Falldarstellungen mit interpretierenden Abschnitten
Der Unterricht findet im Unterrichtsraum für das Technische Gestalten statt. Die Materialien für den Fahrzeugbau sind auf einem Tisch in beschrifteten Boxen übersichtlich angeordnet, damit sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig bedienen können. Die Werkzeuge und Maschinen haben ihren festen Platz. Die Lernenden arbeiten in gemischten Teams an den Werkbänken. Um sich Werkzeuge oder Material zu holen oder mit den Maschinen zu arbeiten, müssen sie im Raum umhergehen. Die Lehrperson hat die Teams eingeteilt. Moritz und Felix bilden ein Team. Moritz ist der Geschicktere der beiden. Er soll Felix beim Bau des Fahrzeuges zur Seite stehen. Klara und Silas bilden ein weiteres Team.
Moritz und Felix – dieser ist ebenfalls ein Schüler des dritten Schuljahres – kommen mit dem Fahrzeugbau schnell vorwärts. Sie montieren bereits die Räder und helfen nebenbei Klara, einer Erstklässlerin. […] Die Lehrperson steht mit Silas, einem Zweitklässler, und Klara am Materialtisch und gibt ihnen das Postenblatt für den nächsten Arbeitsschritt. Sie geht das Blatt mit Silas durch, damit Klara und Silas als Team weiterarbeiten können. Klara fragt: Was muss ich jetzt machen? Sie gibt der Lehrperson die Achse und ignoriert Silas. Die Lehrperson befestigt die Achse am Motor. Irgendetwas funktioniert nicht. Die Lehrperson fordert Klara auf, einen neuen Motor zu holen. Klara fragt: Wo sind die? Die Lehrperson gibt Auskunft und wendet sich dann einem anderen Schüler zu. Klara holt den Motor und packt ihn aus. Moritz kommt vorbei, und Klara sagt zu ihm: Ich kann es nicht selber festmachen. Moritz geht zum Materialtisch, Silas und Klara folgen ihm. Moritz geht zurück und macht sich wieder an seine Arbeit. Klara sagt zu Silas: Kannst du mir erklären, wie ich das machen muss? Ich kann das nicht selber. Moritz und Felix kommen zum Materialtisch. Felix bietet Silas Hilfe an. Silas will aber selber probieren. Moritz fragt Klara: Anschrauben kannst du aber selber? Klara antwortet: Nein, es geht nicht. Moritz erklärt: Dann musst du halt noch einmal bohren. Klara meint: Aber das kann ich nicht selber. Moritz nimmt etwas mürrisch und genervt das Holzstück von Klara und geht zum Bohrer. Klara geht derweilen zur Lehrperson. Moritz geht wieder zu seinem Fahrzeug zurück. Das zu bearbeitende Holzstück von Klara liegt auf dem Bohrer bereit. Klara fragt Moritz: Bohrst du jetzt meins? Moritz reagiert nicht sofort und Klara geht zur Lehrperson. Diese zeigt ihnen, was sie machen müssen und erklärt: Ihr müsst die Schraube noch einmal lösen, bohren müsst ihr nicht mehr. Moritz tut, was die Lehrperson gesagt hat und befestigt die Achsen. Klara spielt derweilen mit der Schraube und schaut zu. […] Klara läuft unschlüssig im Werkraum herum und geht überall ein bisschen schauen, was die anderen Schülerinnen und Schüler machen. Sie schaut Felix zu, wie er mit bei der Eisensäge arbeitet. Später beobachtet sie Silas und fragt ihn: Wer hat dir das gemacht? Silas antwortet: Moritz. Klara geht erneut zur Lehrperson und fragt, was sie machen soll. [28.10.10]
Bei Moritz und Felix schreitet der Fahrzeugbau schnell voran. Die Lehrperson versucht, Silas und Klara zur Zusammenarbeit zu animieren. Für Klara scheint Silas, der Zweitklässler, jedoch kein Helfer zu sein. Sie ignoriert ihn. Während Silas selber weiterarbeiten kann und will, fordert Klara Hilfestellungen bei der Lehrperson und später bei Moritz ein. Zudem schaut sie den anderen Schülerinnen und Schülern interessiert und aufmerksam zu und sucht weiterhin aktiv Hilfe (Später beobachtet sie Silas und fragt ihn: Wer hat dir das gemacht?). Wiederholt beansprucht sie Moritz, der sich als Helfer bewährt. Damit bestätigt sie ihn einerseits in seiner Position als ‚Hilfslehrer‘. Andererseits hält sie ihn aber auch von der Arbeit am eigenen Fahrzeug ab. Dadurch gerät Moritz unter Druck. Mit der Frage ‚Anschrauben kannst du aber selber?‘ und der Aufforderung ‚Dann musst du halt noch einmal bohren‘, versucht er Klara zu mehr Selbstständigkeit zu motivieren. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse sind sich gewohnt, selbstständig zu arbeiten und selber Sachen auszuprobieren. Moritz beruft sich auf diese in der Klasse geteilte Bereitschaft zur Selbstständigkeit. Klara gibt jedoch mit ihren Antworten ‚Nein es geht nicht‘ und ‚Aber das kann ich nicht selber‘ deutlich zu verstehen, dass sie auf seiner Helferrolle und ihrem Recht auf Hilfe beharrt. Ihr scheint klar, dass die gestellte Aufgabe für eine Erstklässlerin zu anspruchsvoll ist und die älteren Kinder Arbeitsschritte für sie übernehmen müssen.
