Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

 

Einleitende Bemerkungen

Die Bergschule ist eine große Gesamtschule an der zum Zeitpunkt der Datenerhebung rund 1.100 Schülerinnen und Schüler von der 5. bis zur 10. Klasse in jeweils sieben Zügen ganztägig unterrichtet werden. Die Schule befindet sich in einem großen Gebäude mitten im Stadtteil, das auch noch andere Bildungseinrichtungen beherbergt. Die Schule erstreckt sich über drei Etagen. In den ersten beiden Etagen befinden sich u. a. die Klassen- und Fachräume. An die Klassenräume grenzen große Freiflächen, auf denen sich die Schülerinnen und Schüler auch während der Pausen aufhalten. Die Klassen- und Fachräume verteilen sich über die ersten beiden Stockwerke des Gebäudes. Im dritten Stockwerk sind die Mitglieder der Schulleitung und der Schulverwaltung untergebracht. Die einzelnen Etagen sind durch mehrere Treppen und Fahrstühle miteinander verbunden. Einige Lehrkräfte weisen darauf hin, dass man aufgrund der Größe der Schule bei Raumwechseln häufig relativ weite Wege zurücklegen muss, und die dafür notwendige Zeit dann z. B. nicht mehr für die Kommunikation mit Kolleginnen oder Kollegen zur Verfügung steht.

 

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Gruppe Zypresse besteht aus vier Lehrkräften, die alle dem Personalrat angehören. Herr Amdorf und Herr Gerstenberg sind auch Mitglieder der Gruppe Lärche (vgl. Welling, S., Breiter, A., Schulz, A. (2015): Kapitel 3.2.3.3). Dazu kommen Frau Meierberger (ca. Mitte/Ende 40) und Herr Kühler (zwischen 50 und 60 Jahre alt). Die Gruppendiskussion kam spontan im Zuge einer Sitzung des Personalrats zustande, sodass von Frau Meierberger und Herrn Kühler keine biografischen Kontextinformationen erhoben werden konnten. In der kurzen Gruppendiskussion geht es u. a. um die Frage, wie die Mitglieder des Personalrats mit dem Schulleiter Herrn Müllerberg kommunizieren. Herr Gerstenberg stellt dabei auch die hohe Affinität des Schulleiters für die Kommunikation mittels digitaler Medien heraus (Gruppe Zypresse, Passage „Stellenwert unterschiedlicher Medien“).

Laut Herrn Gerstenberg besitzen die digitalen Medien für den Schulleiter eine hohe Relevanz und er möchte verstärkt andere mit diesen Medien informieren. Ob damit das Kollegium oder die Mitglieder des Personalrats gemeint sind, bleibt offen. Aus der Perspektive der Personalratsmitglieder („von unserer Seite“) sei diese Praxis möglicherweise ein „kultureller Umbruch“. Die vermutete kulturelle Veränderung adressiert an dieser Stelle mindestens den Wandel bestimmter inkorporierter kommunikativer Praktiken und die damit assoziierten Medien, sodass man hier auch von einem Medienwandel sprechen kann. Die Personalratsmitglieder würden es ausnahmslos („immer“) besser finden, wenn Herr Müllerberg ihnen die für ihre Arbeit erforderlichen Informationen über das traditionelle Postfach zukommen ließe und sie darüber hinaus auch im Modus der direkten interpersonalen Kommunikation informierte.

Herr Kühler stimmt dieser Kritik nicht vorbehaltlos zu und elaboriert seine dezidiert individuelle Haltung. Er hatte im Vorgang der wiedergegebenen Sequenz auch schon die Qualität der technischen Kommunikationsinfrastruktur bemängelt. Herr Kühler kritisiert mit seinem Hinweis auf die „Unzulänglichkeit dieses Systems“, dass die verfügbaren Medien nicht hinreichend geeignet sind, die gewünschte Kommunikation zwischen Schulleitung und Personalrat zu realisieren. Denn außerhalb der Schule käme der Lehrer mit seinen privaten Geräten […] in dieser Hinsicht „sehr gut zurecht“, d. h., unter Zuhilfenahme seiner privaten Medien kann er bestimmte Informationen zu seiner vollsten Zufriedenheit rezipieren. Wenn er die digitalen Medien in der Schule genauso einsetzen könnte wie zu Hause oder unterwegs, würde er davon in der Schule auch häufiger Gebrauch machen. Der Lehrer weist eine hohe Vertrautheit mit den digitalen Medien auf und hat außerhalb seiner beruflichen Sphäre offenbar eine elaborierte Medienpraxis entwickelt, die einen Vergleichshorizont konstituiert, an dem entlang sich die Möglichkeiten zur Enaktierung vergleichbarer Medienpraxen in der Schule messen lassen müssen und dabei deutlich schlechter abschneiden, was sich negativ auf das Ausmaß der schulischen Medienpraxen auswirkt. Quasi umgekehrt gewendet ist die Medienpraxis von Frau Meierberger. Sie wohnt in einer ländlichen Gegend ohne adäquaten Internetzugang. Darum nutzt sie das Internet zu Hause nicht (Gruppe Zypresse, Passage „Stellenwert unterschiedlicher Medien“).

