Autor/in:
Schulform:
Schlagworte:

Falldarstellung

Ohne zu klopfen betritt ein Schüler eine andere Klasse.

S: Darf ich mir ein Stück Kreide ausleihen?

L: Wieso ausleihen? Bringen Sie sie wieder zurück?

S: Ja

L: Aber das geht ja nicht; Sie wollen doch damit schreiben, dann wird sie doch kleiner.

S (nimmt die Kreide): Na gut, dann leih ich mir eben einen Teil und den anderen stehle ich.

L: Warum nicht gleich so.

Interpretation

I.

Ohne zu klopfen betritt ein Schüler eine andere Klasse.

(1) Ein Schüler betritt eine andere Klasse. Ich gehe davon aus, dass dies während des Unterrichts geschieht. Denn außerhalb des Unterrichts ist es unwahrscheinlich, dass die Klasse eine konkrete Handlungseinheit bildet. Dann hätte das Protokoll sehr wahrscheinlich verzeichnet: betritt ein Schüler einen anderen Klassenraum.

Setzten wir also voraus, dass gerade Unterricht ist, dann können wir den beschriebenen Handlungsablauf als Unterrichtsstörung bezeichnen. Denn das Betreten einer anderen Klasse deutet darauf hin, dass der eingetretene Schüler nicht am Unterricht teilnehmen will. Dass sich die Person also im Folgenden einen Platz sucht, um nun verspätet mitzumachen, ist ausgeschlossen. Eine solche Situation würden wir demgemäß auch nicht notwendig als Störung bezeichnen.

Betritt die Person das Klassenzimmer, ohne am Unterricht teilnehmen zu wollen, so liegt eine Störung deshalb vor, weil eine Fraglichkeit (im wahrsten Sinne des Wortes) im Raum steht. Es muss nun das Anliegen des eingetretenen Schülers geklärt werden.

(2) Das Protokoll teilt uns mit, dass der Schüler nicht anklopft. Dieser Sachverhalt scheint dem Protokollanten erwähnenswert und das heißt, er geht davon aus, dass das Anklopfen, wenn nicht eine Obligation, so doch eine zu erwartende Handlung gewesen wäre.

An dieser Stelle wäre es hilfreich, die Regeln, Normen und Konventionen des Anklopfens zu klären. Statt uns dieses ausgesprochen anspruchvollen und langwierigen Verfahrens zu bedienen, wählen wir eine Abkürzungsstrategie: Setzten wir einmal voraus, dass das Anklopfen im schulunterrichtlichen Kontext eine adäquate Handlung darstellt; worin bestünde ihr Sinn? Unsere These ist, dass das Anklopfen wesentlich eine Entschuldigung für die Unterrichtsstörung darstellt. Für diese Sichtweise spricht, dass eine eigentliche Bitte um Einlass hier nicht vorliegt. Derjenige der Eintreten will, muss von vornherein die Legitimität seines Anliegens in Anspruch nehmen: die Störung muss flüchtig sein und darf keinen Aufschub dulden. Bei dem Anklopfen handelt es sich also um einen indirekten Sprechakt, vergleichbar der Frage: „Darf ich stören?“. Auch diese Verbalform stellt sprechaktlogisch keine Frage dar, sondern eine Entschuldigung für die gerade mit der Frage vorgenommene Störung. Das Fehlen des Klopfens kommt also dem Fehlen einer Entschuldigung gleich.

So eingetreten, fragt der Schüler: darf ich mir ein Stück Kreide ausleihen?

Der äußere Geschehensablauf ist also klar: er möchte Kreide haben. Wir müssen unterstellen, dass er die Kreide sofort benötigt und für den Fall eines solchen akuten Mangels keine andere Beschaffungsroutine existiert. Zusammen mit der Tatsache, dass die Aushändigung und das Verlassen des Unterrichtsraumes eine Angelegenheit von Sekunden ist, können wir eine völlig unproblematische Situation unterstellen.

An der Art und Weise, wie der Schüler das Anliegen formuliert, sind allerdings 2 Aspekte auffällig:

(1) Umso mehr, als der Schüler nicht angeklopft hat, hätten wir nun eine Entschuldigung erwarten müssen. Eine verbale Entschuldigungsgeste hätte das vorangegangene Versäumnis sogar geheilt. Denn wenn er nun sagt: „Entschuldigen Sie, darf ich mir ein Stück Kreide ausleihen“, hat er den Maximen der Höflichkeit genüge getan. Stattdessen wird der Schüler zum „Wiederholungstäter“. Mit nun schon auffallender Hartnäckigkeit unterschlägt er die Verbindlichkeitsgeste.

