Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die beobachteten Fußballkonferenzen fanden an einer staatlichen Grundschule statt, in der seit vielen Jahren das Einberufen von Konferenzen zum Schulalltag gehört. Fest verankert ist zum einen die Kinderkonferenz, bei der die Schulgemeinschaft (alle Kinder und Lehrkräfte) sich im monatlichen Rhythmus versammelt und in einem festgelegten ritualisierten Ablauf über Anliegen und Probleme diskutiert. Die Konferenz umfasst ein Zeitfenster von 45 Minuten und wird abgeschlossen mit einem Abstimmungsverfahren, in dem jedes Kinder wie auch jede Lehrperson eine Stimme haben und sich auf verbindliche Beschlüsse einigen. Daneben gibt es thematische Konferenzen, die auch institutionalisierter Bestandteil des Alltags an der Schule, in ihrer Gestaltung aber frei sind. Zu diesen gehören die Fußballkonferenzen.
Wie kam es zur ersten Fußballkonferenz?
Eine Gruppe von Jungen spielte in der Pause auf dem Schulhof Fußball. Einer der Jungen, der Schiedsrichter, hatte das Tor nicht gesehen oder nicht sehen wollen und darüber entbrannte in der Gruppe ein Streit. Im Klassenrat einer Lerngruppe wurde darüber diskutiert und auf Vorschlag von Jonas, einem der Fußballspieler, eine Fußballkonferenz einberufen. Regelmäßig spielten 13 Jungen der 3. und 4. Klassenstufe gemeinsam Fußball und sie alle wollten an der Fußballkonferenz teilnehmen. Deren Abhalten wurde von den Lehrerinnen der beteiligten Lerngruppen zeitlich in den Unterrichtsverlauf der Woche eingepasst. In den Absprachen vor der ersten Fußballkonferenz erklärten die Jungen, dass sie neue Schiedsrichter festlegen, noch einmal über die Regeln beim Spiel diskutieren und über einen neuen Ball sprechen wollen. Zudem legten sie fest, dass sie die Fußballkonferenz ohne Lehrerinnen durchführen wollen. Ich war den Jungen als Forscherin bekannt und bat sie darum, teilnehmen zu dürfen. Dabei versicherte ich ihnen, dass ich nicht über die Konferenz mit den Lehrerinnen sprechen werde. Die Jungen erlaubten mir die Teilnahme, dazu gehörten auch die Aufnahme mit einem Audioaufnahmegerät und das Mitschreiben von Notizen. An der Konferenz nahm ich „stumm“ teil, d.h. ich stellte keine Fragen oder griff in irgendeiner Form ein. Die erste Fußballkonferenz dauerte 39 Minuten, in den ersten 14 Minuten wurden die eigentlichen Fragen geklärt: Die Jungen wählten neue Schiedsrichter und legten die Regeln für das Fußballspielen in der Hofpause fest. Daran anschließend führt Jonathan die Frage nach einem neuen Ball in die Diskussion ein.
„Ähm also, ich will jetzt mal was gegen die Lehrer sagen“. Er schaut dabei zu mir, ich reagiere auf seinen Blick und lächele verlegen und schaue schnell zurück in mein Heft. Es ist Stille, nur einige Jungen kichern. Andreas sagt etwas, was ich nicht verstehe, zwei Jungen reagieren darauf und rufen: „Genau, mach das!“ Jonathan setzt fort: „Nein, also, wir ha wir haben ja wir haben Bälle, das haben wir festgestellt wir haben Fair Play-Ball, wir haben ´n WM-Ball von 2006“. Jonas bestätigt seine Aussage mit „Ja!“ und Jonathan setzt fort: „Wir haben WM-Ball von 2010.“ und stockt kurz. Andreas fragt dazwischen: „Ham wir?“ Jonathan erklärt ihm: „Ja und wir haben Ballpumpen und das stellen uns die Lehrer nicht zur Verfügung!“ Wieder setzt Jonas an: „Das …“ und wird unterbrochen von Kevin, der bestätigend ruft „Das stimmt!“
Zuerst wird die anwesende Erwachsene einem Test unterzogen, wie sie reagiert. Anscheinend ist es für die Jungen von Bedeutung, dass keine Lehrerinnen anwesend sind. Da sie jedoch nicht auf seine Ansprache eingeht, fährt Jonathan fort und jetzt könnte man eigentlich eine „Lehrerschelte“ erwarten. Eine solche kommt jedoch nicht, sondern eine sachliche Aufzählung: Jonathan weist darauf hin, dass verschiedene Bälle und auch Ballpumpen an der Schule vorhanden sind und diese Aufzählung wird abgeschlossen mit der Nennung des grundlegenden Problems, dass die Jungen beschäftigt: „… das stellen uns die Lehrer nicht zur Verfügung“.