Inzwischen („mittlerweile“) empfindet sie es als „echte Erleichterung“, sich der Kommunikation mit dem Hinweis entziehen zu können, dass sie zu Hause keinen Netzzugang hat und am Wochenende z. B. nicht mittels digitaler Medien kommunizieren kann. Das Adverb „mittlerweile“ zeigt an, dass die Nichterreichbarkeit nicht immer mit einer entspannenden bzw. entlastenden Funktionalität einherging. Herr Kühler bestätigt, dass es positiv sei, sich am Wochenende bestimmter Formen der Kommunikation zu entziehen. Frau Meierberger fährt fort, dass sie die „Leute“, wenn sie zu Hause Internetzugang hätte, auch am Wochenende mit E-Mails „zuschwallen“ könnten. Im übertragenen Sinne ergießen sich die E-Mails über sie, ähnlich einem Schwall Wasser. Der Begriff des Schwallens verweist auch auf die Qualität der Kommunikation. „Herumschwallen“ steht synonym für eine inhaltlich wenig qualitätsvolle Form der Kommunikation. Im Gegensatz dazu kann sie sich dieser Kommunikation in der Schule nicht entziehen, d. h., sie muss sich dort damit auseinandersetzen und darauf reagieren. Die temporäre Nichterreichbarkeit verlagert das Problem demnach nur, denn auseinandersetzen muss sie sich mit diesen Kommunikaten früher oder später auch.

Ihre weitere Elaborierung adressiert zunächst das Ausmaß dieser Kommunikation. Denn „jeder“ könne heutzutage ständig von unterschiedlichen Endgeräten aus eine E-Mail verfassen, sodass man prinzipiell immer damit rechnen muss, eine solche zu erhalten. Herr Kühler findet die geschilderte Situation „schrecklich“, d. h., die Möglichkeit, jederzeit per E-Mail ein Kommunikat erhalten zu können, löst bei ihm erhebliches Unbehagen aus. Frau Meierberger fährt fort, dass diese Form der Kommunikation auch dazu diene, sich der Verantwortung für eine bestimmte Handlungspraxis mittels einer E-Mail zu entledigen, indem man eine andere Person, dadurch, dass man sie über etwas in Kenntnis setzt, dafür verantwortlich macht, sich damit auseinanderzusetzen. Wieder verifiziert Herr Kühler diese Kritik. Die beschriebene Praxis tritt häufiger auf, nach Einschätzung der Lehrerin fünfzehn bis zwanzig Mal, dabei bleibt aber offen, in welchem Zeitraum. Dazu kommt, dass neben ihren Kolleginnen und Kollegen auch die Schülerinnen und Schüler so mit ihr kommunizieren. Während der Schulzeit ist die Lehrerin auch per E-Mail erreichbar. In der Mittagspause oder in Freistunden überprüft sie ihr Postfach an einem der für die Lehrkräfte bereitstehenden Computer. Sie ruft dann z. B. Protokolle ab oder die von Schülerinnen und Schülern eingeforderten Leistungen.

Im Gegensatz dazu sei sie zu Hause generell und am Wochenende nur telefonisch erreichbar. Ihre Telefonnummer „haben in der Regel auch die Leute“, gemeint sind wahrscheinlich ihre Kolleginnen und Kollegen, die sie auch außerhalb der schulischen stattfindenden Arbeitszeit anrufen können und dürfen. Dabei sei es für sie wohltuender, dass sie z. B. sofort auf Unklarheiten kommunikativ reagieren kann. Im Gegensatz dazu müsse sie bei der Kommunikation per E-Mail zunächst auf das erhaltene Kommunikat antworten und hoffen, dass die adressierte Person in der Lage und willig ist, ihr zu antworten. Im Gegensatz dazu weist das Telefongespräch wesentliche Qualitätsmerkmale der direkten interpersonalen Kommunikation auf.