Klara registriert jedoch auch, dass sie Moritz von seinem eigenen Fahrzeugbau abhält, wie der folgende Ausschnitt aus dem Beobachtungsprotokoll zeigt.
Klara schaut Moritz bei der Arbeit an ihrem Fahrzeug zu und stellt fest: Jetzt ist Mauro weiter als du. Moritz findet das nicht wirklich lustig. Er geht zur Gruppe von Mauro, einem Zweitklässler, und vergewissert sich, wie weit dieser mit dem Bau des Fahrzeugs bereits fortgeschritten ist. Dann geht er zu seinem Werkstück zurück und arbeitet daran weiter. [28.10.10]
Schnelligkeit und Geschicklichkeit sind für einige Schüler wichtig, da diese Eigenschaften mit ihrer hierarchischen Stellung in der Schulklasse verknüpft sind. Da er häufig um Hilfe gebeten wird, kommt Moritz mit seinem eigenen Fahrzeugbau in Verzug. Plötzlich sind andere Schüler mit der Arbeit weiter fortgeschritten. Moritz prüft in der Folge bei Felix und Mauro nach, wie weit deren Arbeiten gediehen sind. Diese Jungen müssen weniger helfen und werden damit zu ernsthaften Konkurrenten im Wettbewerb um den schnellsten und geschicktesten Fahrzeugbauer. Moritz hingegen gerät in ein Dilemma.
Einige Lektionen später hat Mauro, der Zweitklässler, sein Fahrzeug fertig gestellt und arbeitet nun am nächsten Auftrag. Moritz ist mit dem Bau des eigenen Fahrzeugs noch nicht soweit. Zudem ist er weiterhin als Helfer gefordert.
Die Lehrperson bittet ihn: Moritz, kannst Du hier [einem anderen Schüler] noch den Pneu auf das Rad machen? Moritz versucht die Pneus zu montieren und schaut dabei immer wieder zu Mauro, der etwas bemalt. Er wendet sich Mauro zu: Mauro, kannst du mir helfen die Pneus zu montieren? Mauro hilft ihm und malt gleichzeitig weiter. [25.11.10]
In dieser Situation wird Moritz zum Hilfe-Empfänger. Es macht den Eindruck, dass er sich etwas überwinden muss, Mauro um Hilfe zu bitten. Er löst dies, indem er die Aufforderung ähnlich formuliert wie die Lehrperson und sich auf seine Rolle als ‚Hilfslehrer‘ beruft. Mauro ‚gehorcht‘ ihm zwar, allerdings nur halbherzig. Seine Aufmerksamkeit gehört weiterhin seiner eigenen Arbeit.
Die Unterrichtsbeobachtungen zeigen, dass bei Moritz als älterem Schüler das Bewusstsein vorhanden ist, dass von ihm Unterstützung erwartet wird und er diese leistet. Einerseits scheint er für diese Aufgabe besonders geeignet zu sein, was ihn als sehr versierten Handwerker auszeichnet. Andererseits kann er seine Geschicklichkeit nicht durch den schnellen Bau des Fahrzeugs unter Beweis stellen. Diesbezüglich muss er seine Ambitionen zurückstellen. Seine Rolle als ‚Hilfslehrer‘ ist ambivalent.
