Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Oberstudiendirektorinnen der 1960er Jahre: „Lieselotte Tenbruck”
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Ursula Ullmann, Jahrgang 1946, ist eine der Schulleiterinnen, die mit ihrem Lebensentwurf nicht nur dem gegenwärtig vorherrschenden Modell weiblicher Lebensführung entspricht, sondern der es offensichtlich gelungen ist, Familie und Karriere miteinander zu verbinden: Seit dem Beginn des Referendariats im Jahre 1971 arbeitet sie kontinuierlich im Schuldienst und hat die sich ihr bietenden Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs genutzt. Dennoch lässt sie es in ihrer Selbstdarstellung so erscheinen, als sei ihr die Karriere, die für sie insgesamt zu klein geraten ist, ohne ihr Zutun in den Schoß gefallen: „Ja, ich hab es eigentlich nie beabsichtigt, sondern es ist alles, äh, äh, so so meine ganze äh äh berufliche Laufbahn ist eigentlich immer, hat sich so per Zufall ergeben.“
Die beruflichen Ambitionen, eine leitende Stellung zu übernehmen, werden bereits in ihrer Herkunftsfamilie grundgelegt: Zum einen vermitteln ihr die Eltern, die kurz nach ihrer Geburt unter den widrigen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit einen Druck- und Offsetbetrieb eröffnen, ein deutliches Interesse an Selbständigkeit einschließlich der Bereitschaft, ein hohes unternehmerisches Risiko zu tragen. Die Mutter arbeitet in diesem Betrieb mit und kümmert sich um das Kaufmännische, während der Vater die Werkstatt leitet. Zum anderen entwickelt Frau Ullmann als „typisches erstes Kind“ einen großen Ehrgeiz und ist von klein auf darauf bedacht, gute Noten in der Schule zu bekommen. Außerdem engagiert sie sich in der Schülermitverwaltung und übernimmt in der Oberstufe das Amt der Schulsprecherin.
Die Eltern unterstützen ihre intellektuelle Entwicklung, indem sie ihr mit Gymnasium und Studium einen Bildungsweg ermöglichen, der für Mädchen aus dem sozialen Milieu selbständiger Handwerker in den 1950er und beginnenden 1960er Jahren noch nicht üblich gewesen ist.(1) Zugleich lassen sie ihr aber auch eine strenge Erziehung angedeihen, die sie in ihren individuellen Entfaltungsräumen beschneidet:
U: „ … meine Mutter hat allerdings doch en großen Einfluss gehabt, das hab ich neulich- haben wir noch darüber gesprochen (.) wenn ich sehr spät nach Hause kam, im Studium (.) und ich ging dann die Treppe rauf (.) ich hatte irgendwo ein schlechtes Gewissen. Es war zwar keine Mutter da, die schimpfte, aber irgendwo hatte ich en schlechtes Gewissen. „
Aus dem Bedürfnis heraus, „gut sein zu wollen“ und anerkannt zu werden, macht sich Frau Ullmann die Erwartungen der Eltern zueigen: Auf Anraten der Mutter, die selbst gerne Lehrerin geworden wäre, beginnt sie ein Studium an einer pädagogischen Hochschule, obwohl sie persönlich „mit Jura geliebäugelt hat“. Selbst die Alternative, das Lehramt an Gymnasien einer Ausbildung zur Grund- und Hauptschullehrerin vorzuziehen, die sie kurze Zeit für sich in Betracht zieht, lässt sie fallen, als der Vater sie durch entsprechende Argumente von diesem Gedanken abbringt. Erst durch die positive Bestätigung eines Professors, dessen Seminare sie besucht, fühlt sie sich dazu ermutigt, von der Pädagogischen Hochschule an die Universität zu wechseln. Diese Tendenz, bei der Umsetzung eigener Wünsche auf personale Unterstützung angewiesen zu sein, hat sie bereits als Jugendliche wahrgenommen: „… ich hab immer so’n so’n inneren Verstärker gebraucht. Und dann hab ich’s mir auch zugetraut, das heißt also im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich das kann, aber ich brauchte immer den Tick von außen, ja.“