(2) Der Schüler möchte Kreide und spricht davon, diese auszuleihen. Sachlich ist dagegen nichts einzuwenden: Die Frage setzt voraus, dass der Adressat die Hoheitsrechte über den Gegenstand ausübt und dass der Gegenstand ohne allzu große Gebrauchsverluste zurückgegeben wird. Beides ist mit dem vorliegenden Fall kompatibel. Niemand wird dem Lehrer widersprechen, wenn er die Kreide aushändigt (die Klasse wird sich dem Lehrer gegenüber nicht empören: wie kommen Sie dazu, unsere Kreide zu verleihen?). Und wenn die Kreide nicht allzu sehr abgenutzt wird, kann sie auch im Sinne einer Gebrauchswertorientierung zurückgegeben werden. Bei starker Abnutzung müsste ein neues Stück zurückgegeben werden.

Allerdings ergibt sich deutliche Dissonanz bezüglich der Trivialität des Gegenstandes. Bei Kreide handelt es sich um ein Pfennigprodukt, dessen grundsätzliche Beschaffung grundsätzlich problemlos und kostengünstig ist. Zur knappen Ressource wird Kreide nur okkasionell. Es gibt also keinen Grund, Kreide zurückzugeben.

Insofern erinnert die Schülerfrage an Alltagssituationen. Im Seminar könnte ein Kommilitone den Nachbarn fragen: könntest Du mir ein Blatt Papier ausleihen? Auch hier wird man das gelegentliche Zurückgeben insofern als inadäquat unterstellen, als das einzelne Blatt Papier ein geradezu wertloses Produkt darstellt; ein Produkt ohne Tauschwert, dem aber in der konkreten Situation ein hoher Gebrauchswert zukommt.

Aber was ist dann der Sinn der Unterstellung des Zurückgebens? Wir können vermuten, dass hier allgemein eine Schwierigkeit der Austauschbeziehung vorliegt. Offensichtlich vermeidet der Sprecher die Annahme eines Geschenks. Er will nicht in Dankesschuld geraten. An die Stelle der Dankesschuld tritt die Bringschuld: Lieber in (unsinniger) Bringschuld, als in Dankesschuld, könnte man die Logik dieses Ausleihens umschreiben.

Damit hat sich eine spezifische Disposition des Schülers nachhaltig Ausdruck verschafft. In der Entschuldigung wäre nämlich eine Anerkennung seines Anliegens als Unterrichtsstörung erfolgt. Dies vermeidet er ebenso, wie den Dank, den er schuldig gewesen wäre, hätte er nicht die Form des Leihakts gewählt. „Ich störe nicht“ und „ich nehme nichts weg“ sind die zwei Botschaften, mit denen er das äußere Ereignis kleiner redet, als es ohnehin ist.

II.

Die Schülerfrage als Ausgangspunkt einer professionalisierten pädagogischen Intervention?

Angesichts dieser Interpretation können wir uns nun die Frage stellen, welche Reaktionen auf die Schülerfrage denkbar sind und welchem Modell pädagogischen Handelns diese möglichen Varianten folgen:

1. Pädagogisches Handeln als Alltagshandeln:

Die naheliegendste und wahrscheinlichste Reaktion auf die Schülerfrage scheint uns Folgende zu sein: Bedienen Sie sich, Bitte sehr (gibt dem Schüler die Kreide), vielleicht auch nur ein Kopfnicken, während er mit dem Unterricht fortfährt.

Naheliegend erscheint diese Form der Reaktion deshalb, weil sie in alltäglichen Interaktionssituationen die Normalform darstellt. Erinnern wir uns an das obige Beispiel, nämlich die Frage nach einem Blatt Papier. Auch hier würden wir erwarten, dass das erbetene Papier einfach mit einem kurzen Kommentar (bitte sehr, hier) übergeben wird.

Was kommt in einer solchen Reaktionsweise zum Ausdruck? Zunächst und trivialerweise die Bereitschaft, das Papier oder die Kreide zu geben. Diese Bereitschaft müssen wir als Bereitschaft sozialen Austauschs voraussetzen. In vergleichbaren Situationen die Gabe zu verweigern, stellt eine deutliche und scharfe Missachtung dar.

