Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Falldarstellung
An Sequenzen aus zwei biografischen Interviews möchte ich aufzeigen, wie unterschiedlich Jungen mit demselben Migrationsintergrund sich zu ihrer Familie und besonders in Bezug auf ihre Väter positionieren und zeigen, dass ihre Einstellungen multifaktoriell begründet sind und sich nicht alleinig durch ihren (zugeschriebenen) kulturellen Hintergrund begründen lassen. Die Interviews habe ich 2006 im Rahmen meines Dissertationsprojektes in den Abschlussklassen an zwei norddeutschen Hauptschulen erhoben. Die Jungen wurden aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen; weitgehend frei und ohne eine Vorstrukturierung durch Interviewfragen, so dass ihre Schwerpunkte und eigene Sinngebungen in den Selbstpräsentationen gut zum Ausdruck kommen. Die hier vorgestellten Jungen besuchen dieselbe Klasse, beide sind als Kinder türkischer Einwanderer in Deutschland geboren.
Mehmet (15 Jahre) beschreibt seine Position innerhalb der Familie als „kleinere Ausgabe seines Vaters“, und erkennt die sich daraus ergebende Verantwortung für jüngere Verwandte und für das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit grundsätzlich an (zur ausführlichen Darstellung vgl. Huxel 2008):
Familie zusammenhalten
„Ich bin gern für meine Familie da, mich nennen die auch nach meines Vaters Namen: der kleine Yilmaz. […] also mein Vaters Vater ist ja auch gestorben, die Eltern meiner Mutter leben ja in der Türkei und deshalb bin ich der Aufpasser von den Kleinen; also bin jetzt der Ältestes von den Cousins, bin der Aufpasser von denen. Mein Vater von der Familie und ich von den Kleinen. […] Ich will ja nicht, dass meine Familie so, wie soll ich sagen, so bekannt ist als schlampig. Also ich will, dass meine Familie ordentlich ist, auch wenn ich noch jung bin, aber ich will versuchen, dass es so weitergeht, wie es jetzt ist, so ruhig.“
Sein Vater hat eine Vorbildfunktion für Mehmet, die er jedoch im Interview nicht weiter ausführt. Die Darstellung des Vaters bleibt zweidimensional und auf kurze Sequenzen beschränkt. Die Beziehung zur Mutter nimmt hingegen einen weitaus größeren Raum ein. Neben dem Vater fungiert auch sie – als bildungserfolgreicheres Elternteil – als Vorbild für Mehmet. Ebenso orientiert er sich sehr an seiner älteren Cousine, die er als starke und selbstbewusste Frau darstellt und die ihn bei familiären Konflikten unterstützt. Mehmets Vater ist also nicht sein einziges Vorbild innerhalb der Familie und auch seine Sorge um und für das Ansehen der Familie ist nicht nur als Erfüllung der in ihn gesetzten Ansprüche zu lesen, sondern muss auch als Reaktion auf einen von Mehmet als äußerst bedrohlich
empfundenen Familienkonflikt verstanden werden. Mehmet erzählt ausführlich und emotional berührt von diesem Konflikt, der auch seine Eltern involviert. Der familiäre Zusammenhalt wird von Mehmet als prekär erlebt – sein Wunsch, alles möge „ruhig“ bleiben und „so weitergehen wie es ist“ wird vor diesem Hintergrund auch als Angst eines Jugendlichen vor dem Auseinanderbrechen seiner Familie verständlich.
Schon die kurzen Einblicke in die biografischen Selbstpräsentation von Tarik (vgl. dazu Fall „Tarik“) und Mehmet machen die Heterogenität der Faktoren deutlich, die auf das Selbstbild junger Migranten wirken. Sie sind nicht alle einfach an Ehrbegriffen orientierte Machos, sondern sie sind als Jugendliche, Schüler, Bewohner eines bestimmten Stadtteils, Söhne, Freunde, Sportler, Gangmitglieder, Musiker usw. in verschiedene Netzwerke eingebunden und von verschiedenen Strukturen beeinflusst: Nicht zuletzt machen sie unterschiedliche Erfahrungen, die sie unterschiedlich auswerten. Ihre individuellen Biografien und ihre Eingebundenheit in soziale Strukturen beeinflussen sie stärker als (angenommene) kulturelle Dispositionen. Die Lebensgeschichten der Jungen nur mit dem Fokus auf Kulturdifferenz zu betrachten, wird der Komplexität ihrer Selbstdarstellungen nicht gerecht.
Literatur:
Huxel, K. (2008): Männlichkeit kontextualisieren – eine intersektionale Analyse. In: Potts, L./Kühnemund, J. (Hrsg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld, S. 65-78.
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