Fälle aus gleicher Erhebung:
- Das hohe Interesse von Grundschulkindern an guten Noten
- Der Einfluss des Lehrstils auf das Verhalten von Lernenden
- Verschiedene Reaktionen auf ein hohes Anforderungsniveau
- Wie Lernende mit negativen Rückmeldungen umgehen
- Der Einfluss des Erziehungsstils auf das Verhalten von Lernenden
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die Kinder sollten während der ersten Woche meines Praktikums einen Vortrag über einen Planeten halten, für den sie in der vorherigen Woche PowerPoint-Präsentationen erstellt hatten. Für die meisten Kinder ist es das erste Mal, dass sie eine PowerPoint-Präsentation erstellen und einen Vortrag vor der Klasse halten müssen. Laut Frau Karakaplan ist die Klasse sehr technikaffin, d.h. viele der Kinder arbeiten häufig an den schuleigenen Computern in der Bibliothek oder zu Hause an den familieneigenen Computern. Die Aufgabenstellung knüpft also an die Fähigkeiten der Kinder an und stellt sie gleichzeitig vor eine neue Herausforderung. Denn um die Aufgabe bewältigen zu können, mussten sie ihre allgemeinen Kompetenzen im Umgang mit Computern auf das Programm Microsoft PowerPoint übertragen, mit dem man Powerpointpräsentationen erstellen kann. Auf den zu haltenden Vortrag erhalten die Kinder im Anschluss eine Note und eine verbale und schriftliche Rückmeldung.
Vor der eigentlichen Prüfungssituation haben alle Kinder noch einmal die Möglichkeit, ihre Präsentation kurz zu überarbeiten.
„Da Jan N. und Jan W. die einzige Gruppe sind, die gestern nicht ihre Präsentation üben konnten, soll ich mir mit den beiden ihre Präsentation im Nebenraum nochmal genauer ansehen. Wir korrigieren ihre Rechtschreibfehler. Währenddessen sind beide sehr aufgeregt. Sie schauen ständig auf die Uhr und können kaum ruhig sitzen. Als wir ihre Präsentation einmal durchgegangen sind, wollen sie gerne noch eine Gliederung erstellen, aber dafür reicht die Zeit leider nicht. Sobald die abgesprochene Bearbeitungszeit vorbei ist, drängt Jan W. darauf, wieder zurück in den Klassenraum zu gehen. Jan N. will aber noch weiter arbeiten und die Gliederung fertig schreiben, aber Jan W. meint, dass er das nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Er läuft um den Tisch herum, gestikuliert mit den Händen, während er versucht, Jan N. zum Mitkommen zu überzeugen. Als dieser nicht reagiert, schlägt sich Jan W. mit der Handfläche gegen die Stirn und bittet Jan N. nochmals darum, endlich mitzukommen.
Ich: „Na, komm, Jan. Das mit der Gliederung klappt nicht mehr. Lass uns rüber gehen.“
Jan N.: „Na gut…“
Jan W. sieht mich an und nickt mit dem Kopf. Und dann läuft er auch schon hinüber in den Klassenraum. Sehr langsam packt Jan N. derweil die Sachen zusammen und macht sich ebenfalls auf den Weg. Als wir schließlich zurück zu den anderen kommen, ermahnen uns einige Kinder, dass die Zeit ja schon längst vorbei sei. Jedoch arbeiten auch noch im Klassenraum fast alle Kinder an ihren Präsentationen. Also setzen wir uns auch nochmal daran und können doch noch die Gliederung fertigstellen. Es scheint als würden alle Kinder unter Spannung stehen. Sie überarbeiten hochkonzentriert ihre Präsentationen.“ (Auszug aus Protkoll 2.1)
Jan W. und Jan N. zeigen beide deutliche Anzeichen von Aufregung in dieser Szene. Jan W. möchte die vorgegebene Bearbeitungszeit ungern überschreiten. Dahinter könnte die Absicht stehen, dass er diese Prüfung so schnell wie möglich hinter sich bringen will. Jan N. versucht dahingegen, die Präsentation zu überarbeiten. Der Grund dafür könnte sein, dass er eine möglichst gute Präsentation halten möchte. Auch die anderen Kinder zeigen ein hohes Engagement und wirken sehr angespannt und aufgeregt vor dieser Prüfung. Hier liegt ein hoher Grad an Arbeitsbereitschaft in der Klasse vor, ohne dass die Kinder dazu aufgefordert werden müssen
Es sprechen allerdings einige Aspekte bezüglich dieses Unterrichtsarrangements gegen einen hohen Grad an Selbstbestimmung.