Darüber hinaus aber bedeutet diese Reaktion, die latenten Implikationen der Frage zu überhören. Die hier vorgeschlagene Antwort des Lehrers bezieht sich ausschließlich auf Sprechakt des Schülers im Sinne seiner manifesten Bedeutung und zeigt sich enthaltsam hinsichtlich eines thematisierenden Zugriffs auf subjektive Motive, Dispositionen und Befindlichkeiten des Schülers. Sie folgt den Maximen einer höflichen, distanzierten und unpersönlichen sozialen Kooperation entsprechend des oben skizzierten Modells eines institutionalisierten Individualismus. Wir hätten hier nichts anderes vor uns als die Begegnung in der wechselseitigen und distanzierten Verbindlichkeit bürgerlicher Autonomie.

Professionalisierungstheoretisch ist diese Möglichkeit deshalb interessant, weil sich unwillkürlich und spontan die Frage stellt: Was soll daran (spezifisch) pädagogisch sein? Eine „pädagogische Einwirkung“ liegt ja nicht vor. Von einer „verhütenden, unterstützenden oder gegenwirkenden Tätigkeit“ (Schleiermacher) kann hier schwerlich gesprochen werden. In professionalisierungstheoretischen Kategorien ausgedrückt: hier ist kein spezifischer Professionshabitus feststellbar, keine professionelle Kunstlehre angebbar, von Expertenwissen zu sprechen wäre geradezu absurd und wo sollte wohl der Klient der professionell-pädagogischen Intervention ausfindig gemacht werden?

Diese Variante des Lehrerhandelns folgte einfach den Maximen und Interaktionsregeln der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Sie darf als gelungenes Beispiel der berühmten „kontrafaktischen Autonomieunterstellung“ sozialisatorischer Interaktion gelten. Sie hält nämlich die Logik symmetrischer Reziprozität aufrecht, auch wenn das Gegenüber diese Regeln verletzt hat.

2. Pädagogisches Handeln als konventionalistische Belehrung

Ausgehend davon, dass das Fehlen einer Entschuldigung (z.B. durch anklopfen) als Verletzung einer Höflichkeitskonvention gedeutet werden kann, könnte ein Lehrer das Gebot der Einhaltung der Konvention explizit zum Ausdruck bringen: etwa folgendermaßen: Klopfen Sie beim nächsten Mal bitte an o.ä. Wir wissen, dass solche Belehrungen zum Standardrepertoir erzieherischer Interaktion gehören. Sie bringen die sozialisatorische Asymmetrie unmittelbar zum Ausdruck: „Ich wünsche, dass Du Dein Handeln an geltenden Konventionen orientierst“. Diese Form der Lehrerreaktion findet sich in Übereinstimmung zur schulisch institutionalisierten Heteronomie. Im Unterschied zur ersten Variante wird hier inhaltlich die Einhaltung einer Reziprozitätsregel gefordert, wobei die Forderung selbst aber heteronomen Charakters ist. Ein performativer Widerspruch also, der typisch zu sein scheint für sozialisatorische Interaktion.

III.

Tatsächlich wählt der Lehrer keine der beiden genannten Varianten:

L: Wieso ausleihen? Bringen Sie sie wieder zurück?

Er macht den Gebrauch des Verbs ausleihen zum Thema (wieso ausleihen?) und zwar hinsichtlich der Implikation des Zurückgebens. Diese Dimension war ja auch für unsere Interpretation wichtig. Allerdings schlägt die Rückfrage des Lehrers eine eigentümliche, mit unserer bisherigen Interpretation nicht vereinbare Richtung ein. Würde sich der Lehrer an den Ergebnissen unserer Interpretation orientieren, müsste er folgendermaßen intervenieren: Sie brauchen die Kreide nicht zurückzubringen. Damit hätte er die entscheidende Inadäquanz des Verbs ausleihen deutlich gemacht. Stattdessen übergeht der Lehrer diesen Sachverhalt, indem er die Rückgabe geradezu reklamiert. Nicht der Unsinn, Kreide zurückzugeben sondern die Rückgabeabsicht des Schülers steht nun auf dem Prüfstand der Kritik. Dieser Bedeutungsstruktur können wir uns schnell vergewissern, wenn wir unser Blatt-Papier-Beispiel befragen: Darf ich mir ein Blatt Papier ausleihen? Antwort: Wieso ausleihen? Geben Sie mir eines zurück?

Wenn wir also in Rechnung stellen, dass es dem Lehrer nicht wirklich um die Rückgabe gehen kann, worin besteht dann sein Motiv der Kritik. Naheliegend ist anzunehmen, dass der Lehrer davon ausgeht, dass der Schüler tatsächlich nicht die Absicht hat, die Kreide zurückzubringen. Dann würde die Frage des Lehrers zum Ausdruck bringen: Wieso sagen Sie ausleihen? Sie bringen Sie doch sowieso nicht zurück. Damit aber hat er den Finger in die Wunde der Schülerdisposition gelegt. Das Motiv der Dankesverweigerung wird nämlich aufgegriffen und implizit zum Thema gemacht.

