Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.

Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Eine verletzende Beispielszene aus dem Datensatz der INTAKT-Gruppe

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Während der Adventszeit wurden an einer katholischen, privaten Grundschule in einer 3. Klasse einige Szenen freudigen, gemeinsamen Singens der Schüler beobachtet: Die Klasse befindet sich in der Aula der Schule. Die Kinder sitzen auf den Podeststufen der Bühne, lachen und reden miteinander.

Der Musiklehrer Herr Bruhns holt sich sein Akkordeon und sagt, dass er nun ein Lied spiele und alle mitsingen können, die es kennen. Der Lehrer beginnt zu spielen und viele Kinder stimmen bereits nach den ersten Tönen, die anderen wenig später ein. Es erklingt das Lied ‚Jingle Bells‘. Während des gemeinsamen Singens nickt Herr Bruhns immer wieder aufmunternd seiner Klasse zu. Dadurch animiert er diese, noch lauter zu singen. Nachdem die Klasse alle Strophen des Liedes gesungen hat, beendet Herr Bruhns das Akkordeonspiel. Er steht auf, klatscht begeistert in die Hände und lobt die Klasse für deren lauten und fröhlichen Gesang. Viele Kinder haben sofort ein Lächeln im Gesicht und sehen sehr glücklich aus. Diese Situation ist so bewegend, das sogar der Beobachter in den Gesang der Klasse eingestimmt hat. Diese Interaktionsszene wird vom Musiklehrer initiiert und richtet sich an die gesamte Klasse.

2. Induktive Interpretation

Der Musiklehrer gestaltet das gemeinsame Singen der Kinder sehr angenehm. Ohne sie zunächst auf ihr Reden hinzuweisen oder sie diesbezüglich zu ermahnen, erklärt er kurz die Aufgabe und beginnt mit dem Akkordeonspiel. Dabei singt er selbst mit und motiviert seine Schüler durch Mimik und Gestik zum begeisternden Singen. Diese folgen der Aufforderung des Lehrers aktiv, worüber dieser erfreut ist und daher am Ende klatscht und die Klasse lobt.

Die Schüler befinden sich in der Aula, wo es keine festgelegte Sitzordnung wie in der Klasse gibt. Diese Situation nutzen die Kinder, um sich in kleine Gruppen zu setzen und miteinander zu kommunizieren. Als der Lehrer die Aufgabe erklärt und mit dem Lied beginnt, stimmen sie in den Gesang ein, singen nach Angabe des Beobachters laut und gut. Das Lob des Lehrers am Ende zollt ihrer kollektiv erbrachten Leistung Anerkennung. Die Lernatmosphäre wirkt angenehm und die Lehrer-Schüler-Beziehung freudvoll.

Diese Unterrichtsszene zeigt die Auswirkung einer Konzentration auf Freude und Leistung in Form gemeinsamen Singens. Dem Musiklehrer gelingt es in der Szene, die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Medium der Musik zu ziehen und ihre Begeisterung zu wecken. In dieser Szene nimmt das Kriterium der Konzentration auf und die Anerkennung von Lernprozessen einen wichtigen Stellenwert ein.

3. Deduktive Interpretation hinsichtlich Anerkennung und Verletzung

Die Interpretationsszene wurde bezüglich der sechs Auswertungskategorien des INTAKT-Projektes als „sehr anerkennend“ eingeordnet.

