Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Zwischen dem physikalisch-inhaltlichen Unterricht und Sprachunterricht erfolgt keine klare Stundenaufteilung, eine Lehrkraft äußert sich dazu wie folgt:

Wir klären eigentlich nicht so viele Vokabeln, da geht zwar immer schon ein bisschen Zeit bei drauf, aber nicht eine Stunde pro Woche. Ich nehme auch nicht eine Stunde extra für Spracherwerb, sondern mache das so nebenbei, wenn ich auch neue Vokabeln einführe. (LIp 10221k)

Der Lehrer weist dem sprachlichen Lernen in dieser Aussage einen recht geringen Stellenwert zu, die Aussage „wir klären eigentlich nicht so viele Vokabeln“ deutet darauf hin, dass unter Spracherwerb im Physikunterricht in erster Linie das Erlernen und Verwenden von physikalischem Fachvokabular verstanden wird. Diese Position wird gestützt durch seine Aussage ein wenig später im Interview, in dem er ein gleiches Verständnis spezieller Fachvokabeln bei seinen Kolleginnen und Kollegen anderer bilingualer Unterrichtsfächer bestätigt:

Die Schüler sind ja auch schon besser geworden, in der neunten Klasse war das ja ganz neu für sie, das Fachvokabular ist ja auch sehr spezifisch. Wenn ich mich etwa mit meinen Kollegen und Kolleginnen austausche, die Geschichte auf Englisch unterrichten, dann verstehen wir uns gegenseitig kaum, weil das schon wirklich spezielle Vokabeln sind, mit denen wir da arbeiten. Aber ich habe auch bei den Schülern gemerkt, dass sie einfach sicherer geworden sind mit der Sprache in Physik. Da merkt man schon, dass sie ja jetzt auch schon eine ganze Weile Fachunterricht auf Englisch haben. (LIp 10221k)

Der Lehrer nennt hier verschiedene Faktoren, die seiner Ansicht nach für den Sprachleistungsstand der Lernenden eine Rolle spielen: Zum einen die ,Gewöhnungszeit‘, („in der neunten Klasse war das ja ganz neu für sie‘), die Klasse war zum Zeitpunkt des Interviews im zweiten Halbjahr des 9. Jahrgangs, die von ihm als legitim empfundene Zurückhaltung zu Beginn des 9. Jahrgangs lässt nun nach. Die zeitlich längere Dauer des bilingualen Physikunterrichts geht offenbar unmittelbar auch mit dem (fach-)sprachlichen Leistungszuwachs einher. Herr Fehn stellt einen unmittelbaren Zusammenhang her zwischen der Tatsache, „dass sie einfach sicherer geworden sind mit der Sprache in Physik“ und „dass sie ja jetzt auch schon eine ganze Weile Fachunterricht auf Englisch haben“. Der Leistungszuwachs für das Fach Physik wird eindeutig gemessen an dem Erwerb des physikspezifischen Fachvokabulars. Diese Sicht verweist darauf, dass sich die Fachkultur Physik hier durchsetzt und sie eben nicht neben eine andere (fremdsprachliche) Fachkultur positioniert wird.

Erstaunlich ist, dass der Lehrer sich nicht auf die Wirkung des Gesamtprogramms des bilingualen Zweiges bezieht, die Klasse hat ja nun schon seit Jahrgang 5 eine erhöhte Stundenzahl im Englischunterricht und erhält in mehreren Fächern bilingualen Unterricht. Er erwähnt auch nicht das im Schulprogramm genannte übergeordnete Ziel und Verständnis des bilingualen Zweiges, sich insgesamt auf Englisch in Fachkontexten ausdrücken zu können (vgl. Schulprogramm der Schule). Ein Zusammenspiel und gegenseitiges Voneinanderprofitieren der unterschiedlichen bilingualen Fächer wird nicht nur nicht erwähnt, sondern die Fächer grenzen sich durch ihr jeweils eigenes Vokabular explizit voneinander ab. (1)

Eine andere Lehrkraft formuliert dies etwas anders, sie schreibt der sprachlichen Seite eine durchaus zentralere Rolle im bilingualen Unterricht zu:

[…] ich kann ja sehr viel flexibler gestalten und auch dadurch, dass ich den Freiraum hab, mich mit der sprachlichen Seite mehr zu befassen, kann ich ja die Ausformulierung von Problemen, die Erklärung von Phänomenen kann ich ja ausführlicher machen. Das ist mir aber generell wichtig. Sei es nun auf Deutsch oder sei es auf Englisch. Dass die Schüler lernen, sich auszudrücken. Über das Lernen den Unterschied zwischen Beobachtung und Interpretation zu verstehen und dass sie auch lernen, ihre Aussage klar zu gestalten. Das wäre mir auf Deutsch und auf Englisch wichtig. Und da hab ich eben in Physik auf Englisch, dadurch, dass ich die eine Stunde mehr hab, mehr Zeit dafür, für solche Dinge. Auch Zeit zu sagen, gut, das war jetzt meine Erklärung, jetzt lesen wir es noch mal im Buch durch und gucken noch mal, hier ist es auf einer anderen Art und Weise erklärt. Und dann kann ich fragen, fallen euch Unterschiede auf zwischen dem, was wir bisher gemacht haben. Ist hier etwas anderes noch zusätzlich erklärt? Ich kann also in dieser Form über den Text reden. Das wäre im Physikunterricht auf Deutsch auch sinnvoll und hilfreich, aber da hat man dann oft die Zeit nicht dafür. (LIp 10319k)