Nun kann der Schüler nicht anders, als die unsinnige Rückgabe zu bestätigen: ja (ich bringe die Kreide zurück). Er bestätigt damit explizit die schon im Verb ausleihen enthaltene Bringschuld.

Eigentlich könnte die Interaktion damit beendet sein. Man ist geneigt zu sagen: Es geht nun schon viel zu lange um nichts.

L: Aber das geht ja nicht; Sie wollen doch damit schreiben, dann wird sie doch kleiner.

Der Lehrer hat ein weiters Bedenken. Ist nun geklärt, dass die Kreide zurückgebracht wird, so fällt ihm nun ein, dass die Schreibabnutzung eine solche Rückgabe zur Farce werden lässt. Der Thematisierungsfokus wechselt von der Rückgabebereitschaft zur Rückgabemöglichkeit. Wie oben bereits angedeutet, unterliegt der Lehrer bei dieser Unterstellung einem Irrtum. Denn einerseits ist ein Abnutzungsgrad vorstellbar, der durchaus eine Rückgabe als sinnvoll erscheinen lässt, und andererseits kann der Schüler ein neues Stück zurückgeben.

Äußerlich scheint der Einwand des Lehrers Zeugnis eines logisch-präzisen Geistes zu geben. Aber die akribische Beobachtung der Kreideabnutzung wird falsch auf eine Kritik der Leihhandlung übertragen. Insofern erinnert diese Äußerung an das lehrernotorische, gespielte Missverstehen indirekter Sprechakte („kann ich das Fenster aufmachen“ – „ich weiß nicht, ob Du kannst“) und legitimiert sich als „Spracherziehung“. Tatsächlich aber handelt es sich um Sprachentstellung.

Der Fehler der Lehreräußerung ist aber hinsichtlich der Dispositionen des Schülers von großer Bedeutung. Denn er gibt dem Schüler zu verstehen: Sie können sich Ihrer Dankesschuld nicht entledigen. Selbst wenn Sie die Kreide zurückbringen, habe ich Ihnen einen Teil geschenkt (nämlich den abgenutzten), für den Sie sich bedanken müssen.

Der Lehrer hat also den Schüler sehr gut verstanden. Ausgesprochen hellhörig hat er die Implikationen der Schülerfrage erfasst. Statt aber die so diagnostizierte subjektive Problematik des Schülers unangetastet zu lassen, bringt er sie thematisch ans Licht.

IV.

Der Schüler befindet sich nun in einiger Not. Die einfachste Antwort wäre: Ich bringe Ihnen ein neues Stück Kreide zurück.

S: (nimmt die Kreide) Na gut, dann leih ich mir eben einen Teil und den anderen stehle ich.

Er akzeptiert die Prämissen des Lehrers. D.h. er besteht nicht auf der Wohlgeformtheit des ursprünglich geäußerten Leihbegehrens. Ausleihen will er sich nun nur denjenigen Teil, den er nach Benutzung der Kreide wieder zurückgeben kann. Den anderen Teil gibt er vor, zu stehlen. Und ganz entsprechend der verdinglichten Prinzipiengeleitetheit des Lehrers rückt er den Abnutzungsverlust der Kreide in die Dimension des strafrechtsrelevanten Eigentumsschutzes. Damit übernimmt er nicht nur die Sichtweise des Lehrers; er steigert sie zur Groteske. Die Selbstbezichtigung legt die material inadäquaten Implikationen der Lehreräußerung offen. Nun wird wohl der Schüler die Lacher auf seiner Seite haben.

Entscheidend aber ist, dass er mit seiner Äußerung sich abermals weigert, seine Dankesschuld anzuerkennen. Ein Teil der Kreide kann zurückgegeben werden. Für diesen Teil muss er sich nicht bedanken. Den verbrauchten Teil aber, für den er sich also bedanken müsste, zahlt er lieber mit Strafe, als mit Dank. „Lieber gehe ich ins Gefängnis, als dass ich von Ihnen ein Geschenk annehme.“

Dass wir es mit einem symbolischen Gefecht zu tun haben, das sich völlig von der materiellen Seite des Schüleranliegens gelöst hat, zeigt der Umstand, dass der Schüler sich die Kreide selbst nimmt und diese Handlung vom Lehrer nicht weiter kommentiert wird.

L: Warum nicht gleich so.