Bis zum Ende der ersten Fußballkonferenz diskutieren die Jungen über zwei Themen: das Vorhandensein von Spielzeugen, insbesondere Fußbällen, an ihrer Schule und der Frage, warum sie diese nicht benutzen dürfen. Sie folgen dabei den Anweisungen der Redeleitung, die ohne vorherigen Aushandlungsprozess anfangs von Jonathan übernommen wurde und im Verlauf der Diskussion von Jonas fortgeführt wird. Die Jungen melden sich per Handzeichen und werden in der Regel von der Redeleitung aufgerufen. Oft rufen sie jedoch einfach dazwischen, woran keiner sich stört und wenn doch, erklärt derjenige „Leise!“ oder „Warte, ich bin dran!“. Die Jungen nehmen auf die Beiträge ihrer Vorredner Bezug und knüpfen regelmäßig an deren Aussagen an. Nahezu alle Redebeiträge werden sehr laut vorgetragen.
Nachdem die Jungen 20 Minuten diskutiert haben, gibt es die erste Unterbrechung, die nicht auf die eben dargestellte Weise geregelt wird. Nach einem Spaß von Kevin mit der Glocke der Klassenlehrerin des Raumes, indem sie ihre Konferenz abhalten, reden die Jungen so laut durcheinander, dass ihre Aussagen unverständlich sind. Dieses Stimmengewirr wird von Andreas mit „Jetzt seid doch mal leise!“ und „Fresse!“ lautstark überbrüllt. Daraufhin entsteht eine kurze Pause, in der Jonas als Redeleiter das Wort ergreift.
Jonas sagt laut und bestimmt: „Hiermit schließe ich die Fußballkonferenz!“ Sofort rufen von mehreren Seiten Jungen „Nein!“ Jonas wehrt ab: „Doch, es ist echt so ich …“ und wird dabei von Justus unterbrochen „Nur noch eine wichtige Sache!“. Andreas schlägt vor „Dann lasst uns Kevin …“, wird unterbrochen von Kevin mit „Oh nein!“ und setzt fort „und die, die stören, rausschicken“. Mehrere Jungen kommentierten dies mit Zwischenrufen: „Genau!“ „Raus!“ „5 Minuten!“ „Nein!“ „Nein!“ Jonas entgegnet: „Ich schließe jetzt diese Sitzung!“
Jonas nutzt hier seine Position als Redeleiter und schließt mit einem formelhaften Satz die Konferenz. Dieser einseitige Beschluss ist nicht typisch für die Handlungspraxis der Konferenzen, sondern ist als Aufbau einer Drohkulisse einzuordnen, die allen Anwesenden verdeutlicht, für einen geordneten Ablauf der Konferenz zu sorgen. Andere Jungen widersprechen und erkennen damit gleichzeitig die Leitung der Konferenz durch Jonas an. Jonas hält an seiner Drohung („Doch, es ist echt so …“) zwar fest und erreicht damit eine gewisse Ruhe in der Gruppe, jedoch eröffnet er wieder den Verhandlungsspielraum über den Fortgang der Konferenz. Den nutzt Justus, indem er noch eine „wichtige Sache“ loswerden möchte und Andreas schlägt eine neue Strategie vor: Störer schicken wir raus. Mit diesem Vorschlag greift Andreas auf die Strategie seiner Klassenlehrerin zurück: Können Kinder den Gesprächen im Morgenkreis oder Klassenrat nicht mehr aufmerksam folgen oder stören sie andere Kinder, werden diese von der Lehrerin mit dem freundlichen Hinweis hinausgeschickt, für fünf Minuten sich draußen auf dem Flur wieder zu sammeln oder einfach dort zu warten. Der Vorschlag wird wieder kommentiert mit Zwischenrufen und lässt Jonas seine Drohung wiederholen „Ich schließe jetzt diese Sitzung.“ Die Verhandlung zwischen Drohung, Zwischenrufen und Lösungsvorschlägen endet damit, dass Kevin ohne weitere Aufforderung den Raum verlässt.