Den Plan, nach dem Staatsexamen promovieren zu wollen, verwirft Frau Ullmann recht schnell und zieht es stattdessen vor, das Referendariat zu absolvieren, um von den Eltern finanziell unabhängig zu sein. Danach unterrichtet sie an einem kleinstädtischen Gymnasium. Als nach sieben Jahren ihre Tochter geboren wird, beschäftigt sie sich erstmals mit konkreten beruflichen Aufstiegsplänen, die sie zwei Jahre später realisieren kann.(2) Frau Ullmann übernimmt zunächst die Funktion einer Fachleiterin an einem Studienseminar, anschließend wird sie MSS-Leiterin(3) an ihrer alten Schule bis sie Ende der 1980er Jahre als Schulaufsichtsreferentin in die Schulverwaltung wechselt. Da ihr die bürokratische Arbeit aber kaum Gelegenheit gibt, ihre eigene Person einzubringen, bemüht sie sich nach einigen Jahren um die Stelle der Schulleitung an dem Gymnasium, an dem sie zuvor lange Zeit Lehrerin gewesen ist. Ausschlaggebend dafür ist das Motiv, eine Position einnehmen zu wollen, die ihr größere Gestaltungsräume sowie die Möglichkeit gibt, Dispositionsaufgaben wahrzunehmen. An eine solche Ausrichtung, die sich an der Logik des Managements orientiert, ist zugleich das Bedürfnis gekoppelt, in ein vertrautes Beziehungsgeflecht eingebunden zu sein, um die erwartbaren Risiken einer größeren beruflichen Autonomie möglichst klein zu halten und sich erfolgreich als Direktorin bewähren zu können. Von daher reagiert sie mit Unverständnis, als die KollegInnen in der Behörde ihr von dieser Bewerbung abraten:
U: „Und dann hab ich lange überlegt, ob ich das machen soll, es waren gleichzeitig andere Schulen frei, wo ich mich hätte bewerben können. Aber irgendwo hing ich an der Schule. Und mir haben sie’s alle bei der Bezirksregierung dringend davon abgeraten, haben gesagt, mach das nicht, es taugt nicht, das war immer so das Bild: Man darf nicht in den Fluss eintauchen, aus dem man gekommen ist. Da hab ich gedacht, Mensch, ihr seid doch blöd, das ist doch toll. Ich kenne die alle und das müsste ein tolles Zusammenarbeiten sein und ich hab mich nicht beirren lassen.“
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen managerialen Ambitionen und dem Bedürfnis nach personaler Akzeptanz erwächst jedoch eine doppelte Gebrochenheit: Dabei kann Frau Ullmann weder die personale Orientierung, die ihr Sicherheit verleiht, in das Selbstbild einer unabhängigen (Schul)Managerin integrieren, noch kann sie zu den persönlichen Anstrengungen stehen, die der berufliche Aufstieg sie gekostet hat, da sie die eigene Laufbahn als Schulleiterin vor dem Tribunal ihrer hohen verinnerlichten Karrieremaßstäbe kaum anerkennen kann. Vielmehr gibt sie mit dem Kommentar „ich setz ja meine Karriere in Anführungsstriche“ zu verstehen, dass sie zwar eine so genannte, aber eben keine tatsächliche Karriere gemacht hat.