Die Lehrerin betont zwei Mal, dass sie hinsichtlich des Stellenwerts von Sprache keinen Unterschied macht zwischen deutschsprachigem oder englischsprachigem Physikunterricht. Dahinter erkennbar ist generell ein Sprachkompetenzen einbeziehendes Verständnis von naturwissenschaftlichem Unterricht. Ihrer Darstellung nach ermöglicht der fremdsprachliche Unterricht den ,Freiraum‘, über Sprache inhaltliche Anforderungen zu erfüllen, sie nennt explizit Ausdrucksvermögen, Klarheit in formulierten Beobachtungen und medial unterschiedliche Darstellungsformen bei Erklärungen gleicher Versuche. Diese Form der Textarbeit, ebenso wie das Trainieren einer Differenzierung zwischen Beobachtung und Interpretation, beinhaltet deutlich Sprach- und Textarbeit implizierende Kompetenzen. Diese hält sie auch im deutschsprachigen Unterricht für erstrebenswert, sie seien aber zeitlich kaum möglich. Möglicherweise spielt bei ihrer Perspektive auf naturwissenschaftlichen Unterricht auch ihre Funktion als Sprachlehrerin im zweiten Unterrichtsfach (Englisch) eine Rolle. Die Form der Darstellung, die vertiefte Spracharbeit als ,Freiraum‘ zu sehen und die Betonung dessen, dass der erweiterte Zeitrahmen erst die Arbeit an Sprachkomponenten möglich mache, deutet daraufhin, dass sie persönlich im ,normalen‘ Physikunterricht keine Realisierungsmöglichkeit hierfür sieht.

Deutlich wird an einer weiteren Interviewstelle dann, wie wenig ihre Sicht auf den Stellenwert von Sprache im Physikunterricht letztlich das fachkulturelle Verständnis von Physik verändert:

KW: Sie haben ja nun einen Blick auf beide Bereiche, auf den sprachlichen und auf den naturwissenschaftlichen, wie würden Sie die beschreiben oder wo würden Sie Unterschiede sehen zwischen beiden Bereichen?
L: Ja, im Englischen kommt es ja stark darauf an, wie man etwas formuliert, auf das, wie man es sprachlich in Worte fasst und es kommt und es wird auch viel, zwischenmenschliche Bereiche werden thematisiert, Gefühle werden thematisiert. Also, sowohl die Form ist anders, weil mehr Wert auf den Stil gelegt wird, als auch die Inhalte sind anders. Und in Physik kommt es eben sehr viel mehr darauf an, Dinge zu erklären, Modelle für etwas zu entwickeln, sich etwas zu veranschaulichen. Und natürlich spielt auch hier der Stil eine gewisse Rolle, aber es geht in erster Linie darum, etwas klar auszudrücken. Und in den Physikarbeiten z. B. da, wenn ich das mit den Schülern durchgehe, dann sag ich auch immer, hierfür gab es einen Punkt, dafür gab es einen Punkt oder ich mache es so, dass ich für jeden richtigen Gedanken ein Haken ransetze und je nach dem kriegen sie dann Punkte in der Arbeit. Und im Englischen kommt es eben sehr viel mehr darauf an, wie sie etwas sagen. Es ist nicht so eindeutig, richtig oder falsch im Englischen. Man kann ja verschiedene Meinungen haben, man kann ja verschiedener Meinung sein zu einem Thema. (Up 10319k)

Sie beschreibt für den Physikunterricht die Notwendigkeit einer „klaren“ Ausdrucksweise, wobei die Möglichkeit zu eindeutig richtigen oder falschen Antworten in diesem Fach auch gegeben ist, „verschiedene Meinungen“ wie in Englisch gibt es ihrem Verständnis nach hier nicht. Stil spielt hier mehr als Mittel zum Zweck eine Rolle, zentral ist jedoch der physikalisch korrekte Inhalt.

Wenngleich beide Lehrkräfte etwas unterschiedliche Positionen zum Stellenwert von sprachlichen Lerninhalten im bilingualen Physikunterricht beschreiben, spiegelt sich doch deutlich die Position von Sylvia Fehring und Claudia Finkbeiner wider, nach welcher nicht die Vermittlung von Sprachkompetenz, sondern von Sachkompetenz im Mittelpunkt des bilingualen Sachfachunterrichts steht (vgl. 2002: 25ff.). Physikunterricht vermittelt so den Eindruck eines übersetzten monolingualen Unterrichts und bleibt damit zentral der Fachkultur Physik verhaftet. Der zwischen Sprache und physikalischem Fachinhalt verbindende Lernerfolg liegt hiernach in der Verantwortung der Schüler und Schülerinnen selber.

Fußnote:

1.) Auch Frau Langer teilt diese Position, am Beispiel „work“ versucht sie im Unterricht die Verwendung als physikalische Fachvokabel und als „daily language“-Vokabel zu klären: „Frau Langer führt aus: „In physics words get a special meaning. Like „work”. In daily language they mean something different. What means work in daily language?“ Mehrere Schülerinnen antworten darauf. Frau Langer sammelt die Begriffe an der Tafel, z. B.: „Job“, „Homework“ etc.“ (Bp01004d).

Mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages
http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-688-5/schulische-fachkulturen-und-geschlecht

 

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