Falldarstellung

[1] Björn kommt im Dezember des ersten Schuljahres mit etwas über acht Jahren in unsere Klasse. Er ist kurz zuvor in eine betreute Wohngruppe im Ort eingewiesen worden, um zum Halbjahreswechsel seiner Schulpflicht in der Schule für Erziehungshilfe nachzukommen.

Björn kam mit knapp sieben Jahren als nicht schulreif in den Schulkindergarten. Er verhält sich dort auffällig und wird im Mai des folgenden Jahres in die Kinderpsychiatrie eingewiesen. Im September wird er entlassen und anschließend in die erste Klasse der Grundschule eingeschult, in der er auch den Schulkindergarten besucht hat. In einem Brief wird der Mutter kurz darauf die Beantragung eines Sonderschulaufnahmeverfahrens mitgeteilt:

[2]
Sehr geehrte Frau […],
Björns Verhalten in der Schule ist inzwischen nicht mehr tragbar. Er stört den Unterricht derart, daß die anderen Kinder nicht arbeiten können.
Selbst im Sportunterricht verweigert er die Teilnahme, bringt keine Arbeitsmittel (Mäppchen, …) mit und ist durch nichts zu einem regelgerechten Verhalten zu bewegen.
Ein Sonderschulaufnahmeverfahren habe ich beantragt. Dieses nimmt allerdings viel Zeit in Anspruch.
In der Zwischenzeit kann ich Björn eigentlich nicht weiter beschulen. Im Rahmen von Ordnungsmaßnahmen müßte ich ihn vom Unterricht ausschließen. Da Sie, wie Sie mir mitteilten, ihn aber zu Hause in dieser Zeit nicht versorgen könnten, wenden Sie sich bitte an Frau [ …] beim Jugendamt […] und bitten um eine Notunterbringung für Björn bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine reguläre Unterbringung in einem Heim mit heilpädagogischer Förderung erfolgen kann.

Mit freundlichen Grüßen

[3] Mitte November kommt Björn in eine Wohngruppe im Einzugsbereich unserer Schule bzw. letztendlich in unsere Klasse. In unserem Offenen Unterricht stellt er sich keineswegs als so unbeschulbar heraus, wie die erstellten Gutachten vermuten lassen. Mit unterrichtlichen Dingen beschäftigt sich Björn zunächst zwar relativ wenig, sondern geht lieber in der Klasse herum, guckt, was andere Kinder machen, setzt sich vor den Computer oder blättert Bücher durch. Er weiß sich aber in der Regel gut alleine oder mit anderen Kindern zu beschäftigen. Dabei vermeidet er alles, was irgendwie mit „Schule“ zu tun hat. Sobald er Verpflichtungen verspürt, blockiert er vorsorglich und verweigert die Arbeit. Es hat den Anschein, als ob er die erste Zeit weitgehend dazu nutzt, zu sehen, ob die ihm hier gewährte Freiheit bzgl. des Lernens auch ernst gemeint ist. Da bei ihm ansonsten keine Auffälligkeiten zu beobachten sind, ist zu vermuten, dass er diesen Freiraum nicht nur schätzt, sondern wahrscheinlich sogar benötigt.

[4] Björn akzeptiert dabei die demokratischen Grundstrukturen der Klasse von Anfang an. Die von den Kindern selbst gemeinsam gefassten Regelungen in der Klasse – die Verbote und Strafen mit einschließen – scheinen für ihn eine andere Qualität zu haben als die Regelungen bzw. „Erziehungsmaßnahmen“, die er außerhalb dieses Umfelds bzw. vor allem in der Wohngruppe erfährt. Hier ist er nicht so „pflegeleicht“ wie in der Klasse – wird allerdings auch dauernd korrigiert und zu einem bestimmten Verhalten angehalten.
(…)
Björn kann, als er im Dezember in unsere erste Klasse kommt, ungefähr die Hälfte der Buchstaben der Buchstabentabelle von Reichen benennen. Nach wenigen Schulwochen fängt Björn plötzlich wie selbstverständlich an, zum derzeit beliebten Karnevalsthema Vampire am Computer zu schreiben: „ein vampir fligt ins haus er ermordet ein medchen“. Auffällig war damals nicht nur, dass Björn in der Schule überhaupt etwas freiwillig gearbeitet hat, sondern dass er direkt lautgetreu verschriftet hat. Auch danach schreibt Björn immer öfter – meist am Computer und aufbauend auf seine Vampirgeschichte vor allem „gruselige“ Inhalte.

[5] Während Björn zum Ende des Halbjahres seine Verschriftungen noch nicht selbst lesen kann, wird bei den Vorbereitungen für die Karnevalsfeier zufällig offensichtlich, dass er das sinnentnehmende Lesen doch schon beherrscht. In einer Kindergruppe, die verschiedene Sorten von Wackelpudding mit eingelegten Weingummitierchen herstellen möchte, liest er ganz versiert die – sehr klein geschriebenen und nicht leicht zu verstehenden – Anleitungen auf den Packungen vor und leitet die Herstellung (inklusive dem Abmessen der Wassermengen in ml bzw. Brüchen) an. Ähnlich ist es auch einen Monat später beim Färben von Ostereiern. Björn sieht sich zwar hin und wieder gerne Bücher an, es hat aber nicht den Anschein, als ob er gezielt lesen würde. Trotzdem kann er immer Auskunft über das Gelesene geben. Zum Ende des ersten Schuljahres kann Björn Texte aller Art gut und fast flüssig vorlesen.