Er schaut auf seine Uhr und erklärt lachend „O.K., warte, ab 25.“ (gemeint ist ab Minute 25) und erklärt auf dem Weg zur Tür „Ich stoppe.“ (gemeint ist die Länge seiner Auszeit von fünf Minuten). Andere Jungen lachen darüber, Jonas droht noch einmal und kurz nach Kevins „Abgang“ macht die Jungengruppe wie bisher mit der Diskussion weiter.
Beide Szenen zeigen die Bedeutsamkeit der Entscheidung der Jungen, sich ohne Lehrerinnen zu versammeln. Sie finden eine Gesprächsform, bei der sie ihre Redebeiträge einbringen und ihre Positionen behaupten können. Die Lautstärke ihrer Redebeiträge wird nicht ermahnt oder korrigiert. Wie schwierig diese Form der Verständigung sein kann, erfahren sie in dem Moment, in dem sie sich akustisch nicht mehr verstehen. Sie haben ein grundlegendes Verständnis von der Wichtigkeit von verschiedenen Rollen bei der Konferenz und organisieren eigenständig die Rollenübernahme innerhalb ihrer Gruppe. In der Ausübung der Rollen müssen sie sich damit auseinandersetzen, was passiert, wenn die Redeleitung machtvoll auftritt und droht, die Konferenz zu beenden. Einige Jungen wehren sich dagegen, indem sie gemeinsam als „Nein!“-Fraktion einen Gegenpol aufbauen, der Jonas mit seiner Drohung zum Einlenken zwingt. Die Unterbrechungsstrategie einer Lehrerin wird zum Vorbild genommen und diese führt Kevin ohne Aufforderung aus. Dabei entgeht er einer Beschämung als „Störenfried“, in dem er sich als penibler Zeitmesser inszeniert und andere Jungen zum Lachen bringt.
Konstitutiv für die Auseinandersetzung in der Gruppe ist auch das Thema der Konferenz: Fußball. Ein Problem bzw. eine problematische Situation, an dessen Lösung und Klärung alle Jungen gleichermaßen interessiert sind, trägt dazu bei, dass die Jungen sich auf inhaltliche Ebene damit auseinandersetzen und diesem Anliegen andere Bedürfnisse unterordnen (z.B. „Quatsch zu machen“ und damit andere Jungen von der Versammlung abzulenken). Das Interesse der Jungen wird dabei von den Lehrerinnen nicht als Pausenproblem zu einem Nebenthema abgewertet, sondern als wichtiges Bedürfnis wahrgenommen, akzeptiert und mit der zeitlichen Organisation der Konferenz parallel zum Unterricht unterstützt. Damit wird das Pausenthema einer Jungengruppe als schulische Angelegenheit anerkannt und kann als solches im Aushandlungsprozess von den Jungen wahrgenommen werden. Die hohe Kompetenz der Jungen, Versammlungsprozesse selbst zu organisieren, ist zudem das Ergebnis der Teilnahme an unzähligen Aushandlungs- (und im speziellen) Versammlungsprozessen seit Beginn ihrer Grundschulzeit.
Die Jungen kamen zum Abschluss der Fußballkonferenz zu dem Ergebnis, dass sie schon mehrfach ihre Forderung nach einem neuen Ball den Lehrerinnen gegenüber erklärt hatten und deshalb etwas neues Probieren wollten. Sie einigten sich darauf, vor dem Klassenzimmer der Schulleiterin zu protestieren und von ihr einen neuen Ball zu fordern. Diesen Protest führten sie durch und im Anschluss daran setzten sie sich zur Verhandlung mit der Schulleiterin zusammen. Nach einem Verhandlungsprozess über längere Zeit hinweg erhielten sie einen der in der Schule vorhandenen Bälle zum Spielen.
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