„Auf die Frage von Frau Karakaplan, wer denn anfangen wollen würde, meldet sich niemand.
Frau K: „Es müssen heute sowieso alle halten.”
Danach melden sich einige Kinder. Doch jedes Mal wenn eine Gruppe fertig ist und eine nächste ausgesucht werden muss, meldet sich wieder keiner.“ (Auszug aus Protokoll 2.1)
Aus dieser Szene geht hervor, dass das Prinzip der Freiwilligkeit an dieser Stelle nicht erfüllt ist, da sich nur Vortragende finden, wenn die Lehrerin die Klasse an ihre Pflicht erinnert, den Vortrag an diesem Tag halten zu müssen. Diese Situation von institutionellem Zwang kann das Autonomiegefühl der Kinder in hohem Maße untergraben.
„Zuerst stellen zwei Kinder ihre Präsentation über den Mars vor. Während der Vorstellung sind die anderen Kinder sehr leise und hören aufmerksam zu. Alle Blicke sind auf das Smartboard gerichtet. Jedoch bewegen alle Kinder sich viel und nehmen immer wieder eine andere Sitzhaltung ein. Nach der Präsentation melden sich fast alle Kinder, um den Präsentierenden eine Rückmeldung zu geben.“ (Auszug aus Protokoll 2.1)
Die Kinder zeigen hier einen hohen Grad an Aufmerksamkeit und aktiver Mitarbeit. Die körperliche Unruhe könnte ein Anzeichen für das körperliche Bedürfnis sein, sich ausreichend zu bewegen. Die Kinder versuchen dieses Bedürfnis so weit zu unterdrücken, dass ihre Bewegungen nicht als Unterrichtsstörung wahrgenommen werden können. Am nächsten Tag führt die Lehrerin mit jeder Gruppe ein ausführliches Gespräch über die Präsentationen. Dabei erhalten die Kinder sowohl eine verbale, eine schriftliche und eine zensierende Rückmeldung.
„Frau Karakaplan bittet immer eine Gruppe zu sich nach vorne an ihren Schreibtisch und geht mit den Kindern den Rückmeldebogen durch. Die meisten Kinder reagieren mit lauten Jubelrufen. Ich versuche die Kinder dazu zu animieren, an ihren Wochenplänen weiterzuarbeiten. Doch bis auf Jan W., Katja und Maja reden alle nur über ihre Noten.“ (Auszug aus Protokoll 2.3)
In den anschließenden Gesprächen zwischen den SuS* werden nur die Zensuren thematisiert. Ich konnte nicht beobachten, dass die Kinder sich auch über die ausführlicheren Rückmeldungen der Lehrerin unterhielten.
Trotz des optimalen Anforderungsniveaus liegt hier bei den Kindern anscheinend ein hoher Grad an extrinsischer Motivation vor. Dabei scheinen die Kinder mit einer hohen emotionalen Eingebundenheit bei der Sache zu sein. Das wird besonders an dem Verhalten von Jan N. und Jan W. deutlich. Da sich keine Freiwilligen als erste Vortragende finden schätze ich, dass die extrinsische Motivation hauptsächlich external reguliert ist. Die Kinder halten ihre Präsentationen in erster Linie, weil sie dazu verpflichtet sind und eine Note auf den Vortrag bekommen. So wirkt sich dieses Unterrichtsarrangement trotz des optimalen Anforderungsniveaus untergrabend auf das Autonomiebedürfnis der Kinder aus.
*SuS = Schülerinnen und Schüler
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