Der Lehrer erklärt sich nun mit dem Geschehensverlauf nicht nur einverstanden, sondern erhebt ihn explizit zum Ziel seiner Bemühungen. Dabei ist nicht so recht entscheidbar, ob das Lob sich auf das Kreidenehmen, oder auf die Antwort des Schülers bezieht. In beiden Dimensionen ist der Lehrerkommentar aber nicht glaubwürdig. Denn weder das Eintreten des Schülers mit der Frage, ob er sich ein Stück Kreide ausleihen und einen Teil davon stehlen könne, noch das kommentarlose Nehmen der Kreide werden aus Lehrersicht adäquate Handlungen gewesen sein. Allenfalls könnte dahinter die Botschaft stehen: Siehst Du: wer nicht Danke sagen will, muss ins Gefängnis.

Der Lehrer vollzieht damit eine Schließung der Interaktion, die den Schüler nun in Ruhe lässt und den Lehrer selbst das Gesicht wahren lässt. In gewisser Weise unterläuft er den Punktsieg des Schülers indem er ihn als lehrergewollt erscheinen lässt. Dort wo der Schüler sich autonom gezeigt hat im Sinne einer erfolgreichen Durchsetzungsstrategie unter dem Handikap einer ungünstigen, weil asymmetrischen Ausgangssituation, definiert der Lehrer diese Autonomie um als Ergebnis einer von ihm gelenkten Interaktion, einer, wenn wir so wollen, erfolgreichen pädagogischen Intervention.

Der symbolische Sieg wird allerdings erkauft mit dem Vokabular einer „schwarzen Pädagogik“.

V. Pädagogisches Handeln als Distanzlosigkeit

Das zentrale Bedeutungselement, das uns die vorliegende Interaktion als inadäquat erscheinen lässt, besteht in der Distanzlosigkeit des Lehrers. Diese Distanzlosigkeit vollzieht sich unter dem Schutz der schulischen Heteronomie. Die asymmetrische Institutionalisierung der Lehrer-Schüler-Interaktion – Lehrer- und Schülerrolle folgen nicht dem Modell des „herrschaftsfreien Diskurses“ – wird dazu missbraucht, dem Schüler nahezutreten. Wir haben gesehen, dass diesem Fall von Distanzlosigkeit die Fähigkeit zur „stellvertretenden Deutung“ nur in zynischem Sinne zugesprochen werden kann. Denn einerseits knüpfen die Lehrerbeiträge durchaus an die subjektive Befindlichkeit des Schülers an. Sie können gelesen werden als beharrliches Pochen auf Dankesschuld. Insofern ist dem Lehrer das Problem des Schülers nicht entgangen. Diese „Deutungskompetenz“ des Lehrers verschafft dem Schüler aber keine Problementlastung, sondern eine Problemverschärfung. Das Bild des Fingers, der in die Wunde gelegt wird, sollte dies zum Ausdruck bringen. Darin besteht die spezifische Form der Distanzlosigkeit, die wir hier beobachtet haben.

Mit dem Hinweis auf die Heteronomie von Schule ist dieser Befund nicht geklärt. Das analysierte Beispiel bleibt hinter den Möglichkeiten der Institution zurück. Dass das Gesetz die Schüler in die Institution zwingt und dass sie über die dortigen Obligationen und Verhaltenserwartungen nicht frei verfügen, kann nicht erklären – geschweige denn: legitimieren – dass der Lehrer nicht einfach die Kreide aushändigt. Die Interpretation hat gezeigt, wie mühelos die Logik der Kooperation autonomer Subjekte sich hätte vollziehen können. Hierbei ist professionalisierungstheoretisch bemerkenswert, dass sich das fallspezifische Gelingensmodell pädagogischen Handelns nicht auf eine professionalisierte Praxis zu stützen braucht. Von der Notwendigkeit der Bildung eines spezifischen Professionshabitus als Antwort auf eine berufliche Problemlösungssituation, oben haben wir Elemente der pädagogischen Situation beschrieben, kann angesichts unseres Interaktionsbeispiels nicht gesprochen werden. Von einer Professionalisierungsbedürftigkeit der pädagogischen Praxis (Oevermann) haben wir nichts gesehen.

Vielmehr können wir davon sprechen, dass der „Banalität des Gelingens“ ein Berufshabitus im Wege steht, der in der Logik der Distanzlosigkeit die Sphäre der Heteronomie über ihre institutionelle Charakteristik hinaus ausdehnt. Ohne Not, ohne dass die konkrete Interaktionssituation die spezifische Reaktion des Lehrers nahegelegt hätte, hat sich die Logik der missbräuchlichen Distanzlosigkeit Ausdruck verschafft.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.