Die Ausrichtung an unterschiedlichen Handlungsmaximen wiederholt sich in der Ausgestaltung des Direktorinnenamtes: Primär sieht Frau Ullmann ihre Aufgabe in der Personalführung und Organisation der Schule, um ein reibungsloses Funktionieren aller schulischen Handlungsabläufe sowie ein erfolgreiches Arbeiten des gesamten Schulbetriebes ähnlich einem Dienstleistungsunternehmen zu garantieren. In ihrer beruflichen Praxis ist sie aber überwiegend damit beschäftigt, ein angenehmes Schulklima zu erzeugen und die einzelnen Kolleglnnen zu einem stärkeren Engagement in ihrer pädagogischen Praxis zu bewegen, um die Wissensvermittlung in einem kommunikativen Miteinander sicherzustellen. Obwohl es Frau Ullmann auf diese Weise gelingt, sowohl ein gutes Einvernehmen mit dem Kollegium herzustellen als sich auch in der Rolle der „Chefin“ erfolgreich zu positionieren bzw. mit diplomatischem Geschick die Steuerungsfunktion zu übernehmen, kann sie dieses Handlungsmuster nicht als persönliche Führungsstrategie anerkennen. Stattdessen betrachtet sie die spezifische Ausgestaltung des Leitungsamtes als strukturelle Notwendigkeit, während sie aus ihrer Sichtweise daran gehindert bleibt, ihre managerialen Ambitionen umzusetzen:
„Also ich wusste immer, dass Schulleitung oder Schulleiterinnen und Schulleiter, nicht mit n’er großen Kompetenz verbunden ist, also mit großen Machtbefugnissen verbunden ist. Ich habe mir aber ähm (.) nicht vorgestellt, dass meine Hauptaufgabe darin besteht, ich drück das immer so aus, Klimaanlage in der Schule zu sein. Ich laufe also, und das ist bis heute so, den ganzen Tag gut gelaunt herum, zeige allen, wie gut es mir geht, wie toll ich die Schule finde, spreche alle Leute an, wie geht’s und was machen sie und wie ist dies oder das. … Und es hat mich einfach gestört, dass dass man so oft (.) ((seufzt)) jemand den Stups geben muss und mach doch und tu doch mal, dass viele Dinge eben nicht von sich aus liefen, sondern immer erst auf Aufforderung hin oder auf Anregung hin … .“
Steht in der Kooperation mit der Lehrerschaft die Weisungsbefugnis der Schulleitung im Mittelpunkt, definiert sich Frau Ullmann gegenüber den SchülerInnen als Ansprech- und Vertrauensperson. Diese Beziehung beinhaltet für sie diese „ganz starke menschliche Komponente“, die sich in der Zusammenarbeit mit dem Kollegium nicht realisieren lässt, weswegen sie die SchülerInnen letztlich als KoalitionspartnerInnen bevorzugt. Ihre Intention, eine besondere Akzeptanz auf Seiten der SchülerInnen zu finden, behindert sie jedoch in der Gestaltung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses.
Im Unterschied zu ihrer Kollegin aus den 1960er Jahren genügt es Frau UIlmann nicht, sich auf Beruf und Karriere zu konzentrieren, sondern zu ihrem Lebensentwurf gehört es wie selbstverständlich hinzu, auch Ehefrau und Mutter zu sein, da sich erst damit weibliche Lebensführung für sie komplettiert. Die Vereinbarung von Mutterschaft und Karriere, die sie zwar auf der praktischen Handlungsebene einlöst, evoziert aber den inneren Konflikt, den eigenen Maßstäben, die sie mit einem beruflichen Aufstieg verbindet, nicht gerecht zu werden: Um sich der Erziehung ihrer Tochter stärker widmen zu können, stellt sie ihre ehrgeizigen beruflichen Pläne zunächst zurück, während sich das mütterliche Engagement, aus der Perspektive ihres verschärften beruflichen Bewährungsanspuchs als Einschränkung der angestrebten Karriere erweist, was sie mit der Schilderung ihrer beruflichen Laufbahn erkennen lässt:
„… und wurde dann (2) das ergab sich auch per Zufall äh gleich MSS-Leiterin und bin das lange Jahre gewesen bis meine Tochter dann groß war Das war immer der Punkt warum ich eigentlich nicht früher gedacht habe in die Schulleitung zu gehen, weil ich wusste, äh, das würde die ganze Frau verlangen und äh das wollte ich einfach meiner Tochter nicht antun.“ Ich hatte zwar immer ne sehr zuverlässige Kinderfrau aber äh das ist es ja nicht allein, man will ja auch irgendwo mit dem Kind zusammen sein und ich mein die Realität heute bestätigt das. Ich könnte das was ich heute leiste, hätte ich damals nicht leisten können und äh von daher kam der Gedanke sich überhaupt zu bewerben, eigentlich relativ spät.“
Kann Frau Ullmann also ihre Vorstellungen von Mutterschaft trotz ihres Engagements in einer schulischen Funktionsstelle einlösen, bleibt sie aber aufgrund der Orientierung an ihrem beruflichen Bewährungsmythos daran gehindert, ihren ehrgeizigen Karriereplänen nachzugehen. Mit anderen Worten: Mutterschaft schließt für sie zumindest während der Erziehungsphase ihrer Tochter das durchaus angestrebte Amt der Schulleitung aus, das aus ihrer Sicht die ganze Person erfordert.