[6] In den ersten Tagen nach den Sommerferien hat Björn leichte Anlaufschwierigkeiten. Er arbeitet nicht bzw. wenig und findet ungewohnterweise auch keine eigenen Beschäftigungen. Am Ende der folgenden Woche bittet er den Lehrer, ihm Schreibschrift beizubringen. Dabei stellt sich schnell heraus, dass Björn eigentlich noch gar nicht Schreibschrift lernen will, sondern dies seinen Erzieherinnen zuliebe machen möchte bzw. machen soll. Diese bzw. ähnliche Formen der Einflussnahme der ihm wichtigen Bezugspersonen auf seine Lernentscheidungen sind auch in der Zukunft üblich, wobei den Erzieherinnen wahrscheinlich nur mit Einschränkungen klar ist, in welcher Weise sie Björn hier fordern bzw. welche inneren Konflikte sie ihm durch das Spiel mit dem Liebesentzug auferlegen. Nachdem der Lehrer Björn bezüglich des Schreibschriftlernens wieder mehr inneren Freiraum einräumen kann, fängt Björn in der folgenden Woche weiter an zu arbeiten, indem er beispielsweise ein Buch liest und danach über den Inhalt schreibt.

[7] In der Folge verblüffen Björns Leistungen alle Beteiligten. Ohne „schulisch“ zu arbeiten, erreicht er hohe Kompetenzstufen beim Schreiben, Rechtschreiben, Lesen und Rechnen. Seine Vorleseleistung ist schnell mit „sehr gut“ zu bezeichnen. Im Worterkennungstest des Hamburger Lesetests Hamlet erreicht Björn im vierten Schuljahr mit der maximalen Punktzahl die Stufe sehr hoher Lesegeschwindigkeit, im Bezug auf das Leseverständnis erreicht er einen Prozentrang von 76-78. Das heißt, Björn kann nicht nur verschiedene Informationen und Hintergrundinformationen aufnehmen und zusammenführen, sondern auch kombinieren und rekonstruieren und zu einem großen Teil inferentiell verknüpfen, d.h. Informationslücken aus Kontext und Allgemeinwissen ableiten und schlussfolgernd denken. Damit liegt Björns Lesekompetenz trotz seiner zu Anfang geringen Vorkenntnisse nach kurzer Zeit kontinuierlich im oberen Leistungsbereich – ohne jede unterrichtliche Unterweisung oder eine gelenkte Leseerziehung. Björn entwickelt eine hohe Lesemotivation und macht dabei auch vor anspruchsvollen Büchern wie z.B. der Unendlichen Geschichte nicht halt, sondern liest das Buch sogar mehrfach. (…)

Interpretation

[8] Björn wird aus dem Schulkindergarten in die Psychiatrie eingewiesen, kommt dann in die Regelschule zurück, wo aber kein ernsthafter Versuch der Beschulung mehr vorgenommen wird, wie die Kurzfristigkeit der Beantragung des Sonderschulaufnahmeverfahrens und Bemerkungen im Schriftverkehr mit der Mutter ersichtlich machen:

In allen Belangen erweckt er den Eindruck eines – in unserer Schule – nicht beschulbaren Kindes. [Gutachten der Klassenlehrerin]

In der Zwischenzeit kann ich Björn eigentlich nicht weiter beschulen. Im Rahmen von Ordnungsmaßnahmen müsste ich ihn vom Unterricht ausschließen. [Schreiben der Schulleiterin]

[9] Gerade der erste Satz trifft die Situation – und zwar durch den Einschub, der nicht heißt „in der Regelschule nicht beschulbaren Kindes“ sondern „in unserer Schule (oder Klasse) nicht beschulbaren Kindes“ …

Im Rückblick auf Björns Entwicklung in der hier untersuchten Klasse und auch aus späteren Bemerkungen Björns gewinnt der Lehrer immer mehr den Eindruck, dass Björn – trotz seiner sicherlich ungünstigeren familiären Ausgangslage – nicht von vornherein „schwer erziehbar“ war, sondern sein Verhalten auch eine unmittelbare Reaktion auf das Verhalten seiner Umwelt dargestellt hat.

[10] Björn scheint in seiner Kindheit nicht viel Verlässlichkeit gehabt zu haben. Es ist verständlich, dass jemand, der von der Mutter entweder stundenlang vor dem Fernseher abgestellt, bei anderen Leuten untergebracht oder ganz allein gelassen wird, erst einmal vorsichtig ist mit Vertrauen in neuen Situationen. Auch später noch weisen viele Verhaltensweisen Björns darauf hin, dass er so richtig eigentlich nur sich selber vertraut und auch Menschen, die ihm nahe stehen, immer wieder nicht wirklich bzw. verlässlich an sich heran lässt.