Dazu gehört, dass man im Rahmen des Telefongesprächs ein „Ergebnis“ erzielen kann, unabhängig davon was daraus folgt. Insofern erweist sich die fernmündliche Kommunikation auch als effizienter gegenüber der per E-Mail, denn dabei muss sie auf Fragen erst antworten und auf eine Erwiderung warten, und diese ggf. auch über einen längeren Zeitraum hinweg nachhalten.

Auch in der Gruppe Zypresse diskutieren die Mitglieder über die Nutzung von InfoChange. Die Kritik fällt ähnlich aus wie in der Gruppe Lärche. Frau Meierberger illustriert anschaulich, warum die Lehrkräfte die papierbasierten Unterrichtsmaterialien den in dem SIS abgelegten digitalen Äquivalenten vorziehen (Gruppe Zypresse, Passage „Die suche nicht in InfoChange“).

Ähnlich wie ihre Kolleginnen und Kollegen kritisiert Frau Meierberger ebenfalls die Unübersichtlichkeit der in InfoChange abgelegten Dokumente und die damit verbundenen Mühen, diese im System zu lokalisieren. Im Gegensatz dazu bedarf die Materialsuche im Infozentrum nur ‚eines Griffes‘ an den Ordner für den entsprechenden Jahrgang. Diese Praxis ist mit einem einzigen erforderlichen Handgriff maximal effizient. Man müsse nur den Ordner aufschlagen und ‚habe‘ dann die gesuchten Informationen. Dass man auch darin herumblättern muss, um die vorhandenen Informationen zu bewerten, spielt dabei offenbar keine Rolle. Gleichwohl schließt sie nicht aus, dass es auch Situationen geben könnte, in denen die Suche nach Unterrichtsmaterialien mit Hilfe der konventionellen Ordner nicht die am wenigsten mühsame und unkomplizierteste Form der Materialbeschaffung ist. Dafür spreche aber auch, dass die in den Aktenordner abgelegten Kommunikate „direkt irgendwie anfassbar“ sind. Insofern kommt hier auch die Materialität der Handlungspraxis als positiver Praxisaspekt zum Tragen. Die Konkretisierung der Praxis ist aber von nachgeordneter Relevanz für deren Beurteilung, auch weil sie als inkorporierte Praxis nicht ohne weiteres einer Elaborierung zugänglich ist („irgendwie“). Hat man sich entschieden und Unterlagen aus dem Aktenordner entnommen, kann man sie ohne Zeitverlust („sofort“) kopieren, sodass die Praxis i. d. S. auch maximal effizient ist. Herr Amdorf bestätigt die Elaborierung von Frau Meierberger anhand eines weiteren Beispiels. Auch Arbeitsblätter und ähnliche Materialien kann man aus einem der Aktenordner entnehmen. Man müsse dazu den Ordner „nur kurz“ ‚durchblättern‘, um herauszufinden, ob man von den vorhandenen Informationen etwas „gebrauchen“ kann, um es dann nur noch zu kopieren. Im Gegensatz dazu müsse man, wenn man etwas in InfoChange sucht, „alles anklicke[n]“ was „umständlicher“ ist. Demnach kann man im SIS nicht gezielt nach Informationen suchen, sondern muss alle Materialien dahingehend überprüfen, ob sie den eigenen Suchkriterien entsprechen. Dafür muss man mehr Zeit aufwenden, bzw. ist die Praxis weniger zweckdienlich als die Nutzung der Aktenordner.

Zusammenfassung

Die Diskussion mit der Gruppe Zypresse bestätigt prinzipiell die anhand der anderen Gruppen herausgearbeiteten Orientierungsaspekte. So würde Herr Kühler z. B. auch häufiger mit den digitalen Medien in der Schule kommunizieren, wenn deren Beschaffenheit und Nutzungsmöglichkeiten seiner privaten Medienpraxis entsprächen. Quasi umgekehrt orientiert ist Frau Meierberger in diesem Kontext. Sie schätzt es z. B. dass sie aufgrund eingeschränkten Netzzugangs Zuhause kaum beruflich per E-Mail kommunizieren kann und sich diese Form der Kommunikation auf die schulische Sphäre beschränkt. Damit einher gehen positive Rationalisierungseffekte, die in dieser Gruppe außerdem auch den Ausschlag geben, mit papierbasierten Unterrichtsmaterialien zu arbeiten statt auf die im SIS abgelegten Kommunikate zurückzugreifen.

 

Mit freundlicher Genehmigung des VS Verlages.

https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-03677-5_3

 

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