Klara erhält durchgängig Hilfestellungen und kann schließlich mit einem ihren Vorstellungen entsprechenden Fahrzeug am Abschlussrennen teilnehmen. Die Rolle der Hilfe-Empfängerin nutzt sie, um das Geschehen im Unterricht zu beobachten und sich zu orientieren. Die Lehrperson geht davon aus, dass Klara bei einer nächsten Aufgabenstellung das Beobachtete umsetzen wird.
Grenzen des Helfens
Im vorliegenden Unterrichtsbeispiel werden die Altersund auch die Leistungsheterogenität in der Klasse als Selbstverständlichkeit gelebt. Alle Schülerinnen und Schüler bauen ein Fahrzeug. Sie leisten sich gegenseitig Unterstützung und Hilfe, so dass trotz großer Heterogenität alle am Abschlussrennen teilnehmen können. In der Klasse herrscht eine ausgeprägte Helferkultur. Die Protokollausschnitte machen deutlich, dass Helferkultur und Altersmischung Raum für sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Erfahrungen eröffnen. Aufgrund der Anzahl ihrer Schuljahre und der handwerklichen Geschicklichkeit haben die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Positionen in der Klasse inne, an die unterschiedliche Erwartungen und Ansprüche geknüpft sind. Diese werden von den Lehrpersonen und den Mitschülerinnen und -schülern geteilt und sind in der Aufgabenstellung mitbedacht. Damit sind Chancen, aber auch Schwierigkeiten verbunden. Durch die jahrgangsbezogenen Erwartungen des Helfens und HilfeEmpfangens erfolgt eine Differenzierung der Lernaufgabe, bei der asymmetrische Helfersituationen betont werden. Diese Differenzierung wirkt – wie das Verhalten von Klara zeigt – stärker als die Zusammenstellung der Teams durch die Lehrperson. Für Klara schaffen die unterschiedlichen, jahrgangsbezogenen Rollen Orientierung, indem sie ihr helfen, sich zurechtzufinden und – aus ihrer Sicht – unzumutbare Anforderungen zurückzuweisen. Auf diese Weise positioniert sie sich gegenüber Klassenkameradinnen und -kameraden sowie gegenüber der Lehrperson als Schulanfängerin und Hilfe-Empfängerin. Moritz ist gefordert, seine Position im Wettbewerb um den geschicktesten Fahrzeugbauer zu verteidigen. So muss er sich überwinden, den jüngeren Mauro, der sein Fahrzeug schon fertig hat, um Hilfe zu bitten. Indem er als ‚Hilfslehrer‘ Autorität auszuüben versucht, hält er die Asymmetrie gegenüber Mauro aufrecht. Wie Breidenstein formuliert, findet „fast jede Schüleräußerung im schulischen Kontext vor doppeltem Publikum statt: der Lehrperson einerseits und den Mitschülern andererseits“ (Breidenstein 2008, 204). Die Analyse der Helfersituationen im vorgestellten Unterrichtsbeispiel zeigt dies eindrücklich auf.
Literatur
Bardowicks, J. (2005). Das Helfersystem. Grundlagen für eine Didaktik des Lernens und Lehrens im jahrgangsübergreifenden Unterricht. Oldenburg: Oldenburger VorDrucke.
Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Breidenstein, G. (2008). Allgemeine Didaktik und praxeologische Unterrichtsforschung. In: M.A. Meyer et al. (Hrsg.), Perspektiven der Didaktik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Sonderheft 9. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 201-215.
Brüning, L.; Saum, T. (2008). Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen. Essen: Neue Deutsch Schule.
Campana, S. (2010). Kinder helfen Kindern. 4 bis 8. Fachzeitschrift für Kindergarten und Unterstufe, 11, 19-21.
Kelle, H. (2005). Kinder in der Schule. Zum Zusammenhang von Schulpädagogik und Kindheitsforschung. In: G. Breidenstein, A. Prengel (Hrsg.), Schulforschung und Kindheitsforschung – ein Gegensatz? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 139-160.
Kucharz, D.; Wagener, M. (2009). Jahrgangsübergreifendes Lernen. Eine empirische Studie zu Lernen, Leistung und Interaktion von Kindern in der Schuleingangsphase. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Laging, R. (Hrsg.) (2007). Altersgemischtes Lernen in der Schule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Marsolek, Th. (2003). Empirische Studien zum jahrgangsübergreifenden Unterricht. In: P. Heyer et al. (Hrsg.), Länger gemeinsam lernen: Positionen – Forschungsergebnisse – Beispiele. Frankfurt am Main: Grundschulverband, 67-74.
Mit freundlicher Genehmigung des Waxmann Verlages.
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