Somit lässt sich für die 1990er Jahre ein Schulleiterinnentypus feststellen, bei dem der Bewährungsmythos der Bürgerlichkeitsethik durch eine Identifikation mit dem Deutungsmuster des Managements abgelöst wird. Für Frau Ullmann, die jenen Typus verkörpert, stiftet diese moderne Variante der Leistungsethik das Potential, ihren beruflichen Aufstieg zu vollziehen und ihre Rolle als Schulleiterin auszugestalten. Im Unterschied zu dem Typus der „Äbtissin“ vermag sie es jedoch nicht, ihren Mythos,(4) der einer kollektiv geteilten Praxis entbehrt, sich vollends zu eigen zu machen. Vielmehr sieht sie sich angesichts ihres Bedürfnisses nach Sicherheit dazu veranlasst, den angestrebten beruflichen Erfolg dadurch einzulösen, indem sie an gewachsenen Beziehungen anknüpft und ihre Position als schulische Führungskraft mit Hilfe ihrer kommunikativen Kompetenz zu legitimieren versucht: Eine solche Strategie kollidiert nicht nur mit dem managerialen Selbstverständnis, sondern behindert diesen Typus, der als „Managerin mit dem Bedürfnis nach personaler Akzeptanz“ gekennzeichnet werden kann, zudem bei der Gestaltung einer pädagogisch professionellen Leitungspraxis. Neben ihren beruflichen Ambitionen versucht Frau Ullmann zugleich dem Anspruch einer Familie und der Aufgabe als Mutter gerecht zu werden. Mit der Entscheidung für die Mutterschaft gerät sie aber in das Dilemma, ihren verinnerlichten Karriereansprüchen nicht genügen zu können.
Fußnoten:
(1) Interessant erscheint, dass Frau Ullmann im Interview erwähnt, dass ihre Karriere begonnen habe, „unmittelbar nachdem meine Tochter geboren war“. Aus den objektiven Daten geht aber hervor, dass sich der berufliche Aufstieg erst zwei Jahre danach realisiert. Daraus kann man schließen, dass sie den Zeitraum, in dem sie vermutlich ihre Aufstiegsinteressen angesichts der Inanspruchnahme durch die kleine Tochter zurückgestellt hat, ausblendet und sich nachträglich karrieristischer repräsentiert als sie es in Wirklichkeit gewesen ist.
(2) Die Funktionsstelle der MSS-Leitung (Mainzer Studienstufe) wurde im Rahmen der Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe während der 1970er Jahre geschaffen. Sie umfasst im Wesentlichen zwei Teilbereiche: In organisatorischer Hinsicht beinhaltet sie die Aufgabe, die Kurswahlen der OberstufenschülerInnen durchzuführen, d.h. die Leistungskurse zusammenzustellen. Dies schließt zugleich den pädagogischen Aspekt ein, die SchülerInnen entsprechend ihrer spezifischen Neigung und Leistung zu beraten (Persönliche Mitteilung der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Koblenz).
(3) Damit drückt Frau Ullmann ihr Verantwortungsbewusstsein für die Tochter aus, das sie jedoch nicht selbstbewusst vertreten kann, sondern durch eine negativ gefärbte Formulierung eher kaschiert.
(4) In jüngster Zeit ist zwar in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion sowie in der pädagogischen Praxis das Management als Leitbild moderner Schulleitung stark gemacht worden (vgl. Höher/Rolff, 1996; Wissinger 1997), ohne dass jedoch Konsens darüber besteht, diese Konzeption als ein allgemein gültiges Modell schulischen Leitungshandelns zu verstehen.
Literatur:
Höher, P./Rolff, H.-G. (1996): Neue Herausforderungen an Schulleitungsrollen: Management – Führung – Moderation. In: Rolff, H.-G./Bauer, K.-O./Klemm, K./Pfeiffer, H. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Daten, Beispiele, Perspektiven. Band 9, Weinheim; S. 187-219.
Wissinger, J. (1996): Perspektiven schulischen Führungshandelns. Eine Untersuchung über das Selbstverständnis von SchulleiterInnen. Weinheim/München.
Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.