[11] Björn macht später in Klassen- oder Einzelgesprächen einige Bemerkungen, die auf seine Enttäuschung bei bzw. nach der Einschulung hinweisen. Eine davon ist dem Lehrer noch gut in Erinnerung, als Björn dem Wortlaut nach ungefähr erzählt: Und dann haben wir immer so Lieder gelernt. So „Indianer und Chinesen, alle lernen lesen“ – und das fand ich ja so bescheuert! Nimmt man diese Äußerung Björns einmal wirklich ernst, so ist man versucht, Björns Verhalten im Schulkindergarten, in der Klinik und auch seiner ersten Klasse anders bzw. weitreichender zu deuten als die begutachtenden Lehrer und Ärzte es gemacht haben. Dieser Deutungsversuch vereinfacht sicherlich die viel komplexeren tatsächlichen Zusammenhänge, kann aber u. U. eine Betrachtungsweise mit ins Spiel bringen, die Björn in dieser Situation gerechter wird als die damals vorgenommenen Beurteilungen.

[12] Es könnte sein, dass Björn mit einer bestimmten Vorstellung und Erwartung in die Schule kam, einer Vorstellung wie: „Ich lerne jetzt lesen, schreiben, rechnen.“ Spannende Tätigkeiten an sich. Was er in der Schule aber dann kennen gelernt hat, ist – wie vorsichtig aus seinen Beschreibungen, aber auch aus den Gutachten und seinen alten Arbeitsheften abgeleitet werden kann – nicht nur aus seiner Sicht eher der Beschäftigungstherapie zuzuordnen: Anstatt zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, werden ihm viel zu kindisch erscheinende Lieder gesungen, Schwungübungen gemacht oder Fibelsätze auswendig gelernt. In seinen Unterlagen sind haufenweise „individuelle“ Übungen für Björn zu finden.
(…)
In Björns Schreibheft kommen nach einem sehr umfassenden Teil, in dem seitenweise reine Schwungübungen gemacht werden, später die Übungen, mit denen Björn Schreiben lernen sollte. Wie bei den Schwungübungen hat die Lehrerin über mehrere Zeilen hinweg am Zeilenanfang den einzuübenden Buchstaben geschrieben, den Björn dann immer über die ganze Zeile eintragen sollte. Nach dem einzelnen Einüben bestimmter Buchstaben folgt dann eine abzumalende Buchstabenkombination (…). Und dagegen hat sich Björn durch Arbeitsverweigerung bzw. Streik gewehrt.

[13] Wenn diese Aussage auch hypothetisch ist, so scheinen Björns Verhalten und auch seine weitergehende Entwicklung in unserer offen unterrichteten Klasse auffällig in diese Richtung zu deuten (inwiefern der Wegzug von zu Hause auch eine Rolle gespielt hat, kann nicht gesagt werden). Björn wird nun in der Schule nicht mehr gezwungen, ihm im Moment nicht sinnvoll erscheinende Tätigkeiten auszuführen, sondern hat jederzeit die Möglichkeit, zu lesen, zu schreiben oder zu rechnen. Hat ihm seine vorherige Schule bescheinigt, dass er nicht lesen, schreiben, rechnen wolle, so würde unter diesem geänderten Blickwinkel Björn seiner vorigen Schule bescheinigen müssen, dass sie ihn durch all die (gutgemeinten) Prozeduren, die man gängigerweise erst tun muss, bevor man endlich lesen, schreiben, rechnen darf, eben genau daran gehindert hat. Gehindert am Lesen-, Schreiben-, Rechnenlernen. Die Schule.

[14] Im Offenen Unterricht hat Björn nach einiger Zeit (wieder?) Vertrauen in sein eigenes Lernen gewinnen können. Er hat schon nach wenigen Wochen Schule in allen Bereichen einen Lernstand erreicht, der vergleichbar mit dem anderer Kinder war. Ob Björn bis dahin sein tatsächliches Wissen absichtlich verborgen gehalten hat (was auf Grund der Beobachtungen in nicht schulischen Situationen eher unwahrscheinlich erscheint), oder ob ihm erst der Freiraum durch den Verzicht auf Unterricht das Ausbilden bzw. Erlernen der entsprechenden Kompetenzen ermöglicht hat, ist nicht abschließend zu beantworten. Sicher ist jedoch, dass Björn sich schon im nächsten Halbjahr immer mehr und kontinuierlicher an schulische Arbeiten gibt und trotz seiner nur sporadischen oder beiläufigen Aktivitäten in allen Bereichen erstaunliche Kompetenzen ausbildet. Nicht nur in den oben angesprochenen Bereichen erreicht er in entsprechenden Normtests Ergebnisse im obersten Bereich und ist mit diesen Messinstrumenten auf Grund des Deckeneffektes nicht mehr differenziert zu erfassen.

Björn wechselt schließlich nach seiner Grundschulzeit mit einem Notenschnitt von 2,9 auf das Gymnasium.

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