Der Musiklehrer ist zunächst mit einer allgemeinen Unruhe konfrontiert. Er ermahnt jedoch die Klasse nicht, sondern beginnt mit dem gemeinsamen Gesang, sodass alle mit einer gemeinsamen Aufgabe beschäftigt sind. Der kollektive Gesang, an dem alle einzelnen beteiligt sind, steht im Vordergrund. Der Musiklehrer integriert sich in die Gruppe, indem er mitsingt. Er nutzt gleichzeitig seine Position, um die Kinder zum begeisternden Singen anzuleiten. Sein Vorgehen ist sehr anerkennend, denn er stellt kein Kind aufgrund der anfänglichen Unruhe bloß, sondern leitet die Klasse an zu einer gemeinsamen Aufgabe in angemessener Art und Weise. Er fördert beim kollektiven Singen die Kreativität der Kinder, indem er sie mit Mimik und Gestik motiviert. Das Disziplinproblem des Stundenanfangs hat er damit gelöst und eine freudige sowie angenehme Lernatmosphäre hergestellt. Die Kinder konzentrieren sich auf das Singen. Die Musiklehrkraft agiert in dieser Situation sehr positiv, ist vermutlich ausgeglichen bei der anfänglichen Unruhe und weiß, die Kinder mittels gemeinsamer Tätigkeit zu beschäftigen und zu begeistern. Durch die freundlichen Handlungen und die aufgeschlossene Mimik überträgt der Musiklehrer scheinbar seine positive Einstellung auf die Schüler. Seine Autorität setzt er auf eine anscheinend heitere und begeisternde Weise ein. In dieser Szene werden vor allem die Maßstäbe der angemessenen Gestaltung der Lehrer-Schüler-Hierarchie und eine lernförderliche Disziplin angemessen umgesetzt.

4. Widersprüchliches

In dieser Szene ist kaum etwas Widersprüchliches zu finden. Der Lehrer hat vermutlich eine charismatische Ausstrahlung, mit der er Kinder mitreißen kann. In der Szene klingt diese Gefahr zwar nicht an, aber emotionale Begeisterung kann auch problematisch eingesetzt werden.

5. Vermutungen über die Ursachen

Der Musiklehrer konzentriert sich auf eine Aktivität der Schüler und löst damit gleichzeitig die zu Stundenbeginn vermutlich aufgrund der veränderten Raumsituation bestehende Unruhe auf. Er vermeidet Disziplinierungen in dieser Situation und gibt den Kindern stattdessen die Möglichkeit, gemeinsam in Aktion zu treten und eine lernförderliche Atmosphäre zu schaffen. Der Lehrer scheint einem Bild seiner Schüler als aktiv und lustvoll lernende Subjekte verpflichtet zu sein. Zu vermuten ist, das der Lehrer selbstbewusst seine gesanglichen, instrumentellen und emotionalen Kompetenzen einsetzen kann.

6. Fazit der Vignettenauswertung und Bezüge zum Forschungsstand

Die Untersuchung der Szene zeigt, dass das gemeinsame Singen eine weihnachtliche Atmosphäre schaffen, für Aktivität und ein Gemeinschaftsgefühl der Kinder sorgen und ihnen Freude bereiten kann. Im Musikunterricht ist es – wie diese Situation zeigt – möglich, in wenigen Minuten durch eine klare Ansage und durch den musikalischen Beginn, das Interesse der Schüler zu gewinnen und auf den Unterrichtsgegenstand zu lenken. Gleichzeitig wird das Disziplinproblem gelöst, ohne dass dazu Zurechtweisungen notwendig werden. Die Kinder können gemeinschaftlich kreativ das Lied gestalten. Durch die Analyse dieser Szene konnte aufgezeigt werden, dass sich solche Disziplinprobleme mit wenigen Worten und gerade durch eine musikalische Aktivität aller Schüler lösen lassen können. Dem Musiklehrer in der vorliegenden Szene gelingt es, eine hohe Eigenaktivität zu zeigen und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder in einer gemeinsamen Aufgabe zu bündeln.

Die freudvolle Szene macht auch vorstellbar, dass gemeinsames Singen manipulativ eingesetzt werden kann. Dieses Problem hat in der deutschen Geschichte auch dazu geführt, dass Singen verpönt war. Zugleich zeigt die Feldvignette, wie befreiend es auch empfunden werden kann.

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich UniPress Verlages

https://shop.budrich-academic.de/produkt/lehrer-schueler-interaktionen-im-musikunterricht-als-beitrag-zur-menschenrechtsbildung/?v=3a52f3c22ed6

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