicherweise bereits an, was Breidenstein und Kelle (1998) im Rahmen ihrer Studie bei Kindern im Alter von 10-12 Jahren beobachtet haben. Sie berichten von einem gehäuften Auftreten von zwei komplementären Rollen: „Die des sexuellen Subjekts, das begehrt, das die Initiative ergreift und das zum Beispiel kommentiert – und das die des sexuellen Objekts, das begehrt wird, das sich anbietet und das zum Beispiel kommentiert wird. Diese Positionen sind tendenziell, nicht vollständig und unumkehrbar, aber doch in signifikanter Weise auf die Geschlechter verteilt: Während sich die Jungen vor allem als sexuelles Subjekt inszenieren, übernehmen Mädchen weitgehend die Rolle des Objekts (ebd., S. 174).“

[4] So wurden Spiele dieses Typs auffällig häufig von Kindern betrieben, die nicht zu der gleichen Lerngruppe gehören.

Literaturangaben:

Breidenstein, G. & Kelle, H. (1998). Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim und München: Juventa.

Tervooren, A. (2006). Im Spielraum von Geschlecht und Begehren. Ethnographie der ausgehenden Kindheit. Weinheim und München: Juventa.

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